KAPITEL 12

Sehr zu meinem Ärger behält Clancy recht. Am nächsten Morgen ist mir schwindelig, die Haut an meiner Schläfe fühlt sich an, als wäre sie verbrannt, als hätte jemand mitten in der Nacht einen glühenden Schürhaken daraufgepresst. Ich hebe die dünnen Haarsträhnen dicht über meinem Ohr an. Zwischen giftig rot vernarbter Haut fängt das Haar gerade erst wieder an zu wachsen. Die Ärzte meinten, die Verfärbung würde abklingen, in Bezug auf den Schmerz konnten sie das nicht versprechen. Bei manchen Menschen pochen selbst gut verheilte Schnittwunden noch jahrelang. Ungesagt blieb, dass sie den Schmerz für psychosomatisch hielten. Falls er wirklich nur in meinem Kopf ist, bin ich schwer beeindruckt von der Kraft meiner Gedanken.

Ich lese den Beipackzettel der Paracetamol-Schachtel und gönne mir dann zwei mehr als die empfohlene Tageshöchstdosis. Und noch einen Kaffee. Ich habe eine Sprachnachricht auf dem Handy. Aufgrund des Zeitpunkts, zu dem sie hinterlassen wurde, und der Tatsache, dass es eine unbekannte Nummer ist, muss sie von meinem Anwalt sein. Anklagevertretung. Er will mir sagen, wann der Prozess gegen Ivan Neary weitergeht.

Auf der Liste mit verpassten Anrufen stehen anschließend gleich vier Anrufe von meiner Mutter. Die Bestätigung, falls ich noch eine gebraucht hätte, wer die Nachricht hinterlassen hat. Die Opferschutzbeamtin hält auch meine Familie über den Fortgang des Verfahrens auf dem Laufenden. Ich bin ein Opfer. Für den Fall, dass ich versuche, das zu vergessen.

In unregelmäßigen Abständen bekomme ich eine SMS von meiner Mailbox, die mich auffordert, mir die Nachricht anzuhören. Mich geradezu drängt. Jedes Mal, wenn mein Handy piepst, spüre ich, dass mein Herz schneller schlägt, stolpert. Ich sollte die Mailbox abhören. Aber ein irrationaler Teil von mir hofft, wenn ich das Abhören möglichst hinausschiebe, wird sich der Inhalt der Nachricht irgendwie ändern. Die Vergangenheit wird sich irgendwie ändern, und ich wache eines Tages auf und stelle fest, dass dieser ganze Albtraum in Wahrheit jemand anderem widerfahren ist und ich doch nicht sterblich bin, dass ich nicht so leicht durch einen Messerhieb niedergestreckt werde oder vor Angst wie gelähmt sein kann.

Ich sollte mich bei meinen Eltern melden. Ich hebe den Kaffeebecher an den Mund, genieße die Wärme des Porzellans am Kinn. Meine Eltern sind an meine Schweigephasen gewöhnt. Mein Dad hat gesagt, ich wäre als Kleinkind zwar super sensibel gewesen, hätte aber unbedingt ohne Hilfe gehen wollen. Ohne an der Hand gehalten zu werden. Ich war nicht gerade eine Rebellin, aber ich setzte mich sehr bestimmt für die Werte ein, die ich zu haben glaubte. Leidenschaft. So nannte das mein Vater. So nennt er es noch immer. Als wäre es eine ungewöhnliche, exotische Eigenschaft.

Ich denke daran, was ich über Eleanors Kindheit weiß. Der kurze Vermerk, den irgendein besorgter, wohlmeinender Sozialarbeiter seinen Vorgesetzten zukommen ließ, beleuchtet, wie schlimm ihr Familienleben gewesen sein muss.

Es gibt keinen Beleg dafür, dass sich das Jugendamt mit ihrer Familie befasst hat, und meine Anfrage, ob irgendwelche Unterlagen dazu vorliegen, was aus ihren Eltern geworden ist, wurde abschlägig beantwortet. Anscheinend entschied sich Eleanor, sobald sie alt genug war, zu ihrer Tante nach Kilcullen zu ziehen. Sie wird alles, was irgendwie mit ihren Eltern zu tun hatte, vernichtet haben. Sie war eine beruflich erfolgreiche Frau, und genau dieses Bild wollte sie der Welt vermitteln. Für jemanden wie Eleanor konnte alles, was nicht hundertprozentig perfekt war, ausgemerzt werden.

Ich gehe zum Couchtisch, räume benutzte Taschentücher und leere Wasserflaschen beiseite und klappe meinen Laptop auf. Ich klicke durch die paar Fotos, die ich von Eleanors Büro gemacht habe, vom Inhalt ihrer Schubladen, den Aktenschränken und ihrem Labor. Alles sauber und sehr aufgeräumt. Schon öfter habe ich mit Wissenschaftlern zusammengearbeitet; so anspruchsvoll ihre Arbeit auch ist, sie zählen zu den unordentlichsten Menschen, die mir je begegnet sind. Sie können darüber diskutieren, ob eine Petrischale einen halben Millimeter zu dick ist, aber es macht ihnen nicht das Geringste aus, an einem Schreibtisch zu arbeiten, auf dem sich die Sandwichverpackungen der letzten Woche türmen.

Meine Stirn legt sich in nachdenkliche Falten. Eleanor Costello hat ihr Leben von allem Unerwünschten gereinigt. Wie Bulimikerinnen das tun. Vielleicht ging ihr Bedürfnis nach dieser Art von Kontrolle weit darüber hinaus, nur ihren eigenen Körper zu malträtieren.

Ich lege meine Aktentasche auf die Knie und hole Lorcan Murphys Visitenkarte heraus. Solche Fragen stelle ich nicht gern am Telefon. Wenn man jemandem nicht in die Augen sieht, bekommt man nur die halbe Wahrheit. Aber vielleicht ist er ja in der Lage, mir diese eine Seite von Eleanors Persönlichkeit zu erklären. Könnte jemand nach ihrem Tod ihr Büro aufgeräumt haben? Wenn ja, wer hatte Zugang dazu? Ihr Mann? Irgendwelche Kollegen? Oder vielleicht hielt sie es mit ihrem Arbeitsplatz wie mit jedem anderen Aspekt ihres Lebens – immer alles akkurat und unter Kontrolle.

Ich wähle die Nummer auf der Karte, und während es klingelt, schaue ich nach oben zur Wanduhr. Halb neun. Seine erste Lehrveranstaltung fängt erst um neun an, und tatsächlich meldet er sich.

Seine Stimme klingt unsicher. »Hallo. Lorcan Murphy am Apparat.«

»Mr. Murphy! Hi. Detective Chief Superintendent Sheehan.«

Schweigen am anderen Ende, dann sagt er leise zu irgendwem: »Gehen Sie schon mal rein, ich komme gleich«, ehe er sich wieder an mich wendet.

»Tut mir leid, Detective. Ich habe um neun meine erste Lehrveranstaltung.« Ihm ist nicht ganz wohl zumute. Die Visitenkarte war eine Geste. Er hat nicht damit gerechnet, dass ich ihn anrufe, dass er weiter in die Sache hineingezogen wird. Ich will nicht, dass er auf der Hut ist.

»Ich hab nur eine ganz kurze Frage, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Ich niese in meine Hand. »’tschuldigung. Sie sagten ja, Sie würden uns gern auf jede erdenkliche Art behilflich sein.«

»Ja, ja. Natürlich«, bestätigt er hastig, will unbedingt seinen guten Willen zeigen.

»Die Frage mag Ihnen ein bisschen zusammenhangslos erscheinen, aber ich erstelle von Opfern immer gern ein Profil. Dadurch können wir leichter ermitteln, welcher Typ Mensch am ehesten als Täter infrage kommt.«

»Das klingt einleuchtend.« Noch mehr Lärm im Hintergrund. Stimmengewirr, das durch Flure hallt. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich denke, wir können inzwischen mit Gewissheit sagen, dass Eleanor ein sehr durchorganisierter Mensch war.«

Er lacht. »Vorsichtig ausgedrückt.«

Ich lache ebenfalls. »Ja, offenbar hatte sie ein ziemlich streng geregeltes Leben.«

Ich höre, wie er zischend Luft durch die Zähne saugt. »Ähm. Das würde ich nicht unbedingt sagen.«

»Ach nein?«

»Verstehen Sie mich nicht falsch, sie war wirklich sehr gut organisiert, aber sie konnte auch spontan sein. Das war einer der Gründe, warum ihre Lehrveranstaltungen so gut waren. Es konnte vorkommen, dass sie von ihrem haarklein ausgearbeiteten Seminarplan abwich, weil sie plötzlich eine neue Idee hatte, die sie dann mit so viel Energie umsetzte, dass sich ihr keiner entziehen konnte. Die Studenten fanden das toll. Bei ihr war es nie langweilig.«

»Und außerhalb der Arbeit?«

Sein Tonfall wird leiser, verschlossener. »Wie sie zu Hause war, kann ich natürlich nicht sagen, aber auf Empfängen und ähnlichen Veranstaltungen konnte sie ebenfalls sehr unberechenbar sein. Es ist mehr als einmal vorgekommen, dass ich ihr am Ende des Abends in ein Taxi helfen musste.« Er lacht, erinnert sich offenbar an einen solchen Abend.

»Aber der Schreibtisch in ihrem Büro. Es ist auffällig, dass da überhaupt nichts drauf rumliegt, wo sie doch so oft und bis spätabends dort gearbeitet hat.«

»O ja.« Ich sehe förmlich, dass er nickt. »Ja. Ich dachte mir schon, dass Sie mich darauf ansprechen würden. Dass Sie sich fragen würden, warum da keine Topfpflanze oder Ähnliches rumsteht. Sie hat jeden überflüssigen Kram gehasst. Hatte ein echtes Problem damit. Sie hat immer gesagt, sie habe keine Lust, irgendwelches Zeug, Dinge, Deko, Pflanzen oder so mit sich rumzuschleppen, als wäre es wichtig. Sie wollte nichts so lange um sich haben, dass sie sich daran gewöhnen konnte. Und deshalb hat sie … wie hat sie sich noch mal ausgedrückt …« Er schnalzt mit der Zunge, dann: »Genau, ihr Leben entrümpelt. Alles entfernt, was nicht unmittelbar mit ihrer aktuellen Arbeit zu tun hatte. Ich fand das immer ganz erstaunlich.«

»Danke für Ihre Hilfe, Mr. Murphy.«

Er ist froh. Erleichtert. »Gern geschehen.«

Ich lege auf.

Baz wartet schon, als ich ins Büro komme. Ich fühle mich hundeelend. Mein ganzer Körper ist in kalten Schweiß gebadet, und ich friere. Ich schlage meine behandschuhten Hände zusammen und stampfe mit den Füßen auf, um mich nach der Kälte draußen aufzuwärmen. Die Maßnahme ist erfolgreicher, als mir lieb ist, und in dem warmen Raum spüre ich eine Hitzewelle, die rasch von den Füßen aufwärts durch meinen Körper steigt, bis mir richtig schwindelig wird. Baz schiebt eine Hand unter meinen Ellbogen.

»Findest du es nicht auch zum Kotzen, wenn Clancy recht hat?«

Ich stoße ein kurzes Lachen aus, das prompt in einen Hustenanfall übergeht. Drohend hebe ich einen Zeigefinger. »Sag ihm ja nicht, dass ich erkältet bin, sonst bist du der nächste Todesfall, den wir untersuchen müssen.«

Er lacht. »Einverstanden. Aber mal im Ernst, denkst du wirklich, du solltest hier sein?« Er sieht sich im Raum um.

Ich nehme Haltung an, zwinge meinen schwitzenden, schlappen Körper, verdammt noch mal zu funktionieren. »Wir sind hier kein Kindergarten, Baz.«

Er hebt beide Hände. »Ich mein ja nur.«

»Tja, red gefälligst nicht so laut, sonst haben wir das nächste Mal, wenn sich hier einer ein bisschen überfordert oder gestresst fühlt, haufenweise Krankmeldungen und keine Leute mehr, die die Arbeit machen.«

Er salutiert zackig. »Alles klar.«

Ich schleppe mich in mein Büro, sinke in den Schreibtischsessel und leide einen Moment vor mich hin. Das Klischee, die Whiskeyflasche in meiner mittleren Schreibtischschublade, ist schrecklich verlockend, aber als ich danach greife, merke ich, dass Baz mir gefolgt ist.

»Was ist?«

»Störe ich dich in deinem Elend? Du gehörst ins Bett.«

»Was ist?«

Er schiebt mir ein Fax über den Tisch.

»Das hier ist Eleanors Handschrift«, sagt er. Sein Finger zeigt auf den Namen Chagall von dem Post-it. Den runden dicken Buchstaben a.

Baz greift meine Gedanken auf, verknüpft sie. »Der Computer ist also höchstwahrscheinlich ihrer.«

Ich greife nach dem Laptop. Ein kräftiger Ruck, und der Monitor löst sich von der Tastatur und wird zum Tablet mit Touchscreen, wie Steve uns vor Wochen erklärt hat.

Ich blicke auf. Seufze.

»Was?«, fragt Baz.

»Selbst wenn der Laptop ihr gehört hat. Wusste sie wirklich, welche Funktion dieses Programm hat? Vielleicht hat er den Tor-Browser auf ihrem Rechner installiert, um seine Fantasien auszuleben. Selbst seine eigene Schwester hat das geglaubt. Eleanor hätte doch mit dem Darknet gar nichts anfangen können.«

»Wieso nicht? Weil sie eine Frau war? Ich dachte, das hätten wir gestern Abend geklärt.« Er hebt die Augenbrauen, sieht mich herausfordernd an.

»Ja, schon. Aber ich kann es mir einfach nicht vorstellen.«

Er schmeißt sich in den Sessel mir gegenüber. »Ist dir eigentlich klar, wie sexistisch du dich anhörst? Noch dazu deinem eigenen Geschlecht gegenüber?«

»Es passt einfach nicht.«

»Ihr Profil? Du versetzt dich zu sehr in sie hinein, Frankie. Versuch, neutral zu bleiben.«

Ich bin zu vernebelt, zu krank, um zu antworten. Hab ich wirklich von Anfang an falschgelegen?

Baz reibt sich das linke Ohr, ein Zeichen von Stress. »Liegt’s an ihrem Profil? Komm, wir gehen es noch mal zusammen durch, okay?«

Ich starre ihn an. »Ist dir klar, wie sexistisch du dich jetzt anhörst?«, sage ich mit einem Seufzen und versuche, meine Gedanken zu sortieren. »Baz, wir haben sie erhängt aufgefunden. Die Tatumstände besagen, dass es kein Selbstmord war. Sie ist hier das Opfer. Vergiss das nicht.«

Er schüttelt den Kopf. »Und was ist mit Amy Keegan? Und wo ist Eleanors Mann? Er ist seit fast zwei Monaten verschwunden. Vielleicht ist unsere gut organisierte Eleanor in irgendeine üble Sache hineingeraten, vielleicht ist sie ja nicht bloß das Opfer, sondern auch die Schuldige.«

Ich beuge mich vor. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken. Ich lasse ihn mir durch den Kopf gehen, versuche, ihm in meiner Vorstellung von Eleanor Costello Raum zu geben.

»Aber was ist mit dem Preußischblau? Das Pigment wurde sowohl an Eleanors als auch an Amys Leiche gefunden. Eine Künstlerfarbe. Postmortal aufgebracht, hat Dr. James gesagt. Peter Costello ist der Kunstliebhaber.«

Seine Schultern sinken herab. »Ich geb auf.«

Ich hieve mich aus meinem Schreibtischsessel und hole mir einen Kaffee. Werfe noch zwei Paracetamol ein. »Wie schon gesagt, Eleanor kann nicht schuldig sein, weil sie schon tot war, als Amy ermordet wurde, vergiss das nicht.«

»Das heißt nicht, dass sie unschuldig ist«, sagt Baz.

»Ach nein? Denn was diese beiden Morde betrifft, ist sie es nun mal. Beim ersten war sie das Opfer, beim zweiten war sie tot. Ich glaube, ich kann dir nicht ganz folgen.«

»Meinst du, wir sollten nicht auch Tracy Ward mit einbeziehen?«

Ich habe plötzlich ein kaltes Gefühl in der Magengrube.

Baz fährt fort: »Hör mal zu, ja? Denk an die Brutalität, mit der sie ermordet wurde, denk an die Schnittwunden. Und Nearys Festnahme wirft schon einige Fragen auf. Er behauptet, er wollte nur nachsehen, ob sie in Gefahr ist. Er hat dich für den Eindringling gehalten. Vielleicht waren wir voreilig. Seine Geschichte könnte stimmen.«

»Scheiße. Natürlich muss er das sagen. Was denn sonst? Zweifelst du jetzt an den Beweisen? Beweise, die du und Clancy zusammengetragen habt, schon vergessen?«

»Nein, aber wer weiß, vielleicht ist ja doch was an Nearys Aussage dran.«

Ich werde wütend. »Ivan Neary ist aus dem Zimmer gekommen, in dem Tracy Ward buchstäblich Augenblicke zuvor ermordet worden war. Er hatte die Mordwaffe in der Hand. Er hat versucht, mich umzubringen.«

Die Luft bleibt mir im Hals stecken. Husten bellt aus meiner Lunge hoch. Frischer Schweiß perlt mir auf der Stirn. Ich brauche einen Moment, um meinen Körper wieder zu beruhigen.

Ich weiß, dass ich nicht fair bin. Seit Eleanor Costellos Tod gehen mir dieselben Fragen durch den Kopf. Dieselben Gedanken. Sie nagen an meiner Erinnerung, machen mich unsicher, was wirklich passiert ist.

»Tut mir leid«, murmele ich.

Er zuckt die Schultern. »Nein, mir tut’s leid. Ich weiß auch nicht genau, worauf ich eigentlich hinauswill. Irgendwie hab ich das Gefühl, dass noch mehr hinter dem Ganzen steckt. Dass wir irgendwas übersehen haben. Keine Ahnung, was.«

Ich nehme meinen Stift, setze mich wieder an den Schreibtisch. Wappne mich innerlich. »Und, ist da was? Glaubst du, ihr habt irgendwas übersehen?«

Ein Schatten gleitet über sein Gesicht, aber er schüttelt den Kopf. »Er stand mit dem Messer in der Hand über dir. Ich hab den Ausdruck in seinen Augen gesehen. Da war keine Angst oder Panik, da war Wut. Pure Wut.«