»Tadaa, willkommen in unserem Fünf-Sterne-Hotel!« Dominique drückt gegen die Haustür, die sich knarrend öffnet.
Wir starren in eine pechschwarze Diele. Muffig-dumpfe Luft schlägt uns entgegen, als stünden wir in der Tür zu einem Keller.
»Oha«, sagt Lizzy. »Das sieht wirklich ... supergemütlich aus.«
»Wartet mal, ich mache Licht«, murmelt Dominique. »Wo ist denn der Schalter? Ah, hier!«
Mit leisem Summen erwacht ein Kronleuchter an der Decke zum Leben. Im schwachen, gelblichen Licht taucht ein Monster im Flur auf, mit einem großen verformten Kopf und langen Tentakeln!
»Was ...«, stammele ich und weiche zurück. Aber dann wird das Licht heller, und der Kopf wird zu einem großen Hirschgeweih an der Wand.
Lizzy bricht fast zusammen vor Lachen. »Ich dachte, da steht wirklich einer. Und du auch, Melanie.«
»Äh, ja.« Ich fühle mich ertappt und muss auch lachen.
»Ihr habt doch wohl keine Angst vor Bambi?«, sagt Dominique mit einem halben Grinsen. Sie betritt die Diele und wirft ihren beigen Teddymantel über das Geweih. »Das ist unsere neue Garderobe, wirklich superpraktisch.«
Ein Stück Putz löst sich von der Wand, und der Hirsch verrutscht etwas.
»So geht er doch nur kaputt«, sage ich. »Häng deinen Mantel lieber an die Garderobe neben dem Eingang.«
Dominique ignoriert mich und geht zur nächstgelegenen Tür. »Was wird hier wohl sein? Ah, die ausgesprochen behagliche Bauernküche mit mittelalterlichen Akzenten.«
Lizzy und ich folgen ihr in die Küche. Mein Blick huscht durch den dämmrigen Raum. Blümchentapete, schmuddelig-weiße Schranktüren, ein Holztisch mit vier Stühlen. Über einem der Stühle hängt eine weiße Daunenjacke, als könnte jeden Moment jemand hereinkommen.
»Was für ein Gerümpel!« Lizzy schnuppert. »Das sieht ja aus wie im Museum. Und es riecht auch so.«
»Nur nicht meckern, Mädels, unser Aufenthalt ist immerhin gratis«, sagt Dominique und feixt. »Mein Vater meinte, das Haus hätte fünf Jahre zum Verkauf gestanden, bevor er es letzten Monat gekauft hat. Keiner wollte es haben.«
»Kann ich nachvollziehen«, sagt Lizzy und öffnet einen der Küchenschränke. »Igitt, hier liegt überall Mäusekot, das ist ja ekelhaft.«
»Wartet nur, bis meine Eltern die Bude aufgepeppt haben«, sagt Dominique. »Hier wird eine Kochinsel entstehen mit einem Küchentresen, einen Jacuzzi haben sie geplant und ein türkisches Dampfbad. Meine Eltern haben fast täglich einen Termin mit dem Bauunternehmer oder dem Innenarchitekten.« Gelangweilt zuckt sie mit den Schultern, als wäre das alles ein Klacks.
Ich beiße mir auf die Lippe. Ihr ist wohl nicht klar, wie besonders das ist. Meine Eltern streiten den ganzen Tag nur miteinander ...
»Wir machen es uns hier ein bisschen wohnlich.« Dominique zieht die karierten Vorhänge über der Anrichte zur Seite; graues Tageslicht fällt herein. Große Nadelbäume ragen hoch über das Haus bis in die dunklen Wolken. Die Bäume stehen so dicht, dass sie eine beklemmende Mauer um den Garten bilden, und dahinter sind weitere Bäume. Der Wind zerrt an den Zweigen und lässt irgendwo etwas klappern.
»Wirklich ganz schön gruselig, die Ardennen«, sagt Lizzy trocken. »Mach die Vorhänge wieder zu, Do.«
Dominique muss lachen. »Du müsstest mal deinen Blick sehen! Kommt, wir schauen uns weiter um.« Sie geht zur nächsten Tür. »Und das ist ... das Wohnzimmer!«
Wir folgen Dominique in ein dunkles Zimmer. Ringsum an den Wänden stehen leere Regale, die Bretter sind von einer dicken Staubschicht bedeckt. Mittig ist ein offener Kamin zu erkennen, und auf dem Boden liegt ein verblichener roter Teppich.
Das war bestimmt mal ein wunderschöner Raum, denke ich. Mit Menschen, die hier gelacht haben und nach einem langen Waldspaziergang in den Ledersesseln am Feuer gesessen haben. Es hat schon etwas Trauriges, hier jetzt all diese alten, verschlissenen Sachen zu betrachten.
»Wisst ihr, wem das Haus gehört hat?«, frage ich und drehe eine Runde durchs Zimmer. An den Wänden hängen sogar noch ein paar Bilder.
»Nö, mein Vater hat es über einen Makler gekauft«, sagt Dominique achselzuckend. »Aber der Einrichtung nach waren die Besitzer bestimmt uralt. Was für ein Krempel.«
»Iiih, da hängt ja schon wieder so ein totes Tier«, sagt Lizzy. Zitternd zeigt sie auf einen ausgestopften Wildschweinschädel über dem Kamin. »Die Bewohner waren jedenfalls ziemlich gruselig.«
Dominique grinst und stellt sich neben den Tierkopf. »Ich finde, er sieht super aus – und so männlich, mit seinen vielen Haaren und den Hauern.« Sie legt die Arme um den Wildschweinkopf. »Küss mich«, sagt sie schwärmerisch.
»Ganz reizend, Do«, sagt Lizzy und lacht. »Ich merke schon – höchste Zeit für ein Foto!« Sie zieht ihr Handy aus der Jackentasche. »Wir stellen uns alle neben dieses schmutzige Tier und ... shit«, sagt sie plötzlich, während sie auf ihr Display starrt.
»Was ist?«, fragt Dominique.
»Vincent hat schon wieder geschrieben.« Lizzy beißt sich auf die Lippe. »So allmählich finde ich das wirklich nicht mehr witzig.«
Lizzy hatte Vincent vor fünf Monaten auf der Geburtstagsparty eines Mädchens aus unserem Volleyballteam kennengelernt. Er fiel sofort auf mit seinen schwarzen Haaren, den knallblauen Augen und weil er so groß ist. Ich glaube, auf dem Fest hat sich jedes Mädchen mal nach ihm umgedreht. Aber Vincent hatte nur Augen für Lizzy. Noch an diesem Abend haben sie sich zum ersten Mal geküsst. Und ein paar Tage später waren sie zusammen. Lizzy war so verliebt.
Ich weiß nicht mehr genau, wann ihr die ersten Zweifel kamen. Vielleicht als Vincent anfing, Bemerkungen über ihre Kleidung zu machen. Oder als er wütend auf sie wurde, weil sie sich während der Prüfungswoche nicht treffen konnten. Aber ich glaube, so richtig erschrocken ist sie erst, als er sie bei einem Streit so brutal gegen die Schulter stieß, dass sie rücklings hinfiel. Sie hat all ihren Mut zusammennommen und Vincent letzte Woche gesagt, dass es aus ist. Offenbar konnte er das nicht wegstecken, denn seither stalkt er sie mit Nachrichten.
»Oh Mist, was schreibt er denn?«, frage ich.
Lizzy seufzt. »We belong together. Ich kann in vier Stunden bei dir sein, wenn ich jetzt ins Auto steige ...«
Stille breitet sich aus.
Dominiques Augen werden groß. »Du hast Vincent doch nicht etwa erzählt, dass wir in den Ardennen sind?!«, ruft sie. »Regel Nummer eins: Sag deinem Ex nie, wo du bist. Gleich steht dieser Schleimer noch hier auf der Matte!«
Lizzy beißt sich auf die Lippe und sieht uns verzweifelt an. »Sorry, aber er hat einfach keine Ruhe gegeben und mich ständig mit Fragen bombardiert, wo wir denn hinfahren. Ich ... ich dachte, es wäre nicht so schlimm.«
»Das bleibt zu hoffen.« Dominique nimmt Lizzy das Smartphone aus der Hand. Ihre Daumen fliegen nur so über das Display.
»Bitte Do, gib mir mein Handy wieder!«, drängt Lizzy.
»Warte einen Moment, ich schreibe nur eine Nachricht für dich«, murmelt sie. »Hört zu, das ist echt brillant. Sorry Vincent, aber du bist ein Arsch. Ich bin in einen anderen verliebt, und ich will dich nie mehr wiedersehen.«
Lizzy stöhnt. »Spinnst du, das verschicke ich wirklich nicht.«
»Huch, sorry, aber das habe ich gerade schon für dich erledigt.« Dominique lacht laut. »Und er hat es auch schon gelesen, wie man an den beiden blauen Häkchen sieht.«
»Do! Das ist wirklich nicht lustig!« Lizzy sieht aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen. »H-hat er schon was zurückgeschickt?«
»Nein, er ist offline gegangen.« Dominique legt Lizzy einen Arm um die Schultern. »Hoffentlich schickt er dir nie wieder was. Der Kerl hat echt ein dickes Brett vorm Kopf.«
Lizzy reibt sich über die Augen. »Und was, wenn er doch herkommt?«
»Wird er nicht«, sagt Dominique. Sie zwinkert Lizzy zu. »Er hasst dich jetzt. Schlag ihn dir einfach aus dem Kopf, Liz. Es ist vorbei.«
»Ich werd's versuchen«, murmelt sie.
Dominique zieht Lizzy noch etwas näher an sich. »Kurze Frage: Wird das heute noch was mit dem Foto?«
»Was? Oh, äh, ja.« Lizzy kichert. »Das hatte ich vollkommen vergessen.«
Sie stellt sich neben den ausgestopften Wildschweinkopf und streckt ihren Arm mit dem Handy aus.
»Melanie, kommst du auch?«, fragt sie, während sie sich die langen blonden Haare aus dem Gesicht streift.
Ich stelle mich neben Lizzy und schaue auf das Display. Lizzy und Dominique sind breit lachend im Bild. Dominique hat einen Arm um Lizzy und einen um das Wildschein gelegt. Lizzys Kopf lehnt an ihrer Schulter. Ich stehe höchstens ein paar Zentimeter von ihr entfernt, aber es sieht aus, als wäre ich über Photoshop ins Bild geraten. Als würde ich nicht ganz dazugehören.
Plötzlich finde ich es megaschade, dass Dominique dabei ist. Sie ist erst seit diesem Schuljahr in unserer Klasse, weil sie durch die Abschlussprüfung gerasselt ist. Sie hat von Tag eins an so getan, als würde sie zu uns gehören. Wollen Lizzy und ich nach der Schule zu Starbucks? Dominique geht mit. Haben Lizzy und ich uns verabredet, zusammen Hausaufgaben zu machen? Auf einmal ist Dominique auch da. Fahren Lizzy und ich in den Herbstferien ein paar Tage weg? Plötzlich hat Dominiques Vater ein Häuschen in den Ardennen gekauft, und wir müssen unbedingt dorthin.
Ich habe Lizzy schon ein paarmal gesagt, dass es mir nicht gefällt, wenn Dominique überall dabei ist, aber Lizzy sieht das Problem nicht. »Sie ist doch supernett«, sagt sie dann. »Mach's doch nicht so kompliziert, Mel.«
Lizzys Daumen drückt auf die große runde Taste.
Klick.
Auf dem Display sehe ich mich selbst mit einem merkwürdigen Blick in die Linse starren. Lizzy und Dominique lachen, als würden sie sich prächtig amüsieren. Das Foto hat etwas Unwirkliches. Etwas Unehrliches.
»Toll«, murmele ich.
Ich sehe, dass Lizzy blitzschnell ein paar Sätze tippt und das Foto dann in ihre Instagram-Story lädt:
Gurrls only weekend
Best time of my life
Love yaaa
@dominique_unicorntje @melaniex2408
»Love you, too«, sagt Dominique, und sie umarmt Lizzy noch einmal.
Ich stehe mit dem unangenehmen Gefühl daneben, dass ich genauso gut auch nicht hätte mitfahren können.
»Sollen wir vielleicht mal die Einkäufe aus dem Auto holen?«, frage ich sachlich. »Oder habt ihr andere Pläne?«