Tom Quinn wartet im Vernehmungsraum. Es ist eine Seltenheit, dass Zeugen sich so bereitwillig ein zweites Mal vernehmen lassen, ohne Anwalt, aber Tom ist vom alten Schlag. Er hat ein reines Gewissen und ein naives Vertrauen in das System. Ich gehe die Berichte auf meinem Schreibtisch durch. Immer mehr Indizien zeigen mit dem Finger auf ihn. Ich will nicht, dass das wahr ist. Schlimm genug, dass meine Arbeit die Filmrolle meiner Kindheit zurückgespult und meine Erinnerungen mit Amys schrecklichem Tod vergiftet hat, aber es scheint mir einfach zu grässlich, dass ein so vertrautes Gesicht zu etwas so Bösem fähig sein soll.
Der Türsteher des Rialú hat bestätigt, dass Tom Stammgast bei ihnen ist. Die Überprüfung von Toms Bankkonto hat ergeben, dass er Amy etwa ein Drittel seines Lohns überwiesen hat. Jeden Monat musste er seinen Dispo in Anspruch nehmen. Er hat keinerlei Ersparnisse. Die Verbindung zu Black Widow hat die Waage der Gerechtigkeit gegen ihn gesenkt, die Last der Schuld auf Toms Schultern geladen.
Es klopft an der Tür zu meinem Büro, und Baz kommt herein. »Wir wären dann so weit. Bist du sicher, dass du es nicht selbst machen willst?«
Ich stehe auf. »Ja. Ganz sicher. Ich kann nicht an dem Tom Quinn vorbeisehen, den ich kenne. Ich kann ihn nicht als Verdächtigen sehen. Und deshalb kann ich nicht die Antworten aus ihm herausholen, die wir brauchen.«
»Ich hab noch nie erlebt, dass dir bei der Arbeit Gefühle in die Quere kommen.«
Ich seufze. »Es geht darum, dass Tom eine echte Chance bekommt, sich zu entlasten. Ich würde ihn möglicherweise nicht hart genug in die Mangel nehmen, und damit tun wir weder uns noch ihm einen Gefallen.«
Er hält den Mund und nickt bloß.
Ich packe die Berichte zusammen. »Hast du alles, was du brauchst?«
Er klopft auf eine zusammengerollte Mappe in seiner Jacketttasche. »Ja.«
Auf der anderen Seite des Sichtfensters sitzt Tom Quinn kerzengerade, die Füße um die Stuhlbeine gehakt, das Gesicht so grau wie sein Anzug. Diesmal schaut er nicht zu der verspiegelten Scheibe hinüber. Er starrt stur geradeaus, die Mundwinkel hängen herab. Ich suche nach dem Mörder in ihm, aber ich kann ihn nicht finden. Als Baz den Raum betritt, blickt Tom erwartungsvoll auf, und dann sacken seine Schultern herab, seine Brust sinkt nach innen, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.
»Detective.« Er streckt eine Hand aus.
Baz schüttelt sie. »Mr. Quinn. Ich bin Detective Harwood. Danke, dass Sie gekommen sind.«
Tom nickt. »Ist doch klar. Obwohl ich Frankie beim letzten Mal schon alle Fragen beantwortet habe.«
»Die Ermittlungen gehen weiter, und wir haben noch ein paar Details, die wir gern abklären würden.«
Ich sehe, wie angespannt Tom ist.
»Okay.«
»Wir haben ja bereits festgestellt, dass Sie Amy gut kannten.«
»Als wäre sie mein eigen Fleisch und Blut.«
»Haben Sie sich gut mit ihr verstanden?« Baz sieht ihn nicht an, als er die Frage stellt, doch als Tom nicht sofort antwortet, schaut er seinem Zeugen in die Augen.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Haben Sie sich gut mit ihr verstanden? Mochten Sie sie, hatten Sie was gegen sie, gab’s irgendwelche Meinungsverschiedenheiten?«
Tom schiebt einen Fuß unter den anderen, wird auf seinem Stuhl noch ein bisschen kleiner.
»Mr. Quinn?«
»Wir haben uns gut verstanden.«
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
Tom schüttelt den Kopf. »Im Sommer, glaube ich.«
»Im Sommer? Während der Ferien?«
»Ich glaube schon.« Überzeugter. »Ja.«
Baz schaut in seinen Notizen nach. »Ist sie während des Semesters nicht nach Hause gekommen? Vielleicht mal übers Wochenende?«
Augenbrauen gehen hoch. Ein Lächeln. »Doch, Moment. Ich hab mich geirrt. Ich habe sie mal nach Dublin gebracht, vor ungefähr einem Monat. Eamon hatte gefragt, ob ich sie fahren kann, weil er sich einen Hexenschuss geholt hatte, als er eine Batterie rausheben wollte.« Er schüttelt den Kopf, denkt an den Moment zurück. »Also hab ich das übernommen.«
»Haben Sie sie zu ihrer Wohnung gebracht? Oder zur Uni?«
»Zu einem anderen Studenten nach Hause, glaube ich. In Sandyford. Er sah ziemlich schnieke aus. Und auch ein bisschen älter als sie. Ich glaub, Eamon hätte er nicht gefallen, aber Sie wissen ja, wie die jungen Leute so sind.«
»Name?«
»Hab ich mir nicht gemerkt. Sie hat ihn mir aber gesagt. Ich glaub, Larry oder so ähnlich.«
Baz macht sich eine Notiz, lehnt sich zurück. »Aus Amys Kontoauszügen geht hervor, dass Sie ihr vierhundert Euro im Monat überwiesen haben. Können Sie uns das erklären?«
»Sie brauchte ein bisschen Knete für die Uni, mehr nicht. Wie gesagt, sie war wie eine Tochter für mich.«
»Tochter?«
Toms Augen gleiten zum Tisch. »Ja.«
»Wir glauben, sie hat Sie erpresst.«
Schweigen.
»Mr. Quinn? Hat Amy Keegan Sie erpresst?«
Tom hebt den Kopf. Rosa Flecken erscheinen auf seinen Wangen, sein Hals läuft rot an. Er schaut zum Fenster herüber, als würde er mich durch die Scheibe hindurch sehen, mich direkt ansprechen, mit flehender Stimme.
»Es ist nicht so, wie Sie denken.«
»Sie hat Sie also nicht erpresst?«
»Nein. Ich meine, ja und nein. Sie … sie war nicht immer nett zu mir. Sie war nicht immer ein netter Mensch.«
Baz lässt ihm Raum, um weiterzureden. Es dauert einen Moment.
Tom lockert seine Krawatte, zerrt an seinem Hemdkragen. Schließlich blickt er auf, streicht sich das grau melierte Haar aus der Stirn.
»Sie hat gesagt, sie erzählt es Eamon, wenn ich ihr kein Geld gebe. Der hätte das nicht verstanden. Ich hätte meine Arbeit verloren.« Seine Augen wirken verzweifelt. »Die Keegans sind doch meine Familie. Ich hab sonst niemanden.«
Ich lege die Hand an den Fensterrahmen. Die Angst, der Groll in seiner Stimme genügen schon fast als Motiv.
»Was hätte sie ihrem Vater erzählen können, Mr. Quinn?«, hakt Baz nach.
»Sie hat mich gesehen, in einem Club, in dem ich öfter bin. Das ist nicht die Norm. Das verstehen die wenigsten.« Er hebt die geöffnete Hand. »Da wird keinem was getan, aber es ist was Privates.«
»Ein Sexclub.«
»Ja«, bestätigt er leise. »Sie war natürlich auch da, aber für Eamon konnte sie ja nichts falsch machen. Ich dagegen … Wenn Eamon wüsste, dass ich auf so was stehe, könnte er mir nicht mehr in die Augen sehen.«
Baz zieht ein Foto aus der Akte auf dem Tisch. »Ist das der Club?«
Tom blickt kurz auf das Foto, weicht dann zurück. »Ja.«
»Kennen Sie eine Website namens Black Widow?«
»Black Widow? Nein.« Klare Antwort.
»Ganz sicher?«
»Ja.« Er zerrt wieder an seinem Hemdkragen. »Bitte sagen Sie Eamon nichts davon, ja? Der versteht das nicht. Ich kann meine Arbeit nicht verlieren.«
Baz schiebt das Foto zurück in die Mappe. »Mr. Quinn, haben Sie Amy Keegan ermordet?«
Toms Mund klappt auf. »Was?«
»Haben Sie Amy Keegan ermordet?«
»Ich? Ich könnte niemals … Ich würde niemals. Die Keegans –«
»Amy hat Sie erpresst. Der Gedanke muss Ihnen doch gekommen sein. Amy loszuwerden, hätte viele Ihrer Probleme gelöst. Durch die Überweisungen haben Sie sich allmählich immer mehr verschuldet.«
Tom springt auf. Sein Stuhl fliegt nach hinten. Er streckt einen Arm aus, zeigt auf Baz.
»Sie. Sie sind krank. Ich könnte so was nicht tun. Niemals. So was könnte ich keinem Menschen antun.« Er blickt sich fast suchend nach der Tür um. »Ich will jetzt gehen.«
»Mr. Quinn, bitte setzen Sie sich wieder. Manchmal müssen wir Fragen stellen, die … geschmacklos sind. Ich bitte um Entschuldigung, wenn das jetzt ein bisschen ungehobelt rübergekommen ist. Bitte.« Baz steht auf, geht um den Tisch herum und hebt den Stuhl auf, klopft auf die Sitzfläche. »Setzen Sie sich. Ich lasse nur noch rasch Ihre Aussage tippen.«
Tom nähert sich dem Stuhl, als wäre er ein Klippenrand, aber schließlich nimmt er vorsichtig wieder am Tisch Platz und beäugt Baz argwöhnisch.
Baz lächelt ihn dankbar an. »Wird nicht lange dauern.«
Sobald er den Beobachtungsraum betreten hat, herrsche ich ihn an: »Was sollte das?«
»Der Mann hat ein dickes, fettes Motiv.« Er klopft auf die Mappe in seiner Hand.
»Du hättest ihn nicht so bedrängen müssen.«
Baz stutzt. »Ich hab mich an die Vorschriften gehalten, und das weißt du auch.«
Ich stocke, schließe die Augen und zähle langsam bis fünf. »Tut mir leid. Hast ja recht. Hast ja recht.« Plötzlich ist es im Zimmer zu warm, zu eng. Ich ziehe meinen Blazer aus, werfe ihn über einen Stuhl.
Baz seufzt. »Soll ich es den Keegans sagen?«
»Nein. Das übernehme ich, aber eines noch.« Ich halte ihm mein Handy hin.
Er starrt auf das Display, das Bild von Lorcan Murphy, der mit Eleanor Costello den Campus verlässt. »Was ist damit?«
»Frag ihn, ob das der Mann war, bei dem er Amy Keegan in Sandyford abgesetzt hat.«
Müdigkeit, Erschöpfung liegen in seinen Augen. Er nimmt das Handy.
Ich beobachte durchs Sichtfenster, wie Tom auf das Display blickt, sehe seine Miene von Unsicherheit in Gewissheit übergehen. Er nickt. Ja.
Baz kommt wieder in den Beobachtungsraum. »Ich werde dem nachgehen. Eigentlich nicht erstaunlich, dass die beiden sich kannten. Wahrscheinlich war sie auch in seinen Lehrveranstaltungen.«
Ich versuche, das Flehen in meiner Stimme zu verbergen. Versuche, meine Erinnerungen an Tom von dem Fall zu trennen.
»Ich glaube, wir liegen mit ihm falsch, Baz. Wir sollten noch einen Mann mehr auf ihn ansetzen. Abwarten, was dabei herauskommt. Seine Vernehmung wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Wie soll Tom Quinn an Eleanor rangekommen sein? Warum sollte er sie umgebracht haben? Wo ist da das Motiv?«
»Im Moment haben wir einen Tatverdächtigen für den Mord an Amy Keegan. Mehr nicht. Wenn wir ihn nicht festnehmen, geht er uns durch die Lappen.«
»Tom würde nicht abhauen.«
Baz starrt seinen Verdächtigen an. »Das kannst du nicht wissen. Und wir dürfen es nicht riskieren. Hinter diesem Club steckt noch mehr. Hinter der Black-Widow-Website. Wir werden das alles rausfinden, aber bis dahin reicht das, was wir gegen Quinn in der Hand haben, für einen Haftbefehl. Fälle mit verbrannten Opfern sind besonders schwierig, Frankie. Das weißt du doch. Todeszeitpunkt, DNA des Täters, alles im Brand vernichtet. Wir brauchen ein Geständnis.«
Er gibt mir mein Handy zurück. »Ich lasse ihn seine Aussage unterschreiben und nehme ihn fest. Dann schicken wir Keith und die Spurensicherung zu ihm nach Hause«, erklärt er und geht aus dem Raum.
Als er zurückkommt, habe ich inzwischen den verzweifelten Keegans mitgeteilt, dass sie noch ein weiteres Familienmitglied an diese Horrorgeschichte verloren haben. Ich lege auf, kappe die Verbindung zu Eamons heiserem Zorn und Moiras leisem Weinen im Hintergrund.
Baz steht vor Tom Quinn und schiebt ihm einen Ausdruck seiner Aussage hin. Sobald Tom unterschrieben hat, wird Baz ihn wegen des dringenden Verdachts, Amy Keegan ermordet zu haben, festnehmen.
Tom, der offensichtlich keine Ahnung hat, wie schnell seine Zukunft den Bach runtergehen wird, lächelt Baz dankbar an.
»Wenn Sie mit der Aussage so einverstanden sind, datieren und unterschreiben Sie das Formular bitte unten auf dem Blatt«, weist Baz ihn an.
Tom greift nach dem Stift, und meine Atmung verlangsamt sich. Ich trete näher ans Fenster. Tom unterschreibt unbeholfen und langsam, unsichere Schleifen und ein abruptes Abbrechen am Ende.
Irgendwas an der Art, wie er den Kuli hält, kommt mir seltsam vor. Die Rundung der Hand um den Stift, die Bewegung, die eine Rechtsneigung der Buchstaben andeutet. Baz streckt schon die Hand aus, als Tom noch das Datum schreibt, und nimmt die kostbare Aussage an sich. Und dann fällt bei mir der Groschen. Ich schnappe nach Luft, keuche auf und stürme in den Vernehmungsraum.
»Baz. Kann ich dich mal kurz sprechen?«
»Hallo, Frankie«, sagt Tom. Seine Stimme ist ein erschöpftes Seufzen.
Ich nehme mir die Zeit, ihn kurz anzulächeln, dann sehe ich Baz in die Augen. »Jetzt sofort.«
Baz entschuldigt sich und folgt mir aus der Tür. Er sieht mich an, als wäre ich nun endgültig übergeschnappt.
»Was willst du?«, fragt er.
»Tom ist Linkshänder.«
»Und?«
»Der Mörder in dem Video mit Amy war Rechtshänder. Tom Quinn hat Amy Keegan nicht getötet.«