KAPITEL 21

Der Blick meines Bruders ruht unverwandt auf mir, als ich in den Zeugenstand trete. Seine Augen sind zwei kleine besorgte Punkte. Sein Mund ist verkniffen; fast strafend. Er ist wütend. Möglicherweise auf mich. Die Hand meiner Mutter ruht tröstend auf seiner.

Abigail hält Wort. Sie hat nur eine Stunde gebraucht, um die Proben von Tracy Wards Fingernägeln zu finden und die Farbe darunter zu analysieren. Erste Tests haben ergeben, dass das Pigment eisenbasiert ist, eine ähnliche Zusammensetzung hat wie das Blau an den Leichen von Costello und Keegan. Die Information hat sich in meinem Kopf festgesetzt wie eine Zecke, und ich würde am liebsten aus dem Gerichtssaal flüchten. Das heißt nicht, dass er unschuldig ist. Er hat mich angegriffen. In Notwehr? Ich presse die Augen zusammen, atme tief ein. Clancy sitzt ganz hinten und blickt besorgt. Ob meinetwegen oder wegen des Falls, kann ich nicht sagen.

Ich lege die linke Hand auf die Bibel und hebe die rechte.

»Ich schwöre feierlich, dass ich nach bestem Wissen und Gewissen die reine Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit aussagen werde.«

Die Bibel wird weggenommen.

»Setzen Sie sich«, sagt die Richterin.

Ich schaue kurz zu Neary hinüber. Er ist groß, aber sehr dünn. Er ist im Hungerstreik, beteuert seine Unschuld. Vielleicht ein Versuch, Kontrolle auszuüben. Wäre typisch für einen Mörder. Wenn die Zeitungen seine ausgemergelte Gestalt ablichten, wird es nicht lange dauern, bis sich im kollektiven Bewusstsein Mitleid für ihn breitmacht. Er hält den Kopf gebeugt, aber aus meinem Blickwinkel kann ich den feuchten Schimmer auf seiner Stirn und über der Oberlippe sehen, das krampfhafte Schlucken, um einen vor Nervosität trockenen Hals zu befeuchten. Alles Anzeichen von Angst.

Ein warmer Schauer durchläuft mich. Ich reiße den Blick los, schaue nach vorne. Offenbar bin ich ins Schwanken geraten, denn die Stimme der Richterin reißt mich aus meinen Gedanken.

»Detective Sheehan. Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?«

Schluck. Ich schüttele den Kopf. »Nein, danke, Euer Ehren.«

Sie hebt eine Augenbraue. »Nun denn.«

Sie schaut zur Anklagevertretung hinüber, für die ich die Hauptzeugin bin. Ich weiß, dass praktisch nur meine Aussage zwischen der Freiheit für Neary und der Gerechtigkeit für Ward steht.

»Ihre Zeugin, Mr. Tanner. Bitte halten Sie sich an die Vorgaben des Gerichts«, ermahnt sie ihn.

Mike Tanner steht von seinem Platz auf, den Blick noch immer auf seine Unterlagen gerichtet. Falls das überhaupt möglich ist, wirkt er noch angespannter als ich. Seltsamerweise hat seine offensichtliche Nervosität den Effekt, dass sie meine eigene lindert. Er bleibt vor mir stehen, eine Hand auf seinen Bauch gelegt.

Ich huste, löse den Kloß in meinem Hals.

»Detective Sheehan«, beginnt er. »Sie arbeiten schon sehr viele Jahre äußerst erfolgreich bei der Gardaí. Ist das richtig?«

»Ja.«

Er drückt sich die Fingerspitzen auf die Lippen, als wäre ihm speiübel. »Wären Sie so nett, uns ihren glanzvollen Werdegang zu schildern?«

Ich runzele die Stirn.

Er weicht meinem Blick aus, winkt aufmunternd.

Meine Atmung beschleunigt sich. »Ich habe in der Kriminaltechnik angefangen und mich allmählich hochgearbeitet, bis ich vor zwei Jahren zum Detective Chief Superintendent befördert wurde. Derzeit bin ich in der Abteilung für Kapitalverbrechen tätig. Mein unmittelbarer Vorgesetzter ist Assistant Commissioner Mr. Jack Clancy.«

Ich halte kurz inne. »Die Abteilung ist eine Sondereinheit für besonders schwere Straftaten.«

Endlich scheint Tanners Übelkeit abzuklingen. Er schluckt, nimmt Haltung an und bringt ein deutlicheres Lächeln in meine Richtung zustande.

»Sie verfügen also über sehr viel Berufserfahrung.« Er wirft einen Blick in seine Unterlagen. »Wissen Sie noch, wo Sie sich am Freitag, dem 4. Juni 2011, um zweiundzwanzig Uhr befanden?«

Ich versuche, die Gänsehaut zu ignorieren, die mir über die Arme wandert, die Hitze in den Achselhöhlen, das dumpfe Ziehen, wie Zahnschmerzen, von der Schläfe bis runter zum Hals.

»Ja.« Ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen. »Ich habe auf einen Notruf reagiert.«

»Einen Notruf?«

»Die Zentrale erhielt einen Notruf aus dem Haus von Tracy Ward.«

»Wurden Sie in Ihrem Büro von der Zentrale verständigt?«

»Nein. Ich war in meinem Auto, auf dem Rückweg von einer Besprechung mit meinem Vorgesetzten.«

»So spät?«

»Wir haben über einen Fall gesprochen. Einen versuchten Mord.«

»Würden Sie dem Gericht sagen, wer das Opfer dieses versuchten Mordes war?«

Sheridan, Nearys Verteidiger, ergreift das Wort. »Euer Ehren, ich sehe da keinen Zusammenhang mit dem hier verhandelten Fall. Mr. Neary steht nicht wegen dieser anderen Straftat vor Gericht, daher erhebe ich Einspruch gegen die Frage.«

Die Richterin schaut in ihre Notizen, mustert Tanner über ihre Brille hinweg. »Gibt’s einen Zusammenhang?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Na schön. Beantworten Sie die Frage, Detective Sheehan.«

»Bei der Besprechung ging es um den Angriff auf eine junge Frau namens Rachel Cummins.«

»Wen hat Ms. Cummins schließlich als ihren Angreifer identifiziert?«

»Nachdem wir Mr. Neary für den Mord an Tracy Ward festgenommen hatten, wurde er von Ms. Cummins als ihr Angreifer identifiziert.« Ich kann nicht aufsehen.

Tanner bedrängt mich. »Ist Mr. Neary heute hier im Saal?«

»Ja.«

»Würden Sie Mr. Neary für das Gericht identifizieren, Detective?«

Ich schließe kurz die Augen, hebe dann den Kopf und sehe ihn direkt an. »Er sitzt in der ersten Reihe, weißes Hemd, offener Kragen.«

»Fürs Protokoll, die Zeugin hat den Angeklagten, Mr. Neary, identifiziert.«

Die Richterin blafft: »Zur Kenntnis genommen.«

»Bei der Besprechung haben Sie einige interessante Feststellungen zu Ms. Cummins’ Verletzungen gemacht.«

Er reicht mir ein Blatt Papier. Es ist die Kopie eines Ausdrucks von meinem Computer mit genauen Angaben zu Ms. Cummins’ Verletzungen und einigen vagen Vermutungen zum Täterprofil, die auf ihrer Aussage beruhten.

»Würden Sie uns das bitte vorlesen, Detective?«

Ich räuspere mich, beuge mich näher zum Mikrofon und versuche, das Blatt möglichst ruhig zu halten.

»Ms. Cummins erlitt eine schwere Verletzung ihrer rechten Halsschlagader, die ohne das Eingreifen ihres Nachbarn zweifellos zum Tode geführt hätte. Der Täter hat sie von hinten angegriffen, ihr einen Schlag versetzt, der sie wehrlos machte, aber nicht dazu führte, dass sie völlig das Bewusstsein verlor.

Der Täter schleifte sie dann in ihr Schlafzimmer, wo er versuchte, ihre Arme am Bett festzubinden. Es gelang ihm, den linken Arm zu fesseln, doch dann kam Ms. Cummins wieder zu sich und begann zu schreien. Es kam zu einem Kampf, in dem er versuchte, ihr die Kehle durchzuschneiden. Sie konnte ihm zwar das Messer aus der Hand treten, doch da hatte er ihre Schlagader bereits verletzt.«

Ich unterbreche kurz, meine Wangen glühen. Ich konzentriere mich wieder und verlese weiter meine Einschätzung des Angriffs auf Rachel Cummins.

»Der Täter floh durchs Fenster, als er einen Nachbarn herbeieilen hörte. Meiner bisherigen Einschätzung nach ist der Angreifer ein kräftiger Mann mit ungewöhnlichen sexuellen Vorlieben, die durch die Überwältigung seiner Opfer noch verstärkt werden.

Die plumpe Ausführung der Tat legt die Vermutung nahe, dass es sich um seinen ersten Mordversuch handeln könnte. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird er sich über kurz oder lang ein neues Opfer suchen.« Das Blatt beginnt, in meiner Hand zu beben. »Beim nächsten Mal wird er besser planen. Mit dieser besseren Planung geht vermutlich eine größere Arroganz und Kontrolle einher. Das nächste Opfer könnte verstümmelt werden, bevor es schließlich getötet wird.«

Während ich lese, hat Tanner den Kopf gesenkt. Als ich fertig bin, nickt er. Dann liest er selbst noch einen Absatz aus meinen Fallnotizen zu Rachel Cummins vor.

»Des Weiteren stellen Sie fest, dass der Täter wahrscheinlich intelligent ist, mindestens einen durchschnittlichen IQ hat, dass er charmant ist, möglicherweise verheiratet, eine optimistische Ausstrahlung hat, dass er manipulativ ist und sich anscheinend sehr gut in die Regeln der Gesellschaft einfügt.«

»Ja. Das ist richtig.«

»Mr. Neary ist Rettungssanitäter, hat einen IQ von 98, scheint glücklich verheiratet zu sein und sitzt sogar im Vorstand seiner Kirche. Würden Sie sagen, dass er der Beschreibung entspricht?«

Sheridan springt auf. »Euer Ehren, es ist nicht Aufgabe der Zeugin, das zu entscheiden.«

»Beruhigen Sie sich, Mr. Sheridan.« Die Richterin funkelt Tanner drohend an. »Sie bewegen sich hier auf dünnem Eis. Ich habe keine Lust, mich zu wiederholen. Noch so ein Versuch, und Sie sind raus.«

»Verzeihung, Euer Ehren.«

Tanner geht zurück zu seinem Tisch. »Als Sie von dem Notruf aus Tracy Wards Haus erfuhren, was haben Sie da gemacht?«

Ich straffe die Schultern. Versuche, meine Nervosität unter Kontrolle zu bringen. Ich schaue zu Clancy hinüber, schöpfe Kraft aus seiner Präsenz. Ich darf Tracy Ward nicht im Stich lassen. Ein langes Seufzen, dann versetze ich mich zurück in jene Nacht.

»Ich habe die Meldung über Funk gehört. Wegen des Angriffs auf Ms. Cummins waren wir ohnehin schon in Alarmbereitschaft, und ich hatte die Vermutung, dass der Täter es erneut versuchen würde. Gleich nach der Funkdurchsage rief ich in der Zentrale an. Man nannte mir die Adresse und sagte, dass die Telefonverbindung mit der Frau unterbrochen worden war. Ich antwortete dem diensthabenden Kollegen, ich würde hinfahren und er solle mein Team informieren. Die Wohnung lag in einer kleinen Sackgasse in Drumcondra.

Als ich vor Ort eintraf, war im Haus alles dunkel, und ich dachte schon, ich hätte die falsche Anschrift. Ich wollte gerade aus dem Auto steigen, da rief Assistant Commissioner Jack Clancy an und sagte, ich solle nicht allein hineingehen, sondern auf Verstärkung warten. Ich antwortete, ich würde warten, doch dann hörte ich einen Schrei, der offenbar aus dem Haus kam. Er klang bedrohlich. Ich stieg aus und ging zur Vordertür, aber sie war verschlossen. Die Hintertür war zu, aber nicht abgeschlossen.

Ich gelangte in einen Flur, an dessen anderem Ende die Haustür war. Ich sah niemanden, nahm aber den Geruch von Blut wahr. Weiter vorne auf der rechten Seite war eine offene Tür, und ich schlich mich den Flur entlang. Ich wusste, dass in dem Raum wahrscheinlich jemand schwer verletzt war.

Durch die offene Tür wehte ein starker Luftzug, und als ich um die Ecke spähte, sah ich, dass das Fenster weit offen stand. Ich vermutete, dass der Angreifer geflohen war, doch als ich in das Zimmer trat, stürzte sich eine dunkle Gestalt mit einem Messer auf mich. Ich wollte zur Haustür fliehen, stolperte aber und fiel hin. Als ich nach oben schaute, sah ich Ivan Nearys Gesicht. Das Messer war in seiner Hand. Er traf mich erst am Halsansatz und dann an der Schläfe. Kurz bevor ich das Bewusstsein verlor, sind Jack Clancy, Detective Baz Harwood und ein Streifenpolizist eingetroffen. Bei Tracy Ward konnte nur noch der Tod festgestellt werden. Mr. Neary wurde festgenommen.«

Ein dumpfes Pochen setzt in meinen Ohren ein. Die Richterin klopft mit ihrem Stift auf die Unterlagen vor ihr. Jedes Mal, wenn die Spitze auf das Papier trifft, hallt das Geräusch durch meinen Kopf. Eine Frau beugt sich vor, hustet in ihre Hand, jemand rutscht auf seinem Platz hin und her, ein Scheuern von Jeansstoff, das langsame Einatmen warmer Luft durch einen gähnenden Mund.

»Detective?« Tanner schaut mich an.

Ich bohre mir die Fingernägel in die Handflächen, spüre den stechenden Schmerz. »Verzeihung.«

Tanner nickt. »Vielen Dank, Detective.« Dann wendet er sich der Richterin zu. »Keine weiteren Fragen, Euer Ehren.«

Ich studiere meine geballten Fäuste, versuche, die Fassung zurückzugewinnen. Als ich aufschaue, sehe ich, dass mein Bruder Justin mich beobachtet.

Er wirkt noch besorgter als zuvor, und ich wundere mich einen Moment lang darüber, bis ich sehe, dass der Verteidiger seine Notizen zusammensucht. Ich bin noch nicht fertig. Das war erst die Aufwärmphase.

Tanner kehrt zu seinem Platz zurück.

Die Richterin macht sich einen Vermerk und spricht dann den Verteidiger an. »Ihre Zeugin, Mr. Sheridan.«

Sheridan steht auf.

Ich versuche, nicht hinzusehen, nicht zu schauen, aber ich kann die Augen nicht von Ivan Neary losreißen. Er starrt mich mit einem flehenden Gesichtsausdruck an.

Sheridans Stimme holt mich zurück. »Detective, stimmt es, dass Sie allein in Tracy Wards Haus eingedrungen sind?«

»Ja«, antworte ich.

Ich kann den Luftzug spüren, der den Flur herunterweht, spüre ihn auf der Haut. Ein kühler Sommerwind, ungewöhnlich für Juni, der durch das offene Schlafzimmerfenster dringt. Das Geräusch meines Atems, nahe, vorsichtig, ein Arm erhoben, verteidigungsbereit.

»Detective?« Sheridan wartet.

»Verzeihung, könnten Sie die Frage wiederholen?«

»Gern.« Er lächelt. »Würden Sie bestätigen, dass zum Zeitpunkt des Angriffs auf Sie keine anderen Zeugen in der Nähe waren?«

Im Geist sehe ich Tracys Fingernägel, wie sie auf dem Foto aussahen, Farbe unter den Rändern verkrustet. Dann die kurze geradlinige Wunde in der weißen Haut von Eleanors Arm, die dunkle Höhle von Amy Keegans Mund. Mord in Blau, schrieben die Zeitungen.

Die Richterin beugt sich über ihren Tisch. »Detective, könnten Sie bitte die Frage beantworten?«

Ich lecke mir die Lippen. Clancy blickt mich mahnend an.

»Ja«, stammele ich. »Ich war die einzige Zeugin.«

Sheridan macht weiter. »Hätten Sie angegriffen, wenn Sie einem Mörder begegnet wären? Hätten Sie sich verteidigt?«

»Spekulativ!«, zischt Tanner.

Ich zucke auf meinem Stuhl zusammen, meine Hand knallt gegen das Geländer.

»Die Zeugin kann unmöglich vorhersagen, was sie in dieser Situation getan oder nicht getan hätte«, erklärt Tanner.

»Stattgegeben«, sagt die Richterin. »Mr. Sheridan, wir haben hier unsere Regeln. Halten Sie sich daran.«

»Ich bitte das Gericht um Verzeihung«, erwidert Sheridan glattzüngig, aber seine Frage hat schon gewirkt, hat sich mit den Zweifeln in meinem Kopf verbündet.

Ich hätte angegriffen. Ohne jeden Zweifel.

»Ist es richtig, dass Sie kurz nach dem Angriff auf Sie das Bewusstsein verloren?«

»Erst als mein Team eintraf.«

Er lächelt. »Ach ja, Ihr Team.« Er sieht mir in die Augen. »Hat Ihr Team die Festnahme vorgenommen?«

Das Messer trifft auf meinen Schädel, ich höre das wilde Stöhnen in Nearys Atem, als er zuschlägt, ein Schrei – aus Wut oder aus Angst? Der Geruch nach Blut, so viel Blut, das warme Rinnsal an meinem Hals, das zähe Tröpfeln von meinen Fingern. Kein Schmerz, eine seltsame Taubheit, Schwere in meinem Arm, ein dumpfes Pochen im Hals, im Kopf, und dann falle ich. Nearys Gesicht über mir, das Messer in seiner Hand zittert.

»Detective, fühlen Sie sich nicht gut?« Die Richterin durchbricht meine Erinnerung. »Brauchen Sie eine Pause?«

Ich schrecke kurz zusammen. »Danke, es geht schon.«

Sheridan nickt. Öffnet den Mund, schließt ihn wieder. Er schielt kurz zur Richterin hinüber, dann:

»Detective, angesichts Ihrer Erfahrung mit Mordermittlungen, sind Sie der Meinung, dass Tracy Wards Mörder sich in dem Haus befand, als Sie von Ivan Neary angegriffen wurden?«

Tanner steht auf. »Spekulativ!«

»Mr. Sheridan, letzte Warnung«, entgegnet die Richterin.

Aber ich höre meine Stimme. Leise, brüchig, aber sicher: »Nein.«

Tanner ist stinksauer. Er stürmt die Stufen vor dem Gericht hinunter, wohl wissend, dass ich ihm wegen des Tsunamis aus Journalisten und Paparazzi nicht nach draußen folgen kann. Die Presse wartet auf seine Stellungnahme. Ivan Neary wird mindestens über Nacht in Gewahrsam bleiben.

»Das ist ein Shitstorm.« Baz tigert im Vorraum des Gerichtssaals auf und ab. Er starrt auf sein Handy, auf Abigails abschließende Analyse des Pigments unter Tracys Nägeln. Preußischblau.

»Nicht so laut«, zischele ich.

Ein Journalist kommt aus dem Flur, der zu den Toiletten führt. Er durchquert den Vorraum und verschwindet, ohne sich auch nur einmal umzuschauen.

»Sorry«, murmelt Baz. »Machen wir, dass wir wegkommen.«

Er dreht sich auf dem Absatz um und fegt durch den Hinterausgang des Gebäudes nach draußen, wo Clancy im Wagen wartet. Die Ausfahrt zur Straße ist abgesperrt, um die Presse daran zu hindern, Zeugen zu belagern, Schuldige und Unschuldige gleichermaßen.

Baz und ich wollen beide nicht auf den Beifahrersitz und nehmen lieber auf der Rückbank Platz. Clancy sagt nichts dazu. Er fährt mit quietschenden Reifen los und bremst jäh, als er die Absperrung erreicht.

Sofort werden Kameras über die Windschutzscheibe gereckt. Ich lehne mich nach vorne gegen die Kopfstütze, um die aufdringlichen Schnappschüsse zu vermeiden.

»Tja, Frankie, da hast du uns richtig schön in die Scheiße geritten«, bellt Clancy. Er klingt ähnlich frustriert wie Baz.

Ich schüttele den Kopf. »Ich hatte keine Zeit, es dir zu sagen. Als ich Abigails Nachricht bekam, warst du schon reingegangen.«

»Kleiner Tipp vom Profi für dich: Wie wär’s, wenn du dein Team darüber auf dem Laufenden hältst, was in deinem Schädel so vor sich geht. Du hast die Tests angeordnet.«

Er schielt zu Baz hinüber.

»Guck mich nicht so an. Ich hatte keine Ahnung«, ruft Baz. »Ich hab in den letzten Wochen kaum mal Zeit gehabt, was zu essen oder zum Klo zu gehen, weil ich nämlich mit den aktuellen Fällen schon genug zu tun hab. Da muss ich nicht noch welche von gestern ausgraben.«

»Die Tests sind nicht eindeutig«, sage ich. »Aber wir können die Verbindung zwischen den Fällen nicht ignorieren, wir können nicht zulassen, dass ein Mann für eine Tat verurteilt wird, die er vielleicht gar nicht begangen hat.«

Clancy fährt im Zickzack durch den Verkehr, bremst und hupt abwechselnd, um sich durch das Dubliner Gedränge zu kämpfen.

»Jetzt kriegen wir das Schwein ganz sicher nicht mehr dran. Das war’s. Unschuldig oder nicht. Wir würden vor Gericht ausgelacht.«

Ich blicke aus dem Fenster. Möchte mich in Luft auflösen.

Clancy ist noch nicht fertig. »Er ist mit dem Messer auf dich los, Frankie. Warum würde ein Unschuldiger eine Polizistin an einem Tatort angreifen? Mit der Mordwaffe noch dazu. Fasern von seiner Kleidung wurden reichlich auf Tracy Wards Leiche gefunden. Fingerabdrücke! Überall. Ganz zu schweigen von der Identifizierung durch Rachel Cummins.«

»Ich glaub nicht, dass überall Fingerabdrücke waren«, sagt Baz halblaut.

»Cummins hat ihn anhand eines digitalen Fotos identifiziert. Sie war aufgewühlt. Wollte unbedingt, dass er der Schuldige ist«, schiebe ich nach.

Clancy öffnet das Fahrerfenster einen Spalt, klemmt sich eine Zigarette zwischen die Lippen, zündet sie an.

»Verdammte Sauerei«, sagt er. Er fängt meinen Blick im Rückspiegel auf, sieht mich absolut frustriert an. »Als Detective bist du großartig, Frankie, aber du hast ein verdammt beschissenes Timing.«

Ich wende mich ab, schaue wieder aus dem Fenster. Meine Stimme klingt weit weg, als ich antworte.

»Das ist das Problem.«