KAPITEL SIEBEN

Die drei Laster hatten auf der linken Seite der Castle Hill angehalten, einer breiten Straße, die sich vom nebligen Fluss hinauf zu einem grob kreisförmigen Grashügel zog. Darauf standen die Überreste der einst imposanten mittelalterlichen Burg, die nun als Bezirksgefängnis zweckentfremdet worden waren. Die Laster waren hangaufwärts am Straßenrand abgestellt, als wollten sie die Stadt verlassen. Die Straße selbst mit ihren diversen Pubs, einer Brauerei und einer Sägemühle lag still im Mondschein. Eine rote Gaslaterne war an einer Kreuzung auf halbem Weg den Hang hinauf an einem Pfosten entzündet worden und überzog die Szenerie mit einer warmen Patina.

Als er auf dem Pflaster den Hügel ein Stück weit hinaufgestiegen war, fand Brooke den ersten Fahrer schlafend in seinem Laster vor. Er war nach vorn gesunken, und der Mondschein fing sich in falschen Zähnen, die ihm ein kleines Stück weit über die Lippen gerutscht waren. Fünfzig, fünfundfünfzig, schwerer Kopf, fleischiges Gesicht. Hautfalten fielen in die Form eines Doppelkinns, das auf seiner Brust lastete.

Das nächste Führerhaus war leer, die Beifahrertür weit offen. Eine Zigarette glomm in einem Aschenbecher gleich neben dem Schaltknüppel. Als er seinen Weg zum letzten Lastwagen fortsetzte, hörte er Stimmen. Als er schließlich auf einer Höhe mit dem Führerhaus war, sah er einen Police Constable vor dem Fahrzeug stehen, der sich Notizen machte und leise mit einem Mann in einem Arbeitsoverall sprach.

Der Constable salutierte. »PC Cable, Sir. Das ist Mister Turl, Vorarbeiter bei …« Er warf einen Blick auf seine Notizen. »Turl Haulage, York.«

»Was gibt es für ein Problem, Cable?«, fragte Brooke, trat zurück und bedachte Turl mit einem verhaltenen Lächeln.

Der Fahrer war um die eins fünfundsiebzig, sehr schlank, kleiner Kopf, schwarzes Haar mit spitzem Haaransatz, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt. Seine Mimik wirkte unverstellt, achtungsvoll, beinahe devot. Brooke fand, er war extrem jung für einen Vorarbeiter, aber in Anbetracht des Namens der Unternehmung war er ja vielleicht der Sohn des Eigentümers. Ein bauschiger Overall flatterte locker um seine Glieder, große Hände bearbeiteten einen Lumpen und vermittelten den Eindruck von unterdrückter Energie.

Er sollte Uniform tragen und in Frankreich sein, dachte Brooke, dann aber fiel ihm ein, dass die Fahrer im Straßentransport vom Wehrdienst freigestellt waren. Wenn die Kampfhandlungen aber erst einmal losgingen, würde diese Freistellung nicht länger gelten.

»Es geht eigentlich um die Papiere«, sagte Cable. »Die sind einfach ein bisschen durcheinander. Ich habe die Einzelheiten zum Hauptquartier durchgegeben, in der Hoffnung, dass die die grundlegenden Informationen überprüfen können.«

Mit einem Nicken deutete er auf die andere Straßenseite. Im Schatten eines Baumes stand dort eine Polizeizelle, ausgestattet mit einer direkten Leitung zum Revier, einem Erste-Hilfe-Koffer und einem Feuerlöscher. Im Borough machten Gerüchte die Runde, denen zufolge mehrere auch mit Paraffinkochern ausgerüstet waren, die es den Beamten ermöglichten, sich in kalten Nächten einen Tee zu brauen, und manchmal fand sich sogar eine Flasche Bier. Ein schwacher Lichtschein fiel aus der halb offenen Tür.

»Der Sergeant hat gesagt, er ruft in der Zelle an, wenn er irgendwas rausbekommt«, fügte Cable hinzu und reichte Brooke das Fahrtenbuch des Lasters. »Ausweis ist in Ordnung. Die beiden anderen habe ich noch nicht überprüft. Die Waren wurden in einem Depot in Nordlondon aufgeladen, medizinisches Bedarfsmaterial und Kleidung, bestimmt für einen Laden in Goole am Humber. Hunter’s Shipping, Ouse Wharf. Die genaue Adresse lautet South Riding.«

Cable blickte auf, scheinbar fassungslos wegen dieses Fehlers. »Es heißt West Riding. East wäre ein verständlicher Irrtum. Aber es gibt kein South Riding. Hat es nie gegeben.«

Turl schüttelte den Kopf. »Das war bestimmt Meg aus unserem Büro«, sagte er. »Das Mädel heiratet dieses Wochenende. Ist nicht so helle, müssen Sie wissen. Und das ist ihr großer Tag.« Er lächelte Brooke an, und in seinen Augen lag echte Wärme. »Ist schon ein ziemliches Prachtweib, unsere Meg.«

»Ein Yorkshire-Mädel?«, fragte Brooke.

»Geboren und aufgewachsen«, bestätigte Turl.

»Dann sollte man doch annehmen, sie wüsste so was«, bemerkte Brooke.

Turl lächelte immer noch.

Cable setzte seinen Bericht fort. »Zwei der Autonummern passen nicht zu denen auf dem Nummernschild – bei der einen ist eine Zahl falsch, drei statt fünf, bei der anderen steht GJ anstelle von SJ. Die Reisegenehmigungen sind in Ordnung, aber die Ausgabestempel sind verschmiert …«

Brooke hielt das Dokument, während Cable die Taschenlampe auf den kreisrunden blauen Stempel richtete, auf dem eine unleserliche Unterschrift prangte.

»Sonderbar, dass Sie bei Nacht fahren. Besonders in dieser Nacht«, konstatierte Brooke und studierte das fröhliche Gesicht des jungen Fahrers.

»Wir haben ja angehalten. Wollten bis zur Morgendämmerung ein bisschen ratzen. Dann geht es wieder los. Ihr Mann hier hat mich aus dem Tiefschlaf geholt. Wir sind bis acht Uhr nicht weiter als hierher gekommen, und mit abgedunkelten Scheinwerfern zu fahren ist heikel, besonders auf langer Strecke. Darum sind wir hiergeblieben, um ein Nickerchen zu machen.«

»Ihr Kollege aus dem nächsten Laster fehlt«, sagte Brooke.

Turl sah ihn ausdruckslos an. »Ginger? Schwache Blase, der Bursche. Der wird sich in irgendeine Gasse verkrochen haben. Der Ruf der Natur.« Er nickte, als wollte er seiner eigenen Erklärung zustimmen.

»Was halten Sie davon, Constable?«, fragte Brooke. »Von Gesetzes wegen sollten wir sie hier festhalten, bis wir alles überprüft haben. Aber wir können morgen auch York bitten, sich um den Papierkram zu kümmern. Ich bin sicher, das sind nur Flüchtigkeitsfehler. Sind Sie damit einverstanden, Mister Turl? Aber Sie müssten sich beim Revier melden und die Dokumente vorlegen.«

»Kein Problem, Inspector«, sagte Turl.

»Wir werfen nur noch einen kurzen Blick auf die Ladung«, fügte Brooke hinzu. »Fangen wir doch mit der schlafenden Schönheit am Fuß des Hügels an.«

Turl hatte angefangen zu schwitzen, stark genug, dass seine reine Haut glänzte, und seine Augen waren so geweitet, dass das Weiße regelrecht aufleuchtete. »Nev schläft gerade. Das war ein langer Tag. Na, dann viel Spaß beim Aufwecken.«

Später, als Brooke sich den Moment ins Gedächtnis rief, um Claire davon zu erzählen, wusste er nicht mehr so recht, was zuerst geschah: ob es das Aufleuchten der Lampe auf der Polizeizelle war oder das Klingeln des Telefons.

Doch was auch der Auslöser war, das Ergebnis folgte auf dem Fuße: Turl rannte davon. Die Bezeichnung Windhund wäre ihm nicht gerecht geworden.

PC Cable verfolgte ihn.

Brooke ging rasch den Hügel hinunter zu dem letzten der drei Lastwagen. Das Führerhaus war leer, der vormals schlafende Fahrer geflüchtet, und die Beifahrertür stand weit offen.

Drei Lastwagen, alle mit Vorhängeschlössern gesichert, alle drei Fahrer weg.