Kapitel 8

Es ist Viertel vor neun, und der Wind ist noch stärker geworden. Ich versuche, seinem Heulen nicht zu lauschen, es klingt, als könnte das Haus jeden Moment weggeblasen werden. Auf dem Tisch stehen die Reste der Pasta mit Pesto, die Dominique gekocht hat.

»Wer ist dran?«, fragt Lizzy.

»Ich!« Dominique schnappt sich die Würfel vom Tisch und wirft eine Zwei und eine Vier. Stirnrunzelnd betrachtet sie die Figuren auf dem Spielbrett.

Ich sehe schon, worauf das hinausläuft.

»Sorry, Mel«, sagt sie. Sie rückt sechs Schritte mit ihrer Spielfigur vor, bis sie über meiner schwebt. »Du bist raus. Wow, vielleicht gewinne ich sogar noch!«

Mit einem Seufzer stelle ich meine Figur wieder auf Los. Ich hasse Mensch-ärgere-dich-nicht. Dominique hat das Spiel im Wohnzimmerschrank gefunden.

»Du bist dran, Liz«, sagt Dominique. »Und keine Zehn werfen, bitte, denn da stehe ich.«

Lizzy zieht eine Augenbraue hoch. »Das werden wir noch sehen. »Eins, zwei ...«

Die Würfel kullern über den Tisch.

Jubelnd springt Lizzy auf. »Yes, zweimal eine Fünf, und raus bist du, Do!«

»Du spielst falsch!« Lachend wirft Dominique ein Sitzkissen auf Lizzy. »Ich will eine Revanche.«

»Oh nein. Du kannst einfach nicht ver...«

Lizzys Telefon piept neben ihr auf dem Tisch. Gedankenlos nimmt sie es in die Hand, und ich sehe, wie sich ihr Gesicht verfinstert.

»Eine Nachricht von Vincent«, sagt sie leise.

»Von Vincent?«, wiederholt Dominique. »Im Ernst? Was schreibt er?«

«,Das wird dir noch leidtun.'« Lizzys Stimme klingt schwer und matt, als sie den Text vorliest. »Das ist alles, mehr hat er nicht geschickt.« Sie sinkt in ihrem Stuhl zurück. »Ich nehme an, er ist sehr wütend.«

»Lieber Himmel«, sagt Dominique. »Der Typ gibt echt nicht auf. Kapiert er denn nicht, dass es aus ist?«

Lizzy zuckt mit den Schultern und reibt mit einer Hand über ihre Augen.

Plötzlich sieht sie aus wie höchstens zwölf. Wie die Lizzy von früher. Ich möchte aufstehen und zu ihr gehen, ihre Hand nehmen und sagen, dass alles wieder gut wird.

Aber da legt Dominique schon einen Arm um Lizzys Schultern und zieht sie eng an sich. »Keine Sorge, Liz«, sagt sie. »Ignorier ihn einfach. Es ist nicht deine Schuld, dass er so ein Vollidiot ist.«

Lizzy starrt sie dankbar an.

Ich sehe noch ein paar Sekunden zu, wie sie da gemeinsam sitzen und stehe dann auf.

»Sorry, ich muss mal zur Toilette«, sage ich.

Lizzy murmelt was von »Okay«, Dominique hebt nicht mal den Kopf.

Hölzern gehe ich zur Tür und in den dämmrig beleuchteten Flur. Ich balle meine Hände fest zusammen, bis meine Finger anfangen zu kribbeln. Das Gefühl, Lizzy zu vermissen, ist so groß. Auf einmal hätte ich größte Lust, ihr etwas anzutun.

Mit Tränen in den Augen öffne ich die Tür zum WC und drücke auf den Lichtschalter. Die Deckenlampe flackert und springt dann an. Es ist gerade mal neun Uhr, aber draußen ist es schon stockdunkel.

Ich lasse die Tür einen Spalt offen und setze mich auf die Klobrille. Meine Ohren nehmen jedes Geräusch wahr. Irgendwo im Flur knarzt etwas, über mir höre ich eine Art dumpfes Ticken, als würde dort jemand herumgehen. Dieses Haus macht mich noch wahnsinnig. Schnell ziehe ich meine Hose hoch und schlüpfe in den Flur zurück.

Ich renne fast zum Wohnzimmer und reiße die Tür auf.

Dominique zuckt von Lizzy weg, als würde ich sie bei irgendwas ertappen. Sie schauen beide zu mir hinüber.

»Du bist schnell zurück«, sagt Dominique. »Wir waren noch kurz ... beschäftigt.«

Lizzy versucht, ein Lachen zu unterdrücken. »Ja, mit etwas sehr Witzigem.«

Innerhalb dieser wenigen Minuten hat sie Vincent offenbar vollkommen vergessen. Und mich auch ...

»Nächstes Mal bleibe ich länger«, sage ich steif und gehe mit pochenden Schläfen zum Tisch.

Sie antworten nichts und lächeln irgendwie an mir vorbei. Die Stille fühlt sich eng und beklemmend an, wie in einem zu vollen Aufzug, in dem jeder schweigend vor sich hinstarrt.

»Sollen wir noch eine Partie Mensch-ärgere-dich-nicht spielen?«, fragt Dominique dann.

Lizzy schüttelt den Kopf. »Nein, ich würde lieber etwas anderes machen. Ich habe ein Quiz von zu Hause mitgebracht, 30 Seconds, da lacht man sich kaputt.«

»Prima«, brummt Dominique.

Lizzy schiebt ihren Stuhl zurück. »Okay, dann hole ich es oben aus meiner Tasche.« Sie verschwindet im Flur. Quietschend fällt die Tür hinter ihr zu.

Dominique und ich sitzen uns ein paar Augenblicke schweigend gegenüber. Ich schaue in den Lichtschein der Lampe, der über den Tisch fällt und uns in zwei lange Schatten verwandelt. Plötzlich will ich so unglaublich gern, dass etwas Schlimmes passiert, zum Beispiel könnte ein Erdbeben unmittelbar unter ihrem Stuhl losbrechen. Aber es passiert überhaupt nichts.

Dominique reckt sich. »He, Mel, hast du zufällig das Fenster in Lizzys Zimmer aufgemacht?«

Ich höre nur halb, was sie sagt. »Was?«

»Lizzys Schlafzimmerfenster. Es stand offen, als ich vorhin kurz oben war.«

»Nein, ich war überhaupt nicht in Lizzys Zimmer.«

Wir schweigen wieder.

»Dann wird es wohl der Wind aufgedrückt haben oder so was«, sagt Dominique.

»Ja, das denke ich auch.« Meine Stimme klingt seltsam hoch. Über uns höre ich den Boden knarren, wo Lizzy läuft. Es scheint von allen Seiten zu kommen, als wären dort noch mehr Leute.

Dominique hört es auch und schaut mit gerunzelten Augenbrauen zur Decke. »Was macht Lizzy denn da oben?«

Ein Knarzen. So nahe, dass ich mich kerzengerade hinsetze.

»War ... war das auch Lizzy?«, frage ich.

»Nein«, sagt Dominique langsam. »Die ist noch oben.«

Wir lauschen beide der Stille.

»Vielleicht war es ja der Wind«, sagt Dominique. »Es stürmt noch immer ...«

Plötzlich geht das Licht aus, und es wird stockfinster. Mein Herz pocht bis zum Hals. »W-was ist da los?«, frage ich und versuche, nicht in Panik zu geraten.

»Keine Ahnung. Vielleicht sind die Sicherungen durchgeknallt? Oder wir haben eine Stromstörung?«

Auf einmal klirrt es, als würde ein Glas umfallen.

»Shit, das war mein Glas«, murmelt Dominique. »Wo ist mein Telefon? Ich sehe nicht mal meine Hand vor Augen. Ah, ich hab's.«

Die Taschenlampe ihres Handys leuchtet auf, und die Dunkelheit zerfällt in schwarze, bizarre Schatten.

»Weißt du, wie man eine Sicherung auswechselt?«, frage ich.

Sie lacht geringschätzig. »Keine Ahnung, ich weiß nicht mal, wo hier der Zählerkasten hängt.«

»Aber was sollen wir d-dann machen?«, frage ich heiser. Wie immer, wenn ich in Panik gerate, fühlt es sich an, als würde meine Kehle zugedrückt.

Irgendwo im Haus knarrt es. Erschrocken schaue ich zur Tür, aber alles ist schwarz.

»Jetzt beruhige dich mal, Mel«, sagt Dominique überraschend freundlich. »Das ist ein altes Haus, hier knarrt alles. Ich habe ein paar Kerzen in den Küchenschubladen liegen sehen, die zünden wir jetzt gemütlich an. Und wenn das Licht in ein paar Minuten nicht von selbst wieder angeht, dann rufe ich meinen Vater an und frage, wo der Zählerkasten hängt. Okay?«

»O-okay«, sage ich. »Ich habe manchmal einfach furchtbare Angst im Dunkeln.«

»Das weiß ich.« Sie lächelt mich an. »Aber es wird alles gut. Irgendwie sogar gemütlich ...«

Doch da ertönt ein lauter Schrei von oben und danach ein Rumsen, als würde etwas auf den Boden fallen.

Mein Magen verkrampft sich. Das war Lizzy. An Dominiques leichenblassem Gesicht sehe ich, dass sie dasselbe denkt.

»Holy Shit, das klang nicht gut.« Sie springt auf und reißt die Tür zum Flur auf. »Lizzy? Lizzy? Lizzy, bitte antworte!«

Es bleibt still.

Nein, denke ich. Nein, nein, nein.

»Ich gehe hoch«, sagt Dominique, und einen Augenblick später ist sie mit ihrem Handy im Flur verschwunden.

Die Dunkelheit holt mich ein, und ich sehe überhaupt nichts mehr. Es fühlt sich an, als würde ich ersticken, als könnte ich nicht einmal mehr atmen.

»Warte!«, rufe ich schrill. »Ich komme mit!«

Das kleine Licht kommt zurück.

»Dann beeil dich.« Sie klingt ungeduldig.

Ich stehe auf und schiebe mich Schrittchen für Schrittchen auf das Licht zu.

»Wo ist die Treppe?«, höre ich Dominique murmeln. Das Licht vom Handy huscht nervös durch den Flur, bis der Strahl auf die Stufen fällt. »Komm«, sagt sie.

Ich folge Dominique. Tastend suchen wir uns den Weg nach oben. Mit jedem Schritt wächst meine Angst. Da oben stimmt etwas nicht ...

»Lizzy?«, ruft Dominique oben an der Treppe.

Ein Geräusch. Als würde jemand etwas Schweres über den Boden schleifen. Es ist fast unmöglich zu bestimmen, aus welchem Zimmer das Geräusch kommt.

»W-was ist das?«, flüstere ich.

»Pssst«, zischt Dominique.

Gemeinsam lauschen wir dem totenstillen Haus.

»Ich ... ich weiß es nicht«, sagt Dominique dann. Sie macht einen Schritt auf dem kleinen Treppenabsatz. Ein Brett knarrt und schreckt uns beide auf.

Das Licht von Dominiques Handy huscht über alle Wände und Türen und erzeugt seltsame Schatten. Aber es ist niemand zu sehen.

»M-mir gefällt das ganz und gar nicht«, keuche ich.

»Mir auch nicht«, sagt Dominique kaum hörbar.

»W-wir müssen die Polizei anrufen«, flüstere ich, und mein Blick schießt in der Dunkelheit hin und her. Ich habe so eine Angst, dass plötzlich eine Gestalt aus der Finsternis hervorspringt.

Dominique späht mit zusammengekniffenen Augen auf ihr Handydisplay. »Tut mir leid, Mel ...« Sie zögert kurz. »Ich ... ich habe keinen Empfang mehr.«

Zittrig atme ich ein. »A-aber was sollen wir denn jetzt machen?«

Der Lichtstrahl von Dominiques Handy dreht sich wie ein Leuchtturm zu Lizzys geschlossener Zimmertür. »Ich schaue nach, ob sie da drin ist. Vielleicht ist sie gestürzt oder so etwas. Guckst du dann mal, ob sie vielleicht im Bad ist?«

Das klingt wie ein logischer Vorschlag. Aber eine kleine Stimme in meinem Kopf schreit: Renn nach unten, flieh aus dem Haus, bleib keine Sekunde länger hier!

Offenbar bemerkt Dominique mein Zögern. Sie nimmt meine Hände, die ganz feucht sind vor lauter Schweiß. »Wir können Lizzy hier nicht allein lassen. Wir müssen das tun, Mel. Verstehst du das?«

»J-ja.«

»Gut so«, sagt sie leise. Sie lässt mich los und geht zu Lizzys Zimmertür. »Ich bin hier. Schrei laut, wenn etwas ist, dann komme ich sofort zu dir!«

Sie verschwindet mitsamt Handy in Lizzys Zimmer.

»Lizzy?«, höre ich sie rufen. »Bist du hier? Bitte sag etwas!«

Ich hole tief Luft und taste nach der Klinke der Badezimmertür. Vorsichtig drücke ich sie hinunter. Durch das Fenster sehe ich einen Streifen vom Mond, er kämpft mit einer schwarzen Wolke, die ihn verdeckt. Es ist gerade noch hell genug, um die Gegenstände im Badezimmer zu erkennen. Wanne, WC, Waschbecken ... alles scheint normal. Aber je länger ich hinsehe, desto fremder werden die Dinge, als würde die Dunkelheit alles verformen. Und dann sehe ich einen dunklen Schatten rechts von mir. Ich will schreien, bis ich plötzlich kapiere, dass ich das selbst bin. Im Spiegel über dem Waschbecken. Eine dunkle Gestalt ohne Gesicht.

Ich drehe mich um, damit ich mich nicht mehr selbst sehen muss – eine Bewegung, die mich schwindelig macht.

»L-Lizzy?«, rufe ich.

Stille. Eine, die alles sagt.

Plötzlich höre ich etwas. Ein leises Schlurfen, als käme jemand auf die Badezimmertür zu. Angestrengt lausche ich.

»L-Lizzy?«, rufe ich noch einmal.

Jetzt herrscht wieder Totenstille – habe ich mir das nur eingebildet?

Plötzlich bedaure ich es sehr, auf Dominique gehört zu haben. Ich gehe jetzt sofort zu ihr, und dann fahren wir mit dem Auto ins Dorf und holen Hilfe. Meine Beinmuskeln spannen sich schon an, um das Bad zu verlassen.

»Neeeeeeeiiiin!« Ein hoher, langgezogener Schrei aus einem der Schlafzimmer.

Stocksteif bleibe ich stehen ... Und dann fällt die Badezimmertür so laut zu, als würde eine Bombe einschlagen.

»W-was?«, stammele ich heiser.

Mit drei Schritten bin ich an der Tür und rüttele an der Klinke. Die Tür geht nicht auf ... meine Hände tasten nach dem Schlüsselloch. Doch ich kann den Schlüssel nicht finden, den ich noch am Morgen benutzt habe, um die Tür abzusperren. Mein Mund wird trocken. Ob jemand den Schlüssel herausgenommen und die Tür von außen abgeschlossen hat?

Es fühlt sich an, als würde die Dunkelheit auf mich zukommen, mich berühren. Ich schluchze.

»Lasst mich raus!«, rufe ich und bollere mit den Fäusten gegen das Holz. »Bitte, ich bin hier eingeschlossen!«

Mein Atem wird schneller und steigt in meiner Kehle auf. Mit aller Kraft, die ich in mir habe, drücke ich gegen die Tür. Das Holz ist unerschütterlich.

Tränen stechen in meinen Augen, und ich fange an zu weinen. Ich schlage noch fester gegen die Tür. »Hilfe! Helft mir bitte!«

Ich ratsche mir die Hand an etwas Scharfem auf und spüre kurz darauf, wie mir etwas Warmes am Handgelenk hinunterläuft.

Wieder ein Schrei. Ein paar Sekunden später höre ich Dominique rufen: »Nein, nicht ... bitte nicht ... l-lass mich los ...«

Weinend lehne ich mich an die Tür. Das hier passiert nicht wirklich. O Gott, bitte lass das einen Albtraum sein. Wir sind nicht in einem Haus in den Ardennen. Lizzy und Dominique wurden nicht von jemandem angegriffen, und ich bin nicht im Badezimmer eingeschlossen ... In wenigen Sekunden werde ich in meinem eigenen Bett aufwachen.

Aber es verändert sich nichts. Irgendwo in der Ferne höre Dominiques Jammern. Ich sinke auf den kalten Badezimmerboden und schlinge meine Arme um die Beine.

Wir werden sterben ...

Bei dem Gedanken muss ich noch heftiger weinen.

Und dann höre ich hinter mir ein Klicken. Als würde der Schlüssel umgedreht! Jemand kommt herein ...! Zitternd vor Angst krieche ich unter die Waschbecken und suche verzweifelt nach etwas, mit dem ich mich verteidigen kann. Aber ich finde nur einen kleinen Kosmetikeimer aus Plastik. Er ist so leicht, dass er unbrauchbar ist. Ich habe keine Chance ...

Ich presse die Augen fest zusammen und mache mich so klein wie möglich, die Knie bis zum Kinn hochgezogen. In Gedanken sehe ich ihn schon hereinkommen. Eine große dunkle Gestalt. Wahrscheinlich mit einem Messer – oder noch schlimmer: mit einer Pistole.

Aber es kommt keiner. Nicht nach einigen Sekunden und auch nicht nach Minuten. Verwirrt öffne ich die Augen und starre in die Finsternis. Das verstehe ich nicht. Vielleicht steht er jetzt hinter der Tür und wartet, bis ich rauskomme. Oder er ist zu Lizzy und Dominique zurückgegangen.

Vorsichtig stehe ich auf. Meine Beine sind steif und verkrampft. Ich schleiche zur Tür und lausche in die Stille auf der anderen Seite. Ich höre nur meinen eigenen schweren Atem.

Schwindelig vor Angst drücke ich die Klinke hinunter. Die Tür öffnet sich langsam, und ich spähe in den dunklen Flur. Niemand ... Ein paar Sekunden lang lehne ich mich an den Türpfosten. Lizzys Zimmer ist auf der gegenüberliegenden Seite. Aber es fühlt sich an, als wäre es am Ende der Welt.

Ich raffe all meinen Mut zusammen und betrete den Flur. Es knarrt, und ich erstarre. Es dauert ein paar Augenblicke, bis mir klar wird, dass ich dieses Geräusch selbst verursacht habe. Auf Zehenspitzen schleiche ich weiter. Ich habe große Angst, dass meine Schritte mich verraten werden, dass er mein unterdrücktes Schluchzen hört. Das letzte Stück bis zu Lizzys Zimmer lege ich zitternd zurück.

Die Tür steht einen Spalt breit offen, und ich spähe hinein. Die Vorhänge flattern wie Gespenster ins Zimmer. Ich erahne Umrisse von einem Bett und einem Stuhl. Unter dem Bett liegt etwas. Es ist so dunkel, dass ich nicht gut erkennen kann, was es ist, aber es sieht aus wie ein Körper. Lizzy ... oder Dominique ... Was um Himmels willen ist hier passiert?

Und dann sehe ich eine dunkle Silhouette, die hinter den aufbauschenden Vorhängen zum Vorschein kommt. Eine Gestalt, die unbeweglich nach draußen starrt, die Kapuze des Hoodies weit über den Kopf gezogen.

Ich atme stockend ein, mir ist übel und schwindelig, und einen panischen Moment lang denke ich an Flucht. Ich könnte ins Dorf rennen, ein Auto anhalten. Laut kreischen und schreien.

Flieh, Mel! Jetzt!

Aber ich kann es nicht. Ich kann Lizzy und Dominique nicht allein hier zurücklassen. Das Blut hämmert gegen meine Trommelfelle. Was soll ich nur machen? Ich habe keine Waffe, mit der ich ihn angreifen oder auf den Kopf schlagen könnte. Ich habe nur meine Hände. Das ist so unfair, dass ich mich am liebsten laut jammernd auf den Boden legen würde.

Und dann höre ich etwas, eine Art Schnauben. Ich spitze die Ohren. Da ist es wieder. Es klingt wie jemand, der Schmerzen hat und ganz leise einatmet. Lizzy oder Dominique ...

Plötzlich scheint es, als würde ich das Zimmer von außen betrachten. Das ist ein merkwürdiges Gefühl. Ich sehe alles viel deutlicher. Die Entfernung zwischen Tür und Gestalt, höchstens vier Meter. Die Nacht hinter dem geöffneten Fenster.

Ich werde ganz ruhig. Meine Anspannung verfliegt. Sogar die Angst ist weg. Wie in Slow Motion bewege ich mich auf die Gestalt zu.

Auf einmal erinnere ich mich an eine Szene vor fünf Jahren, kurz bevor Lizzy und ich von der Grundschule in die Orientierungsstufe wechselten. Wir lagen auf dem Rücken im Garten. Lizzy drehte den Kopf zu mir und lächelte. »Ich habe dich sehr lieb, Mel«, sagte sie. »Es wäre schön, wenn wir jeden Tag zusammen sein könnten.« Plötzlich war ich sicher, dass ich sie sehr liebte. Für immer.

Noch drei Schritte.

Es ist so lange her, dass Lizzy das zu mir gesagt hat. Manchmal denke ich, sie hat vergessen, wer ich bin.

Noch zwei Schritte.

Ich sehe Lizzy und Dominique wieder vor mir, wie sie sich auf dem Sofa küssen. Schmerz und Wut steigen in mir auf. Es machte Lizzy nichts aus, dass ich traurig war.

Der letzte Schritt.

Das Blut rauscht in meinen Ohren, und alles verschwimmt und wird unscharf. Meine Hände bewegen sich auf den Rücken der Gestalt zu, und ich sehe, wie sich der Kopf langsam zu mir umdreht.

Blitzartig ein Gesicht.

Ein Name.

»Mel!«

Mein Name ...

Ich schreie und drücke mit aller Kraft, die ich in mir habe.

Noch mehr Geschrei, und die Gestalt kippt aus dem Fenster. Den Bruchteil einer Sekunde später höre ich einen dumpfen Aufprall.

Ich schließe die Augen. Es ist vorbei. Endlich vorbei.

»Um Himmels willen, Mel, was hast du getan?!«, kreischt jemand. Ich glaube, es ist Dominique.

Aber ich mache die Augen nicht auf. Ich kann es nicht.

»Bist du verrückt geworden?« Sie zerrt an meinen Armen, schüttelt mich durch. »Schau hin! Gottverdammt, schau doch hin! Sie ist tot!«

Und plötzlich verstehe ich es.

Ein Stöhnen steigt irgendwo in meinem Körper auf, und ich schwanke zum Fenster. Bitte nicht. Bitte, lass es nicht wahr sein ... Meine Hände klammern sich an die Fensterbank, als ich hinausschaue.

Es ist, als wäre dies das Zeichen für den Mond, endlich zum Vorschein zu kommen. Ein schwaches Licht fällt über den Garten. Und dort sehe ich sie liegen.

Auf dem Rücken, den Hals in einem merkwürdigen Winkel. Ihre Augen sind halb geöffnet, als wäre sie sehr müde. Die Kapuze des Pullovers ist ein wenig verrutscht und gibt den Blick auf ihre blonden Haare frei. Aus einem ihrer Mundwinkel tröpfelt ein kleines blutiges Rinnsal.

»Du hast sie verdammt noch mal ermordet!«, schreit Dominique. »Ermordet! Du gestörte Bitch!«

Der Rest geht in meinem eigenen Schreien unter.