KAPITEL 17

Baz fällt in einen Laufschritt, um mich einzuholen. Ich haste gegen die Kälte, den Wind und die Zeit an. Der Morgen hat den ersten richtigen Frost des Winters gebracht. Raureif. Die Bäume auf dem Campus stehen reglos vor dem frostigen blauen Himmel, ihre Äste weiß gefiedert mit weißen, harten Stacheln. Ich spüre den kühlen Lufthauch, als ich den Ärmel meines Mantel ein Stück hochziehe und auf die Uhr sehe.

»Wir müssen uns sputen, sonst verpassen wir ihn«, sage ich.

»Ich brech mir hier noch das Genick«, antwortet Baz, der am Rand des Fußwegs entlangtrabt.

»Ein bisschen Schwund ist immer. Nun komm schon«, sage ich.

Lorcan Murphy hält sich noch immer an Eleanors Stundenplan und gibt gerade ein Biochemie-Seminar für Drittsemester, das in knapp dreißig Minuten zu Ende geht. Damit bleibt uns ungefähr eine halbe Stunde, um inoffiziell mit der Cafeteria-Mitarbeiterin zu reden, bevor Murphy aus seiner Lehrveranstaltung kommt.

Ich gehe durch den Eingang und dieselben Flure entlang, durch die Eleanor Costello jeden Morgen eilte. Obwohl ich mir nicht richtig vorstellen kann, dass sie je zu einer Veranstaltung oder einem Meeting zu spät gekommen ist. Ich sehe sie selbstsicher, zügig vor mir hergehen, sehe ihren Blazer bei jedem Schritt flattern, eine Mappe unter einen Arm geklemmt, eine Aktentasche in der anderen Hand. Ich zögere vor der Cafeteria, in der ich in den Tagen nach Eleanors Tod mit Mr. Murphy gesprochen habe. Baz bleibt neben mir stehen.

Mein Instinkt sagt mir, dass Nicole Duarte – die junge Frau hinter der Theke – mit einer förmlichen Vernehmung nicht gut klarkäme. Sie wollte mir an dem Tag irgendetwas sagen, überlegte es sich aber anders, als sie erfuhr, dass Eleanor Costello ermordet wurde. Ein bisschen Druck und ihr Wunsch, es sich nicht mit uns zu verderben, könnten sie dazu bringen, mit der Sprache herauszurücken. Sie ist alleinerziehende Mutter einer zweijährigen Tochter. Ein paar Nachforschungen haben ergeben, dass sie Arbeitslosengeld kassiert, obwohl sie hier arbeitet.

Sie steht mit dem Rücken zu uns, als wir zu ihr gehen. Ihre Hände sind beschäftigt, stapeln Tassen auf der Kaffeemaschine, treffen Vorbereitungen für den Ansturm von Studenten und Lehrpersonal in einer halben Stunde.

»Hallo«, sage ich.

Sie zuckt zusammen, dreht sich um, eine Hand am Hals.

»Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken«, entschuldige ich mich.

Sie lacht, aber ich merke ihr an, dass sie schon jetzt verunsichert ist. »Detective! Da sind Sie ja wieder.«

Ihre Augen spähen über meine Schulter, blicken an Baz vorbei in die Cafeteria und den Gang dahinter.

Ich lache. Lockere die Stimmung auf. »Wir warten bloß darauf, dass Lorcan Murphy aus seiner Lehrveranstaltung kommt. Wir sind zu früh. Könnten wir vielleicht noch schnell einen Kaffee bekommen?«

Sofort sinken ihre schmalen Schultern herab. Sie lächelt. »Klar. Normaler Kaffee oder Cappuccino?«

»Zwei normale Kaffee bitte.«

Ich signalisiere Baz mit einem Nicken, dass er sich weiter hinten in der Cafeteria an einen Tisch setzen soll, dann drehe ich mich wieder zu Nicole Duarte um.

»Heute ist aber wenig los.« Ich schaue mich übertrieben um.

Sie schüttelt den Kopf. »Sieht nur so aus. Während der Lehrveranstaltungen ist es immer ruhig. Da kommen nur ein paar Nachzügler.« Sie geht zu der Maschine, knipst einen Schalter an, dreht den Siebträger ab.

Sie wirft mir einen Blick über die Schulter zu, lächelt erneut. »Die sind meistens verkatert und so, Sie wissen ja, wie Studenten sind. Und übrigens Dr. Costello. Die war auch oft spät dran.« Sie lacht. »Oder lebte gefährlich, hat sie gern gesagt.«

Der Boden unter meinen Füßen gerät leicht ins Wanken. Ich habe Mühe, meinen Tonfall locker zu halten. Wieder finde ich es eigenartig, dass sie so schnell auf Eleanor zu sprechen kommt.

»Eleanor spät dran? Hätte ich nicht von ihr gedacht.«

Sie sieht mich an, blickt gespielt verwundert. »Eleanor? Aber das war typisch für sie. Ich meine, die meiste Zeit war sie pünktlich, aber es kam mindestens einmal die Woche vor, dass ich gehört hab, wie ihre Absätze den Flur runtergetrappelt kamen. Ich hatte dann ihren Kaffee schon fertig, sie hat ihn sich praktisch im Laufen geschnappt, gelacht und ist weiter zu ihrer Veranstaltung.«

Ich stutze. Eleanor. Eine Typ-A-Persönlichkeit, Überflieger. Zielstrebig. Perfektionistisch. Ich denke an ihre Kindheit, Ladendiebstahl, Bagatelldelikte und setze »risikofreudig« mit auf die Liste. Ich denke an den Inhalt ihres Laptops.

»Hat sich schon mal wer über sie beschwert?«

Nicole atmet laut aus. »Nie. Eleanor war eine der besten Dozentinnen, die die Universität je hatte. Studenten aus dem ganzen Land sind extra hergekommen, um ihre Vorlesungen zu besuchen. Sie war im Hörsaal sehr charismatisch. Strahlend. Ihre Studenten hätten drei Stunden gewartet, um nur zehn Minuten von einer ihrer Vorlesungen mitzubekommen.«

Ich beuge mich vor. »Haben Sie auch mal eine besucht?«

Sie blickt nach unten. Ihre Wangen röten sich. »Ich hab sie mir angehört. Ein Student hat sie immer auf seinem Diktafon aufgenommen.«

»Aha.« Ich schaue wieder auf die Uhr. Noch fünfzehn Minuten.

Sie stellt zwei Tassen unter den Auslauf der Maschine.

Ich lege noch zwei Euro auf die Theke. »Hier, trinken Sie auch einen. Sie können sich gern zu uns setzen, wenn Sie mögen. Uns ein bisschen mehr über Eleanor erzählen.«

Sie nickt, sieht mir in die Augen, und ich habe das Gefühl, dass sie die ganze Zeit schon reden wollte. Über Eleanor reden wollte.

»Setzen Sie sich schon mal, ich komme dann mit dem Kaffee.«

»Danke.«

Ich drehe mich um, fange Baz’ Blick auf. Er sieht mich vorwurfsvoll an, was ich ignoriere. Was ich mache, ist nicht gerade astrein, einer potenziellen Zeugin Informationen abzuluchsen, ohne dass das Gespräch aufgenommen wird, ohne eine förmliche Vernehmung, ohne dass die Zeugin weiß, worum es geht. Eigentlich müssten wir uns an strenge Regeln halten. Es ist nicht richtig, aber in dieser Situation ist es auch nicht falsch.

Nicole bindet ihre Schürze ab, steckt das Geld ein, das ich auf die Theke gelegt habe, und füllt ein Glas mit Wasser. Bescheiden. Gute Mutter. Sie schiebt sich auf einen Platz an unserem Tisch, sitzt auf der Stuhlkante, die Knie fest zusammengepresst, die Finger um das Glas auf ihrem Schoß geschlungen, als würde sie daraus Kraft ziehen.

Sie schielt auf meinen Kaffee, sieht mir dann in die Augen. »Sorry, ich mag Kaffee nicht besonders.«

Ich lächele sie beruhigend an. »Bestimmt ist Wasser sowieso gesünder.«

Ich trinke einen Schluck und stelle meinen Kaffee sachte zurück auf die Untertasse. Ich schaue ganz bewusst aus dem Fenster, hinunter auf den Sportplatz, wo schon wieder einige Mannschaften auf dem eisigen weißen Untergrund trainieren.

»Wow. Die sind mutig!« Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf Nicole. »Ich wette, Sie freuen sich schon auf die Weihnachtsferien.«

Ihre Schultern entspannen sich, und sie stellt das Wasserglas auf den Tisch, schlägt die Beine übereinander. »Und wie! Ich liebe Weihnachten. Gabe und ich machen es uns immer richtig schön.«

»Gabe?«

Sie lächelt. »Gabriella. Meine Tochter.« Sie holt ein Foto aus der Hosentasche.

Ich schaue es mir an. Ein strahlendes Kleinkind in die Arme seiner Mutter geschmiegt. Zöpfchen mit rosa Schleifen, Pausbacken, schüchternes Lächeln.

»Sie sieht aus wie Sie«, sage ich.

»Danke.«

»Wann fangen die Ferien an? Müsste doch bald sein.«

»Erst am 22., aber wir haben dann bis zum 8. frei, das gleicht sich also aus. Ehrlich gesagt, ich arbeite gern hier.«

Ich nicke. »Das verstehe ich. Gibt’s auch eine Weihnachtsfeier für Mitarbeiter?«

»Die war schon. Letzte Woche. Findet jedes Jahr früher statt.« Sie lacht. »Ich geh aber nicht oft hin.«

»War bestimmt schwierig dieses Jahr. Ich meine, mit Eleanor und so. Und Peter.«

»Peter?«

Ich ziehe eine Braue hoch. »Eleanors Ehemann.«

Ihre Augen weiten sich, als sie begreift. »Stimmt. Ich bin ihm nie begegnet. Glaube ich jedenfalls. Vielleicht war er mal hier, und ich wusste nicht, wer er ist, obwohl ich –« Sie verstummt, wird rot. »Nein. Nichts.«

Baz blickt jetzt richtig finster. Vom Flur her werden Geräusche lauter, und ich weiß, dass die Lehrveranstaltung zu Ende ist. Ich will nicht, dass Lorcan sieht, wie ich mit Nicole rede.

»Nicole, alles, was Sie wissen, könnte uns weiterhelfen.«

Sie blickt überrascht auf. »Aber ich weiß doch nichts …«

Ich hasse mich selbst dafür, dass ich das tue, aber ich lege meine Hand auf ihre, drücke sie leicht und bringe so viel Traurigkeit in meine Stimme, wie ich nur kann.

»Nicole, bitte. Sie müssen nicht aufs Präsidium kommen und eine förmliche Aussage machen, wenn Sie das nicht wollen, aber wir brauchen mehr Informationen, um Eleanors Tod aufzuklären.«

Sie blickt zu Boden. Das Geräusch nähert sich den Gang herauf, und die ersten Studenten kommen herein, bleiben vor der Theke stehen und schauen nach oben auf die Speisekarte. Lorcan Murphy wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Als Nicole aufblickt, stehen ihr Tränen in den Augen.

»Ich will meinen Job nicht verlieren.«

Baz richtet sich auf und macht zum ersten Mal den Mund auf. »Eine Frau hat ihr Leben verloren, Nicole. Helfen Sie uns, ihren Mörder zu finden.«

Eine Träne rollt über ihre Wange, und sie wischt sie mit der Fingerspitze weg. »Ich wollte sagen, ich glaube, dass Mr. Murphy und Dr. Costello was miteinander hatten.« Sie blickt auf, das Gesicht blass vor Panik. »Ich weiß es nicht genau. Aber es sah so aus, als würde er auf sie stehen, ich weiß nur nicht, ob es bei ihr auch so war.«

Ich bedeute Baz wortlos, nach Lorcan Murphy Ausschau zu halten. Er steht auf, geht zum Eingang der Cafeteria und passt auf, ob Murphy im Anmarsch ist. Ich widme meine Aufmerksamkeit wieder Nicole.

»Woher wissen Sie das? Haben Sie die beiden zusammen gesehen?«

Sie zieht die Nase hoch, schüttelt den Kopf. »Nein. Ich … wir haben uns geküsst, auf einer Party hier an der Uni. Wir sind ein paarmal ausgegangen, ins Kino und so. Nichts Ausgefallenes. Ich mag ihn. Mochte ihn. Sehr. Aber er hat sich nicht mehr gemeldet. Auf der Semesterabschlussfeier hab ich mir Mut angetrunken und ihn zur Rede gestellt. Er hat gesagt, es tue ihm leid, aber er sei in Eleanor verliebt, und es wäre mir gegenüber nicht fair, das mit mir weiterzuverfolgen.«

Sie atmet tief durch, nimmt die Schultern zurück, wischt sich mit dem Handrücken durchs Gesicht. »Wow. Ich hör mich ziemlich jämmerlich an, was?«

Ich drücke wieder ihre Hand. »Überhaupt nicht. Aber Sie wissen nicht mit Sicherheit, dass die beiden ein Verhältnis hatten?«

»Sie haben ein bisschen geflirtet, aber eigentlich hatte ich immer nur den Eindruck, dass er in sie verknallt war. Ich weiß nicht. Ich hab so was noch nie besonders gut einschätzen können.«

Baz winkt.

Ich seufze. »Da geht’s mir genau wie Ihnen.«

Baz nickt Richtung Flur, und ich stelle Nicoles Wasserglas auf einen Nebentisch.

Ich lächele sie ein letztes Mal an. »Ich glaube, Lorcan ist gleich da.«

Wieder wird ihr Gesicht blass, und sie springt auf, hastet nach vorne zur Theke.

Baz zeigt jetzt seine Dienstmarke und schüttelt jemandem die Hand. Sekunden später kommen sie beide auf mich zu.