Ich drücke die Taste, und das Laufband wird langsamer, hält dann an. Mein Bein pocht, die Verletzung widersetzt sich der Reha-Maßnahme, und ich bleibe einen Moment stehen, bis der dumpfe Schmerz nachlässt. Der Bonsai ist mir zur Arbeit gefolgt. Ich habe beschlossen, dass ihm das schattige Büro besser liegt als die wechselnden Lichtverhältnisse in meiner Wohnung. Das Blattwerk ist zwar spärlich, aber frisch und grün, und an den Zweigen sprießen neue Triebe, was beweist, dass dem Bäumchen das Schreibtischleben gut bekommt oder dass Steve, Zeuge meiner nachlässigen Pflege, sich hinter meinem Rücken seiner angenommen hat.
Es klopft leise an der Tür, und ich blicke zum Fenster. Der Himmel wird dunkel. Ich stelle mir Burke in seiner Zelle vor, wie er auf sein Stück Himmel schaut. Die Geräusche der Stadt dringen herein, und nur der Klang seiner Schuld hallt zurück. Schweiß läuft mir über den Rücken, tränkt meine Bluse. Ich lehne mich einen Moment gegen den Schreibtisch, um zu verschnaufen.
»Herein«, rufe ich.
Baz tritt ein. »Alles in Ordnung, Sheehan?«
Ich lächele, nehme die Fallakte, reiche sie ihm.
»Mir geht’s bestens.«
Und das stimmt. Frankenstein wird von weniger Nähten zusammengehalten als ich, aber ich habe zum ersten Mal seit Monaten meinen Frieden gefunden. Meine gebrochene Schulter wird heilen, mein Bein wird heilen. Die Narbe an meiner Wange ist flach und schrumpft bereits zu einer dünnen Linie.
»Bist du sicher, du kriegst das auf die Reihe?«
»Ja. Das bin ich ihnen schuldig. Peter. Amy. Tracy. Rachel. Und in gewisser Weise auch Eleanor.«
Burkes Geständnis war unvollständig. Es gibt Geheimnisse, die behält ein Mörder lieber für sich. Es steht nicht zu erwarten, dass Burke reinen Tisch machen wird, aber das, was er gestanden hat, genügt. Preußischblau wurde als Erstes von Eleanor benutzt, Burkes langjähriger Geliebten und Patientin.
Eleanor hat das Pigment als Gegenmittel für den Fall einer Vergiftung mit Thallium benutzt, doch schon bald waren sie beide völlig fasziniert von der Farbe. Sie wurde für sie zum obsessiven Trigger, zum Symbol der Raffinesse, mit der sie Peter beherrschten. Wenn ich an die Farbe denke, verzieht sich mir unwillkürlich der Mund. Durch die Verwendung von Preußischblau verhöhnten sie Peter Costello. Verhöhnten sie seine Liebe zur Kunst und seine Begeisterung für Chagall.
Eleanor wurde ein Opfer des Monsters, das sie selbst mit erschaffen hatte. Fotos, die in Burkes Haus gefunden wurden, zeichnen den Verlauf ihrer destruktiven Beziehung nach. Die beiden als Teenager: Burke, groß und knochig hinter Eleanor stehend, die Arme fest um ihre Schultern geschlungen, Eleanors Körper an seine Brust gedrückt. Lächelnd. Immer lächelnd. Später dann: Eleanor in der Küche des Hauses ihrer Tante, Ehering locker am Finger, mit einem Glas Champagner in die Kamera prostend.
Eleanor war der Funke, der in Burke eine Feuersbrunst entzündete, und am Ende erstickte sie an seinem Verlangen nach absoluter Kontrolle. Die Black-Widow-Website war eine lukrative und spielerische Methode, mit potenziellen Lovern und, für Burke, potenziellen Opfern in Kontakt zu kommen. Amy testete ihre Fantasien auf der falschen Plattform aus.
Er will nicht über den Mord an Tracy oder seinen Angriff auf Rachel sprechen, weil beide nicht nach Plan liefen. Frühe Anfängerfehler, überstürzt und stümperhaft. Nicht die Kontrolle, auf die er aus war. Er glaubt, das sei wichtig. Und für ihn ist das auch so, aber jetzt haben wir sein Profil, seine DNA. Wir brauchen sein Geständnis nicht. Seine Vorgeschichte hinterlässt dreckige Fingerabdrücke auf allen seinen Verbrechen, und jetzt sind wir in der Lage, sie zurückzuverfolgen. Sobald wir seine Abdrücke hatten, konnten wir sie mit den Fingerabdrücken vergleichen, die wir auf Tracys Leiche und am Fenster gefunden hatten, und sie stimmten überein. Das Preußischblau unter Tracys Nägeln hatte er dort platziert. Es war sozusagen seine Visitenkarte. Eine bewusste Kennzeichnung aller seiner Opfer, selbst seiner Komplizin Eleanor Costello.
An dem Abend, als Burke mich angriff, erhielt Baz den Anruf, dass Nicole wieder zu Hause war. Sie hatte eine Atempause gebraucht, war ein paar Tage lang mit einer Freundin durch die Kneipen gezogen. Sie müsse manchmal Druck ablassen, sie habe allerhand zu schultern, hatte sie gesagt. Sie hatte meine Anrufe bewusst nicht angenommen, weil sie Angst hatte. Der Mord an Eleanor war ihr zu nahegegangen, und sie wollte einfach weg. Ich hätte sauer sein sollen, aber ich konnte nicht die Energie dazu aufbringen. So musste ich wenigstens nicht noch ein Opfer mit auf die Liste setzen.
Ich nehme die Krücke, klemme sie mir unter die unverletzte Schulter und humpele aus meinem Büro in den Soko-Raum. Am Whiteboard bleibe ich stehen und schaue mir den Verlauf unserer Ermittlungen an. Priscilla Fagan hat ihren Bruder einäschern lassen, vermutlich, um ihm ein gemeinsames Grab mit seiner sadistischen Frau zu ersparen. Das war nicht die Art von ewiger Ruhe, die sie ihrem eigen Fleisch und Blut wünschte.
Sie kam mich im Krankenhaus besuchen, mit versteinerter Miene und rot verweinten Augen. Sie legte einen steifen Blumenstrauß auf meinen Nachttisch und dankte mir dafür, dass ich Eleanors wahres Gesicht entlarvt hatte. Ihre letzten Worte an mich klangen fast wie eine Art Begnadigung. Wenigstens muss er jetzt nicht mehr ihre Spielchen ertragen.
Ich brauche eine Weile bis zum Auto. Baz hält mir die Beifahrertür auf, geht dann um den Wagen herum und setzt sich ans Steuer.
»Gewöhn dich bloß nicht an den Fahrersitz«, sage ich, während ich vorsichtig einsteige.
Er lächelt. »Würde mir nicht im Traum einfallen. Ich kenne dich nämlich, schon vergessen?«
»Träum weiter.«
»Weißt du, was? Ich hab den Scheiß hier nicht nötig. Ich lass mich versetzen. Vielleicht geh ich zur Ballistik«, sagt er und grinst dabei.
Ich schaue aus dem Fenster, unterdrücke ein Lächeln. »Da wärst du am besten aufgehoben.«
Den Rest der Fahrt schweigen wir.
Baz war als Erster bei mir. Er war rangegangen, als ich seine Nummer gewählt hatte. Kurz bevor ich das Handy in die Tasche steckte, kurz bevor ich die Treppe hinaufging. Er hörte, dass ich das Haus von Eleanors Tante erwähnte, und er wusste, dass ich da war. Hörte Burkes Erwiderung. Er beschrieb mir keine grausigen Bilder. Das war auch nicht nötig, ich sah ihm an den Augen an, welche Szene sich ihm geboten hatte.
Vor dem Gerichtsgebäude wartet die Presse. Wartet darauf, den Psychiater abzulichten, der seine Opfer gequält hat, der gern Messer sprechen ließ. Polizeiwagen fahren vor, schaffen Platz für den Van mit getönten Scheiben. Umdrängt von Polizisten und überschüttet mit Hassrufen, wird Burke vom Fahrzeug weggeführt, die Hände vor sich gefaltet, kalter Stahl um die Handgelenke. Die Beamten eskortieren ihn rasch weg von der neugierigen Öffentlichkeit und hinein ins Gebäude, wo ihm der Prozess gemacht werden wird.
»Du hast mir mal gesagt, es ginge ums Gewinnen. Um jeden Preis«, sagt Baz, die Augen fest auf die Tür des Gerichtsgebäudes gerichtet. »Ich glaube, damals hab ich das nicht verstanden.«
Er sieht mich an, lächelt. »Aber jetzt? Jetzt verstehe ich es.«
Ich beiße mir auf die Wange, schaue weg. Um jeden Preis? Lorcan Murphy hat überlebt. Jedenfalls, was von ihm übrig ist. Seine Milz musste entfernt werden, ein Nerv in seiner linken Hand ist dauerhaft geschädigt. Er ist weggezogen. Nach Cork oder Kerry. Irgendwo ins Landesinnere, wo er weiter an einer Uni lehren kann, ohne dass Eleanor Costello ihn auf Schritt und Tritt verfolgt. Ich habe ihn noch einmal besucht. Fahlgraues Gesicht, kein strahlendes Lächeln mehr, eine nervöse Angst in den Augen, die ich wiedererkannte. Es wird besser, sagte ich. Mir geht’s gut, antwortete er. Und dann war er fort, ein Schatten seiner selbst, aber ich konnte sehen, dass sich sein Schmerz an seinen Schultern festklammerte wie ein Kobold. Ich will nicht darüber nachdenken, wie hoch der Preis war.
Baz biegt ab und fährt in eine Seitenstraße. Clancy wartet am Hintereingang. Die übliche Visage, wie ein versohlter Hintern, eine Kippe locker zwischen den Lippen.
»Er sieht zufrieden aus«, sagt Baz.
»Regelrecht glücklich«, sage ich und muss unwillkürlich lächeln.
Ich steige aus dem Auto, und Clancy verzieht mitfühlend das Gesicht.
»Menschenskind, Sheehan. Das wird allmählich zur schlechten Gewohnheit.«
»Na, wenn sich zur Abwechslung mal einer von euch faulen Säcken so zurichten lassen könnte, würde ich mich nicht beschweren«, erwidere ich.
»Geschieht dir ganz recht, weil du so ein aggressives Weib bist.« Er schenkt mir ein seltenes Lächeln. »Das war verdammt knapp, Frankie. Zu knapp.«
Ich reibe mir den Oberschenkel.
»Das alles wird vergehen. Wird heilen.« Ich stütze mich auf die Krücke und schaue ihm in die Augen. »Und was heißt denn ›zu knapp‹? Ich bin schließlich immer noch da.«