Kapitel 12

S ich an engen, dunklen Orten zu verstecken, war für Plato nichts Neues. Er tat das schon sein ganzes Leben lang. Ein Grund dafür war, dass er schon früh gelernt hatte, dass Beobachten eine komplett unterschätzte Superkraft war. Was Menschen taten, wenn sie dachten, dass sie niemand sah, war sehr aufschlussreich. Ja, die meisten fanden es unheimlich, Personen ohne ihr Wissen zu beobachten, aber für Plato galten andere Maßstäbe.

Als eines der mächtigsten Wesen auf dem Planeten hatte Plato die moralische Verpflichtung, das Weltgeschehen im Auge zu behalten und im Bedarfsfall einzugreifen. Wenn er nicht aus dem Schatten heraus spioniert und entsprechend gehandelt hätte, wären viele schlimme Dinge in der Weltgeschichte passiert.

Außerdem hatte Platos Magie, obwohl sie unglaublich mächtig und scheinbar grenzenlos war, einen entscheidenden Nachteil. Wenn ihm jemand dabei zusah, wie er sie einsetzte, verlor er ein Leben. Hundert Leben zu haben, mochte viel erscheinen, aber wenn man nicht sparsam damit umging, waren sie schnell aufgebraucht. Plato hatte das schon einmal getan. Er befand sich gerade in der zweiten Runde seiner Leben und wollte sie nicht vergeuden, nur weil er dort zauberte, wo andere es sehen konnten.

Unter dem niedrigen Liegestuhl auf dem Dach beobachtete Plato in der Dunkelheit, wie Faraday die Dachrinne hinaufkletterte. Das sprechende Eichhörnchen spähte über den Rand und schaute sich um. Was er sah, wirkte ziemlich gewöhnlich. Auf dem Dach des Hotels Laguna Maldita stand eine Reihe von Loungemöbeln, die zum Schutz vor einem Sturm mit einer Plane abgedeckt waren.

Faraday war jedoch vorbereitet und hatte ein kleines Monokel, mit dem er die Situation genauer untersuchen konnte. Er setzte die von ihm geschaffene Magitech-Linse an sein kleines Auge und schaute hindurch.

Das Eichhörnchen kicherte. »Wie ich vermutet habe … du kannst deine Tarnung ablegen, Lunis. Ich sehe dich.«

Die Speziallinse, die Faraday benutzte, konnte durch jede Tarnung hindurchsehen. Wie er vermutet hatte, benutzte der blaue Drache sie, um sich zu verstecken, falls einer der Gäste oder Angestellten auftauchte.

Fast augenblicklich verschwand das Bild der Loungemöbel und wurde durch den großen blauen Drachen ersetzt. Lunis grinste.

»Na, hallo, Faraday. Hast du auch einen All-inclusive-Urlaub an diesem Ort gewonnen?«

Das Eichhörnchen schüttelte den Kopf, kletterte über den Vorsprung und huschte näher an den Drachen heran. Die beiden hatten schon bei anderen Missionen zusammengearbeitet und kannten sich als Familienmitglieder der Beaufonts ziemlich gut.

»Nein, ich habe einen Praktikumsplatz bekommen, um mexikanisch kochen zu lernen«, erklärte er. »Überraschenderweise habe ich mich nicht dafür beworben. Was ist mit dir?«

»Nun, es war, als wäre mir dieser Urlaub auf magische Weise in den Schoß gefallen.« Lunis schnupperte an der Luft. »Riechst du eine Ratte?«

»Eher eine Katze«, stichelte Faraday.

»Woher wusstest du, dass ich hier oben bin?«, fragte Lunis.

»Auch wenn Laura noch wächst, glaube ich nicht, dass eine Zwölfjährige ein ganzes Lammkarree essen könnte. Das wollte sie ihrer Mutter weismachen, weil es verschwunden war.«

Lunis leckte sich über die Zähne. »Das Lammkarree war köstlich.«

»Dann habe ich mir zusammengereimt, dass mich jemand hierhergelockt hat. Ich glaube, es war Plato«, fuhr Faraday fort.

Der blaue Drache nickte. »Oh ja, diese ganze Situation stinkt nach dem magischen Lynx.«

»Ich dachte mir, wenn Plato mich hierhergelockt hat, um eine Sache aufzuklären, hat er dich vielleicht auch heimlich rekrutiert.«

»Ja, lieber Professor Watson, ich glaube, deine Beobachtung ist korrekt.«

Faraday schnitt dem Drachen eine Grimasse und verschränkte seine kurzen Ärmchen. »Warum darfst du in diesem Szenario Sherlock Holmes sein?«

»Ist das nicht offensichtlich?«

»Nicht wirklich«, brummte Faraday mürrisch.

»Weil ich Pfeife rauche.« Lunis hielt eine imaginäre Pfeife an seinen Mund und blies Rauchringe aus.

Das Eichhörnchen lachte. »Das ist die andere Art, wie ich auf dich gekommen bin. Francesca sagte, dass sie beim Aufräumen auf der Rasenfläche immer wieder ein Lagerfeuer riechen und ein flatterndes Geräusch hören würde.«

»Hey, du hast doch nicht erwartet, dass ich das Lammkarree roh esse. Ich bin ein Drache, kein Wilder.«

Faraday nickte. »Du hast sie also gegrillt. Das ergibt Sinn.«

»Ich habe eine ähnliche Frage an dich.« Lunis verbarg ein Grinsen.

»Ich bin mir sicher, dass du keine hast«, antwortete das Eichhörnchen trocken.

»Wenn du bist, was du isst, ist das für dich dann nicht verrückt?«

Faraday lachte nicht. Stattdessen schüttelte er den Kopf. »Den Witz habe ich schon von weitem kommen sehen. Du weißt, dass ich allergisch gegen Nüsse bin.«

»Richtig, weil das für ein Eichhörnchen nicht verrückt ist.«

»Ich kann sprechen«, konterte Faraday. »Das ist es, was verrückt ist.«

»Und diese ganze Wissenschaftssache, die du machst.« Lunis deutete auf das Monokel, das um Faradays Hals baumelte.

»Ja, ich bin zu dem Schluss gekommen, dass mein wissenschaftlicher Hintergrund einer der Gründe ist, warum Plato meine Hilfe in Anspruch nehmen wollte«, erklärte Faraday. »Es gibt eine wahnsinnige Magitech-Wissenschaftlerin, die ich dabei erwischt habe, wie sie essenzielle Teile aus dem Heizkessel entfernt hat. Nach dem, was ich beobachtet habe, versucht sie, eine Maschine zu bauen, die einen Hurrikan erzeugt.«

Lunis blickte zu den brodelnden Gewitterwolken über ihm auf. »Sieht aus, als hätte sie Erfolg. Kanntest du die Maschine, an der sie arbeitet? Weißt du deshalb, dass sie einen Hurrikan erzeugen will?«

Faraday schüttelte den Kopf. »Nein, die Wahnsinnige redet ununterbrochen mit sich selbst. Sie hat ziemlich genau verraten, dass ein Mann sie beauftragt hat, die Maschine zu bauen. Doktor Beth Hailey hatte nicht vor, einen echten Hurrikan zu erzeugen, aber ihre Tests haben einen potenziellen Sturm ausgelöst. Ich vermute, dass es nur noch schlimmer wird.«

Lunis ärgerte sich. »Oh, toll. Vielleicht kann ich ein Zimmer im Hotel bekommen.«

»Das bezweifle ich. Das ist das andere Problem, das sich in dem Hotel zusammenbraut. Hast du schon von den Mafiosi gehört, die dort die Macht übernommen haben?«

»Ja, Laura hat mir von ihnen erzählt.«

Faraday nickte. »Ihr Zorn wird immer schlimmer und die Familie leidet darunter. Sie schüchtern alle Gäste ein und stellen eine Menge unangemessener Forderungen.«

»Den gierigen, kleinen Idioten muss eine Lektion erteilt werden.«

Faraday zuckte mit dem Schwanz. »Das sehe ich auch so. Außerdem glaube ich, dass ein Geist im Hotel spukt.«

»Jack glaubt, dass der defekte Heizkessel die Ursache für die unaufhörlichen Klopfgeräusche in den Wänden darstellt. Der Heizkessel machte aber keine Probleme, bis Doktor Hailey anfing, Teile aus ihm auszubauen. Wie Francesca schon sagte, habe ich bemerkt, dass Gegenstände von den Regalen fliegen und die Wände beben.«

»Das wäre nicht der Fall, wenn es sich nur um einen Heizkessel handeln würde«, überlegte Lunis und fuhr sich mit seinen Krallen über das Kinn wie ein Detektiv, der über einen Fall nachdachte.

»Ja, also dachte ich, dass wir vielleicht etwas über das Hotel Laguna Maldita recherchieren könnten«, begann Faraday. »Die Familie weiß nichts über diesen Ort. Keiner von uns beiden kann die Einheimischen befragen, um Informationen zu bekommen.«

»Weil sprechende Eichhörnchen und Drachen den Sterblichen Angst machen«, schaltete sich Lunis ein.

»Genau«, zwitscherte Faraday. »Ich kann also in die Große Bibliothek aufbrechen und sehen, ob Paul, der Große Bibliothekar, mir helfen kann, die Geschichte dieses Ortes zu finden. Wenn jemand sie aufgeschrieben hat, dann wird sie dort zu finden sein.«

Lunis schaute wieder auf die dunklen Wolken über ihm. »Du solltest dich besser beeilen, denn irgendetwas sagt mir, dass wir nicht mehr lange Zeit haben.«

Plato schnippte zweimal mit seinem weißen Schwanz in seinem Versteck. Ein altes, in Leder gebundenes Buch erschien neben den beiden magischen Kreaturen, gefolgt von einem dumpfen Knall . Beide drehten sich um und ihre Augen huschten zu dem Buch auf dem Dach.

Faraday zog eine Augenbraue hoch. »Das Buch war eben noch nicht da, oder?«

»Ich denke nicht, lieber Watson.«

»Warum darfst du schon wieder Sherlock sein?«, beschwerte sich Faraday. »Du erzählst zu viele schlechte Witze, um der große Detektiv zu sein.«

»Nur deshalb unterhalte ich dich nicht mit einem meiner Witze und du hast ›großartig‹ falsch ausgesprochen.«

Lunis ging mit einem Schritt zu dem Buch hinüber, während Faraday in mehreren Sprüngen folgte. Der blaue Drache blätterte zu einer markierten Seite. Seine Augen weiteten sich augenblicklich. »Watson. Komm sofort her, wenn es dir in den Kram passt. Wenn es dir unangenehm ist, komm trotzdem.«

Faraday eilte zu der Seite des Buches, die der große blaue Drache größtenteils verdeckte. Es war scheinbar die Geschichte von Tortugas Locas. »Du hast also aufgehört, Witze zu reißen und zitierst stattdessen Sherlock Holmes? Woher weißt du das alles?«

Lunis blickte von dem Buch auf und zwinkerte ihm zu. »Mein Name ist Sherlock Holmes. Es ist mein Beruf, zu wissen, was andere Leute nicht wissen.«

Faraday lachte darüber. »Wow, dafür bist du perfekt vorbereitet.«

Lunis tippte mit seiner Klaue auf das Buch. »Schau dir das an. Das ist die Geschichte des Hotels Laguna Maldita.«

Faraday überflog die Worte und murmelte: »Eingebaut … bla … bla … bla …« Er überflog mehrere Passagen. »Der Besitz wechselte mehrmals den Eigentümer … bla … bla … bla …«

»Wow, nimm einen Schnelllesekurs.« Lunis lachte und zeigte mit seiner scharfen Klaue auf das untere Ende der Seite. »Hier unten steht die Geschichte über unseren Geist, glaube ich.« Er räusperte sich und fing an, aus dem Buch vorzulesen.

»Ein Baron namens Fabien Coulter stahl das Vermögen seiner Familie und erzürnte damit seine sechs älteren Brüder. Fabien flüchtete nach Tortugas Locas, um ›wie ein König zu leben ‹ und der Verfolgung durch seine Geschwister zu entgehen. Er zog in das Hotel Laguna Maldita und lebte einen verschwenderischen Lebensstil mit Dutzenden von Dienern, berühmten Gästen und reichhaltigen Speisen.

Aber das blieb nicht lange so. Die Coulter-Brüder spürten ihn auf, holten die gestohlenen Reichtümer zurück, sperrten ihn in seinem Hotel ein, umstellten es und erklärten, dass einer der Brüder ihn auf der Stelle töten würde, sollte er versuchen, es zu verlassen. Fabien Coulter hatte nichts mehr außer seinem Hotel und mageren Essensrationen. Er überlebte zehn Tage, bevor er sich das Leben nahm. «

Faradays Kinn zuckte hoch, seine Augen weiteten sich. »Es ist der Baron, der das Hotel heimsucht. Das klingt logisch.«

»Es scheint, als hättest du dir dadurch die Zeit und die Mühe erspart, in der Großen Bibliothek zu recherchieren.«

»Ja, danke, Plato«, rief Faraday über seine Schulter.

Lunis kicherte. »In Wahrheit glaube ich, dass derjenige, der den echten Sherlock Holmes spielt, dieser magische Lynx ist.«

»Ich vermute, du hast recht«, überlegte Faraday. »Wir haben also eine verrückte Wissenschaftlerin, die einen Hurrikan erzeugt, einen Heizkessel, der zu explodieren droht, drei Mafiosi, die Ärger machen und einen wütenden Geist. Ich verstehe, warum Plato unsere Hilfe in Anspruch genommen hat, aber wie sollen wir all diese Probleme lösen?«

»Es gibt nichts Täuschenderes als eine offensichtliche Tatsache.« Lunis tat wieder so, als würde er eine Pfeife rauchen.

»Würdest du aufhören, Sherlock Holmes zu zitieren und sagen, was du meinst?«, bestand Faraday darauf.

»Wir könnten jeden unserer drei Schurken einzeln zu Fall bringen«, begann Lunis. »Ich bin zuversichtlich, dass wir das können. Oder wir könnten sie benutzen, um sich gegenseitig auszuschalten.«

Faraday schnappte nach Luft. »Ja! Das wäre natürlich eine Plato-Strategie. Warum sollte man seine Feinde bekämpfen, wenn man sie dazu bringen kann, sich gegenseitig zu bekriegen?«

»Elementar, mein lieber Watson.« Lunis zwinkerte dem Eichhörnchen zu.

Faraday tippte sich mit der Pfote gegen das Kinn und dachte nach. »Okay, ich glaube, ich habe einen Plan, mit dem wir unsere Schurken weglocken und sie loswerden können, bevor sie zu viel Ärger machen.«

Lunis beugte sich nah heran. »Okay, ich bin bereit, mir deinen Plan anzuhören und dir die volle Anerkennung für seine Genialität zu zollen.«

Faraday gluckste und flüsterte dem blauen Drachen seine Ideen zu. Plato lächelte und erkannte, dass er die richtigen Kreaturen für diesen Fall angeworben hatte. Wie Sherlock Holmes gesagt hätte: »Wir wägen die Wahrscheinlichkeiten ab und entscheiden uns für das Wahrscheinlichste. Das ist der wissenschaftliche Gebrauch der Vorstellungskraft.«