Lorcan begrüßt mich mit Handschlag.
»Detective! Was für eine nette Überraschung. Ich hoffe, Sie sind mit den Ermittlungen in dem Mord an Eleanor weitergekommen.«
Ich halte seinen Blick eine Sekunde länger als normalerweise üblich. Es ist erstaunlich, wie schnell sich manch einer verunsichern lässt. Sein Lächeln erstirbt.
»Mr. Murphy –«
»Bitte, sagen Sie doch Lor –«
»Mr. Murphy«, falle ich ihm ins Wort. »Ich muss Sie leider bitten, mit aufs Präsidium zu kommen und eine Aussage zu machen.«
»Wie bitte?« Er sieht mich fragend an, sein Blick huscht zu Baz hinüber, dann zurück zu mir. »Ich kann nicht«, sagt er kategorisch.
»Es ist wichtig, dass Sie uns begleiten, Mr. Murphy.«
»Ich hab den ganzen Tag Lehrveranstaltungen.«
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und scrolle durch Eleanors alten Semesterterminplan. »Das ist seltsam. Ich dachte, Sie hätten jetzt frei oder zumindest keine Veranstaltungen mehr. Jedenfalls laut Vorlesungsverzeichnis.«
Ich halte ihm das Handy hin, sodass er die Einträge für heute sehen kann.
Er seufzt. »Ich gebe Tutorien. Mit einzelnen Studenten. Das mache ich immer gegen Semesterende, und die stehen nicht im Vorlesungsverzeichnis.« Er strafft die Schultern, als hätte er einen Entschluss gefasst. »Worum geht’s denn eigentlich? Ich meine, ich möchte Ihnen ja helfen, aber ich hab Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«
»Wir müssen über Ihre Beziehung zu Eleanor reden.« Ich lasse den Satz einen Moment wirken, lange genug, um zu sehen, dass sich seine Augen weiten, dann füge ich hinzu: »Wie war die Zusammenarbeit mit ihr, wie professionell war sie? Gab es Fehlzeiten? War sie freundlich?«
Er schluckt. »Aber das wissen Sie doch alles schon, oder falls nicht, bin ich gern bereit, jetzt mit Ihnen einen Kaffee zu trinken.«
Ich trete zur Seite. Lasse ihm Bewegungsraum. »Ich fürchte, wir müssen das alles nach Vorschrift machen. Ganz offiziell zu Protokoll nehmen. Sie sind wirklich einer unserer wichtigsten Zeugen, wenn es um Eleanors Persönlichkeit geht. Sie haben jahrelang als ihr Assistent gearbeitet, und sie hat noch dazu Ihre Dissertation betreut.«
Die Furchen in seiner Stirn glätten sich, er schließt kurz die Augen. Dann: »Okay.« Er tritt in den freien Raum, den ich ihm gelassen habe, und Baz ist sofort an seiner Seite, führt ihn durch die Gänge der Universität und hinaus in die frostige Dezemberluft.
Baz neigt den Kopf, massiert sich die Schläfen. Seine Knöchel sind rot und weiß marmoriert.
»Jetzt bleib mal locker«, sage ich.
»Murphy könnte Nicole das Leben richtig schwer machen. Sie könnte ihren Job verlieren. Du musst ihn dazu bringen, dass er es dir selbst erzählt. Wenn du ihn wegen seiner Beziehung zu Eleanor in die Mangel nimmst, wird ihm klar sein, dass die Info von Nicole kam.«
»Das wusste sie, als sie es mir erzählt hat.«
Er bläht die Backen auf. »Ach ja? Wirklich? Und keine Spur von schlechtem Gewissen? Menschen wie sie sind sinnlose Opfer in solchen Fällen. Sie hat ein Kind, verdammt noch mal.«
Ich schaue ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Meine Hände sind sauber. Ich arbeite in der Grauzone. Tu, was getan werden muss, ohne allzu großen Schaden anzurichten. Das ist meine Sorgfaltspflicht. Entweder wir spielen mit den miesen Karten, die wir haben, und verlieren, riskieren einen weiteren Mord, oder wir betrügen, um zu gewinnen, und schnappen das Arschloch. Ich weiß, womit ich nachts besser schlafen kann. Ein ungelöster Fall macht uns alle zu übernächtigten Zombies.
»Nicole Duarte hat gewusst, worum es mir ging. Schon als sie mich das erste Mal angesprochen hat, wollte sie mir dieses kleine pikante Detail über Murphy erzählen. Sie ist lieb, und sie meint es gut, aber sie ist auch nur ein Mensch. Gekränkt. Abgewiesen. Irgendwie will sie, dass Murphy in die Sache reingezogen wird.«
Er lässt die Arme sinken, legt den Kopf in den Nacken. »Herrje, das weißt du doch gar nicht. Wir sind nicht alle so emotional verkorkst wie du, Frankie.«
Ich knalle die Fallakte zu. Ich bin es satt, mir jedes Mal, wenn ich eine Entscheidung treffe, die sein zartes Gewissen quält, diesen Scheiß von ihm anzuhören.
»Detective, wir ermitteln in einem Mord. Für den Fall, dass du das vergessen hast, eine junge Frau, sogar ein paar Jahre jünger als du, wurde live im Internet abgeschlachtet, damit irgendwelche kranken Typen sich dabei einen runterholen können. Eine andere Frau wurde erhängt, und unser einziger Verdächtiger wurde in der Liffey gefunden, weggeschmissen wie ein kaputter Einkaufswagen. Wir sind hier nicht in Disneyland. Es gibt kein Happy End. Aber hin und wieder wird ein Geschenk, wenn das Wort nicht zu pervers ist, zurückgelassen, damit wir es auspacken. Wenn du darüber einfach hinwegsehen kannst, schön für dich. Aber lüg dich nicht selbst in die Tasche. Glaub ja nicht, dass du damit jemandem hilfst. Das tust du nämlich nicht.«
Ich klemme mir die Akte unter den Arm und will aus dem Büro gehen, doch Baz stellt sich mir in den Weg. Murphy wartet schwitzend hinten im Vernehmungsraum. Wir haben ihn erst vor zehn Minuten dorthin gebracht, aber zehn Minuten allein in einem Raum können sich anfühlen wie eine Stunde, und ich möchte, dass er zumindest am Anfang noch entspannt ist.
»Frankie, warte.« In Baz’ Stimme schwingt eine Entschuldigung mit. »Ich hab nicht gemeint –«
»Ist mir scheißegal, was du gemeint hast. Ich hab was zu erledigen. Wenn du mir dabei nicht helfen kannst, dann geh mir aus dem Weg.«
Ich dränge mich an ihm vorbei.
»Frankie!« Er will bei der Vernehmung dabei sein. Aber egoistischerweise ertrage ich den Gedanken nicht. Ich hab schon genug Teufel auf den Schultern hocken, da brauch ich nicht auch noch einen eins achtzig großen Engel des Gewissens, der über mich wacht.
»Ich habe immer noch nicht deinen Bericht über den Psychiater. Ich erwarte, dass er auf meinem Schreibtisch liegt, wenn ich zurückkomme«, verlange ich.
Lorcan Murphy weint. Dicke, rotzige Tränen, die von seiner Nase auf den Tisch tropfen. Er wischt sie hastig mit einem Ärmel weg.
»Entschuldigung, Detective«, stammelt er. »Diese ganze Scheiße macht mich irgendwie völlig fertig.«
Seine Wangen laufen rot an. Scham, weil er weint. Scham, weil er ein Mann ist und weint. Angst oder Trauer um seine Arbeitskollegin. Denn das war Eleanor, wie er beteuert. Ich habe ihm noch nicht gesagt, was Nicole erzählt hat. Zeugen und Verdächtige gleichermaßen werden am besten frisch ausgequetscht. Ich strecke die Hand aus, nehme sein Glas. »Ich hol Ihnen mal etwas Wasser.«
Er blickt auf, und ein weiterer Tropfen platscht auf den Tisch. »Danke.«
Im Beobachtungsraum reiche ich Steve das Glas, und er füllt es aus dem Wasserspender in der Ecke. Ich beobachte Murphy, der die Arme verschränkt.
Tom Quinn hatte Lorcan als einen Freund von Amy identifiziert. Er könnte dem Profil entsprechen. Er ist intelligent, hat einen gewissen schuljungenhaften Charme. Er ist im richtigen Alter. Lebt allein. Die Art, wie er sich präsentiert, ist irgendwie unvollständig. Er wischt sich die Tränen vom Gesicht. Legt den Kopf nach hinten, schnieft. Könnte alles gespielt sein. Er kann sich denken, dass ich ihn beobachte.
Er dreht sich um, lässt den Blick durch den Raum wandern, registriert die Kamera oben an der Wand, über seiner rechten Schulter. Für einen Moment wirkt er erschrocken, überrascht. So reagieren die meisten Menschen, wenn sie merken, dass sie beobachtet werden, als Nächstes blicken sie dann zu dem verspiegelten Fenster, hinter dem ich stehe. Und wie aufs Stichwort wendet Lorcan Murphy den Kopf und sieht mir schuldbewusst in die Augen.
»Und?«, fragt Steve. »Was denken Sie?«
Ich seufze. »Er ist ein starkes Vielleicht. Falls das, was Nicole Duarte gesagt hat, stimmt, hat er uns praktisch angelogen.«
»Ich finde, er wirkt irgendwie suspekt.«
»Das ist es ja gerade. Wer auch immer unser Täter ist, er würde nicht offensichtlich suspekt wirken. Er wäre ruhig. Beherrscht. Er würde die Aufmerksamkeit ebenso genießen wie das Wissen, dass wir fast nichts gegen ihn in der Hand haben.«
»Unsinn! Ich halte nichts von diesem Quatsch. Er macht uns was vor. Sehen Sie ihn sich an.«
Ich tue wie geheißen. Murphy hat den Kopf auf die Arme gelegt. Versteckt sich.
Ich wende mich vom Fenster ab. Nehme Steve das Glas aus der Hand. »Hat Baz sich blicken lassen?«
»Er hat gesagt, er müsste einen Bericht schreiben.«
Ich kann mir ein dünnes Lächeln nicht verkneifen. »Stimmt.«
Als ich den Vernehmungsraum erneut betrete, meide ich Murphys Blick. Ich setze mich ihm gegenüber hin und schiebe das Glas Wasser über den Tisch. »Geht’s wieder?«
Er trinkt einen kräftigen Schluck, nickt dann. Ich drücke den Aufnahmeknopf, und die Kassette setzt sich in Bewegung.
»Schildern Sie bitte Ihre Beziehung zu Eleanor.«
»Beziehung?«
Ich gönne ihm ein schwaches Lächeln. »Ja. Wann haben Sie sich kennengelernt und so weiter.«
Ich starre auf seine Hände. »Ach so, okay. Wir kannten uns schon eine Weile, bevor ich angefangen hab, für sie zu arbeiten.« Er blickt auf, wird lockerer. »Sie hat auf irgendeiner Benefizveranstaltung eine Rede gehalten. Großkonzerne aufgefordert, Geld lockerzumachen, um ländliche Gegenden in Indien mit Medikamenten zu versorgen. Sie schien keine Angst zu kennen.
Hinterher an der Bar hat mein Studienleiter uns miteinander bekannt gemacht. Von Nahem war sie ziemlich furchterregend. Ich meine natürlich nicht körperlich. Sie war eine sehr attraktive Frau. Ich meine, dass sie so selbstsicher wirkte, so souverän, dass sie ziemlich forsch rüberkam.« Er lacht. »Als ich sie dann näher kennenlernte, wurde mir klar, dass das bloß eines ihrer vielen Gesichter war. Im Beruf hatte sie diese strenge Fassade, aber wer sie besser kannte, bekam hin und wieder auch ihren Humor mit.«
»Humor?«
»Ja. Sie hatte einen herrlichen Humor. Er war nie offensichtlich oder frivol. Ich würde ihn als verschmitzt beschreiben, und er war gerade deshalb so köstlich, weil man ihn nur mitbekam, wenn man sie gut genug kannte. Sie war eine Meisterin des Hintersinns, und ihre subtilen Anspielungen hätte sogar ein Pastor in seine Predigt einbauen können, ohne dass die Gemeinde sie mitbekommen hätte.«
Vor meinem geistigen Auge läuft Eleanor von mir weg, das Gesicht seitlich ins Sonnenlicht gedreht. Die Mundwinkel zu einem lautlosen Lachen verzogen.
Er blickt mich an. »Sie sehen ihr ähnlich, wissen Sie? Ein bisschen.«
Ein bisschen. Soll heißen, ich bin nicht ganz so schön. Obwohl Eleanor, als sie aufgefunden wurde, natürlich nicht mehr so schön war wie zu Lebzeiten, bevor jemand sie ins Jenseits beförderte. Erhängen ist kein Tod, der gutes Aussehen bewahrt.
Ich lege den Kopf schief. »Und dann haben Sie wie lange für sie gearbeitet?«
»Fast vier Jahre.«
»Worüber schreiben Sie Ihre Doktorarbeit?«
Der jähe Themenwechsel lässt ihn kurz stutzen. »Laienhaft ausgedrückt, über den Einsatz von Staphylococcus aureus gegen Tumorzellen durch Manipulation der Temperatur.«
Ich runzele die Stirn. »Sie heilen Krebs?«
Er wird verlegen. Ein zartes Rosa steigt ihm ins Gesicht bis hinauf zu den Ohrspitzen. »Wohl kaum. Es hört sich revolutionärer an, als es ist. In Wirklichkeit ist jede wissenschaftliche Arbeit grob und schwerfällig. Derzeit impfe ich Petrischalen mit Staphylokokken und beobachte, wie sie bei unterschiedlichen Temperaturen und in unterschiedlichen Umgebungen reagieren.«
»Umgebungen?«
Er zuckt die Achseln und breitet die Hände aus. »Wenn sie mit Blut, Licht, Pigmenten in Kontakt kommen. Ob Sie’s glauben oder nicht, selbst nach so vielen Jahren stehen wir noch am Anfang.«
Ich versuche, bei dem Wort »Pigmente« nicht zusammenzuzucken. »Und?«
Er seufzt. »Es ist ein langwieriger Prozess. Anscheinend wachsen die Staphylokokken unter jeglichen Bedingungen ungehemmt.«
»Nicht gut?«
»Prinzipiell nein. Ungehemmt nehmen die Staphylokokken überhand und können für immunsupprimierte Organismen tödlich sein. Daher ist das derzeit nicht gerade die beste Methode, einen Tumor zu behandeln. Nach Möglichkeit sollten Patienten am Ende der Behandlung ja noch leben. Wir brauchen Kontrolle, Sichtbarkeit und Aggression.« Entschlossenheit spiegelt sich in seinem Gesicht. »Eine Armee ist nutzlos, wenn wir sie nicht dirigieren und in die richtige Richtung schicken können.«
»Und deshalb brauchen Sie die Pigmente, um beobachten zu können, in welche Richtung Ihre Armee marschiert?«
Er nickt. »Ganz genau.«
»Wie bringen Sie ein Pigment dazu, die richtigen Bereiche einzufärben? Gelangt es nicht einfach in den Blutkreislauf und verteilt sich überall?«
Er hebt einen Finger. »Wir verwenden ein Pigment, von dem wir wissen, dass es von Zellen aufgenommen wird, die Strahlung ausgesetzt waren. Damit haben wir eine Substanz, die an den behandelten Bereichen anhaftet. Zumindest eine gewisse Zeit lang.«
»Sehr beeindruckend. Wer hätte gedacht, dass ein einfaches Pigment so etwas leisten kann?«
»Preußischblau. Ist schon sehr lange bei Malern beliebt.«
Ich beuge mich näher zu ihm, lasse aber das Pigment-Thema fallen. »Erklären Sie mir bitte, wie die Betreuung einer Doktorarbeit so abläuft. Ich schätze, da gibt es keine strengen Regeln.«
»Ich schreibe und forsche. Sie liest, macht Vorschläge, gibt Anregungen zu Struktur, Bibliografie und Sprache. Allerdings hat sie es nicht leicht mit mir. Ich lasse mich zu oft von der Forschung ablenken. Dann bringt sie mich wieder auf Kurs.«
»Brachte«, verbessere ich.
»Sorry«, sagt er leise.
»Im Laufe der Jahre ist es bei Ihnen beiden doch bestimmt auch öfter mal spät geworden. Wenn sie zusammen im Büro hockten und ein Aufsatz oder ein Vortrag oder so fertig werden musste.«
Er blickt auf. »Nein. Meine Güte. Hätte ich mir manchmal gewünscht. Aber Eleanor ist immer pünktlich nach Hause. Immer. Punkt fünf Uhr packte sie ihre Sachen und machte, dass sie zurück nach Bray kam.«
»Sie haben nie …?«
Er sieht mir in die Augen. »Nie was?« Dann begreift er, was ich meine.
»Sie hatten keine Affäre?«
»Nein.« Mit Nachdruck.
»Ich frage das nur, um mir ein umfassendes Bild zu machen, Mr. Murphy. Haben Sie Eleanor Costello je geküsst?«
»Nein.« Seine Hände zucken unter dem Tisch, wie mir die Bewegung seiner Schultern verrät.
»Hätten Sie es gern mal getan?«
Für einen kurzen Moment blickt er wirklich gequält. »Gott verzeih mir. Ja.«
Ich unterdrücke ein Lächeln, kaschiere meinen Triumph, dann: »Das muss sehr schwer für Sie gewesen sein.«
Feine, helle Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Inwiefern?«
»Mit ihr zusammenzuarbeiten«, ich stocke, verwende seine eigenen Worte, »mit so einer attraktiven Frau, und nicht in der Lage zu sein, diesem Verlangen nachzugeben.«
Seine Nasenflügel weiten sich. »So war das nicht.«
»Ach nein?«
»Nein.«
»Wie war es dann? Haben Sie’s versucht? Hat sie Sie zurückgewiesen? Das muss sehr schmerzlich gewesen sein, Lorcan.« Ich spreche seinen Vornamen leise aus, sanft.
Er weicht zurück. »Sie war verheiratet«, sagt er. Wütend.
Ich halte seinen Blick fest. »Ja«, sage ich. »Ja, das war sie.«
Ich lasse ihm etwas Zeit, sich zu sammeln, einen Schluck Wasser zu trinken. Er wischt sich mit den Fingerspitzen über den Mund. Auf seinen blassen Wangen zeichnen sich jetzt rosa Flecken ab. Ich nehme den Druck raus. Ich will ihn nicht zu sehr bedrängen. Niemand will in die Sackgasse einer Kein-Kommentar-Vernehmung geraten.
»Kommen wir noch mal auf Ihre Forschung zurück. Dieses von Ihnen verwendete Pigment, in welcher Form setzen Sie das ein?«
Er wartet einige Sekunden, ehe er antwortet. Er ist misstrauisch, überlegt, in welche Ecke ich ihn jetzt drängen will.
»In flüssiger Form«, sagt er. »Aber wir stellen es aus Pulver her.«
»Dieses Pigment, Preußischblau, wird auch als Gegenmittel bei Thallium-Vergiftungen verwendet. Wussten Sie das?«
Er richtet sich auf seinem Stuhl auf, schaut sich um. Ich habe ihn überrascht. »Was hat das mit Eleanor zu tun?«
»Das Pigment, mit dem Sie arbeiten, wurde an den Mordopfern Eleanor Costello und Amy Keegan gefunden, und in Peter Costellos Blut befand sich Thallium. Können Sie mir dazu irgendwas sagen?«
Sein Mund ist weit offen. Er stottert. Springt auf, streckt die Hand aus und droht mir mit dem Finger.
»Ich weiß, was Sie hier versuchen. Weil Peter als Verdächtiger nicht mehr infrage kommt, wollen Sie es mir in die Schuhe schieben. Ich hab das nicht getan. Ich hab Eleanor nicht getötet und Peter auch nicht.«
»Beruhigen Sie sich, Mr. Murphy. Ich stelle Ihnen eine einfache Frage. Können Sie sich erklären, wie Preußischblau, ein Pigment, mit dem Sie fast täglich arbeiten, an die Leiche von Eleanor Costello kam?«
»Nein.« Er geht zur Tür. »Das muss ich mir nicht bieten lassen. Ich wollte Ihnen helfen, aber das muss ich mir nicht bieten lassen. Lassen Sie mich gehen.«
Ich stehe langsam auf, ziehe meinen Blazer gerade und mache einen Schritt auf ihn zu. Er weicht von der Tür zurück wie ein verängstigtes Tier, aber in seinen Augen lodert der Hass. Ich öffne die Tür, strecke ihm die Hand entgegen.
»Helen braucht dann noch eine Unterschrift von Ihnen. Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Mr. Murphy.«
Er geht davon, ohne mir die Hand zu schütteln, und ich kann das Lächeln nicht unterdrücken, das an meinen Mundwinkeln zupft.
Gleich darauf kommt Steve aus dem Beobachtungsraum.
»Wieso haben Sie ihn gehen lassen?«
»Weil die Beweislage nicht ausreicht, um ihn festzuhalten. Helen wird ihn beschatten lassen. Wollen mal sehen, ob er versucht abzuhauen.«
Steve fährt mit einer Hand durch sein kupferrotes Haar. »Gott, wenn er abhaut, hätten Sie sicher Spaß daran, was? Wieder ein Verschwundener mehr, den Sie suchen können.«
Ich sehe ihm in die Augen. »Meiner Erfahrung nach tauchen sie nur unter, wenn sie was zu verbergen haben.«
Lorcan Murphys nächster Schachzug wird am nächsten Morgen deutlich. Clancy kommt in mein Büro gestürmt und klatscht mir den Dublin Herald auf den Schreibtisch.
»Diese verdammte Ratte«, sagt er.
Die Schlagzeile lautet: Mord in Blau. Ein ganzer Artikel erläutert das Pigment Preußischblau, seine bewegte Geschichte, die düsteren und positiven Verwendungsmöglichkeiten und liefert obendrein eine erneute Beschreibung unserer Fälle. Der Verfasser geht ausführlich auf das Thema Thallium ein und versetzt seine Leser zurück in die Zeit, als das Schwermetall eingesetzt wurde, um lautlos zu töten.
»Murphy«, flüstere ich. »Er hat geplaudert.«
»Dieser verdammte Klugscheißer. Aber der Arsch hält sich für klüger, als er ist.«
»Er war gestern ziemlich sauer, als er ging. Damit zeigt er uns den Stinkefinger.« Ich überfliege den Artikel. Er beschreibt kurz, wie unsere Opfer den Tod fanden und dass Thallium in Costellos Leiche gefunden wurde. Unerwähnt bleibt, wo das Pigment an Eleanor oder Amy gefunden wurde, aber in einem Punkt widerlegt Lorcan Murphy sozusagen selbst seine Unschuldsbehauptung.
»Hier«, sage ich und zeige auf die Stelle. »Genau das haben wir uns gewünscht. Ich hab ihm nämlich nicht erzählt, dass Eleanor das Pigment zu sich genommen hat. Damit hat er sich verraten.«
Clancy schaut mir über die Schulter. »Tja, jetzt kann er sich seinen Stinkefinger sonst wo hinstecken. Wie schon gesagt, Frankie. Der Mistkerl könnte mir fast leidtun. Wirst du ihn festnehmen?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein. Soll er ruhig glauben, dass er diesmal davongekommen ist. Ich hab das Gefühl, dass wir mehr von ihm erfahren, wenn er frei rumläuft, als wenn er im Vernehmungsraum sitzt. Wenn wir ihn festnehmen, müssen wir wirklich jeden Zweifel ausgeräumt haben.«
Zu dem Artikel ist das Foto von Eleanor und Peter an ihrem Hochzeitstag abgedruckt. Weiche blonde Haare akkurat kinnlang geschnitten, die Strenge der Frisur durch einen kleinen Pony gemildert, der locker in die Stirn fällt. Rosaroter Lippenstift, die sanfte Andeutung von Rouge auf den Wangenknochen. Auf dem Foto lehnt sich Eleanor gegen die rechte Seite ihres Mannes. Sie halten sich an den Händen, die zwischen ihren Hüften eingeklemmt sind. In der rechten Hand hält Eleanor einen kleinen Brautstrauß aus weißen Rosen. Ich stelle mir vor, dass in jeder Blüte eine Perlennadel steckt.
Peter ist der klassische gut aussehende dunkle Typ. Mit ihren hohen Absätzen ist sie ein bisschen größer als er. Sie stehen einander halb zugewandt, und sie sieht ihm in die Augen. Sein Haar ist voll, pechschwarze Wellen, der Haaransatz fast genau wie bei seiner Schwester. Sein linkes Bein ist gestreckt, die Fußspitze in der Luft, als ob er gerade einen Schritt hätte machen wollen und für das Foto zurückgezogen worden wäre. Sein argloses Gesicht zeigt ein verlegenes kleines Lächeln. Eleanors ist dagegen theatralisch: Sie strahlt übers ganze Gesicht.