Reinhard Tomm(1), der Leiter der Bundespolizeiinspektion Rosenheim, hatte schon am 20. Februar 2015 Alarm geschlagen: Im vergangenen Jahr 2014 habe man im südlichen Grenzbereich, für den seine Beamten zuständig waren, 9400 »unerlaubte Grenzübertritte« festgestellt, ließ Tomm in einer Pressemitteilung1 verkünden. »Das sind mehr als doppelt so viele wie 2013 und mehr als viermal so viele wie noch 2012.« Die Inspektion sei »extrem gefordert«, hieß es in der Erklärung. Zugleich ahnte der Chef der Rosenheimer Bundespolizei, dass das neue Jahr ihm und seinen Leuten keine Entspannung bringen würde: »Die Verkehrswege des deutsch-österreichischen Grenzraums werden weiterhin in außerordentlich hohem Maß von unerlaubten Einreisen und Schleusungen geprägt sein«, stellte der Polizeidirektor in nüchternem Beamtendeutsch fest.
Ein halbes Jahr später registrierten die Bundespolizisten allein in einem Monat mehr Ankünfte als im gesamten Vorjahr. 9600 Menschen kamen im August im Bereich der Rosenheimer Bundespolizeidirektion zwischen Chiemsee- und Zugspitzregion als Schutzsuchende über die deutsch-österreichische Grenze. Wenig später sollte sogar die Zahl derer, die an einzelnen Tagen im Süden Bayerns ankamen, noch darüber liegen. Anfang September waren es schätzungsweise 20 000 Menschen an einem einzigen Wochenende. Wie viele es genau waren, kann bis heute niemand sagen. Die Behörden hatten es auf dem Höhepunkt der Krise aufgegeben, die Ankommenden zu registrieren.
Irgendwo in diesen Monaten zwischen dem Beginn des Jahres und dem September 2015 soll der Moment liegen, an dem das Unrecht die Herrschaft übernommen habe, die rechtliche Ordnung in einen Zustand rechtswidriger Unordnung umschlug oder gar das Recht durch Handeln der Regierenden gebrochen wurde. Oder war es ein Nichthandeln, dass den Vorwurf des Rechtsbruchs begründet?
Die These, die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung habe gegen geltendes Recht verstoßen, oszilliert zwischen alledem. Mal ist es die Entscheidung der Kanzlerin(15), »die Grenzen zu öffnen«. Mal ist es ein angeblicher »Geheimbefehl« des Innenministers an die Bundespolizei, alle Asylbewerber ungeprüft ins Land zu lassen. Die einen sehen in der Weigerung, Schutzsuchende an den Grenzen notfalls auch mit Gewalt zurückzuweisen, einen Verstoß gegen rechtliche Normen. Andere wiederum meinen, bloßes Nichtstun der Regierung habe das Recht in einem schleichenden Prozess aufgeweicht und schließlich zum offenen Rechtsbruch geführt. Manche schließlich betrachteten erschrocken die Unordnung, die an den Grenzen ihres ansonsten so ordentlichen Landes eingekehrt war und fanden, was nicht in Ordnung sei, könne auch nicht rechtens sein.
Dass etwas aus der Ordnung (oder was man für geordnet gehalten hatte) geraten war, wurde seit der Jahreswende 2015/16 in ganz Deutschland unübersehbar. In Schulen fiel der Sportunterricht aus, weil Turnhallen zu provisorischen Flüchtlingsunterkünften umfunktioniert wurden. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das in den vorangegangenen Jahren einen drastischen Personalabbau erfahren hatte, kam mit der Bearbeitung von Asylanträgen nicht mehr nach. Kommunen ächzten unter den finanziellen Lasten, die sie für Unterbringung und Verpflegung von Flüchtlingen aufbringen mussten. Der Bund versuchte, die Not mit Milliardentransfers in die Landeshaushalte zu lindern. Politiker versprachen, Asylverfahren zu beschleunigen, um diejenigen, die keine Aussicht auf einen Schutzstatus hatten, schneller abschieben zu können.
All das aber änderte nichts daran, dass die Zahl der neu ankommenden Menschen Monat für Monat weiter stieg. Kurierte der Staat also lediglich an Symptomen eines Problems herum, ohne seine Ursachen ernsthaft in den Blick zu nehmen? Durfte der Staat, der selbst an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit kam, es gleichzeitig zulassen, dass an seinen geografischen Grenzen immer neue Menschen ins Land strömten? In welcher Verfassung muss ein Staat sein, der das geschehen lässt?
Ein Blick in den Verfassungstext scheint eine eindeutige Antwort zu geben: Artikel 16 a Grundgesetz garantiert zwar das Grundrecht auf politisches Asyl. Gleich im zweiten Absatz aber heißt es scheinbar unmissverständlich: »Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist.« Nimmt man diese Regelung beim Wort, ist es faktisch ausgeschlossen, auf dem Landweg einen Asylanspruch in Deutschland zu erlangen – denn alle Nachbarländer sind Mitglieder der Europäischen Union oder sichere Drittstaaten im Sinne der Verfassung.
Diese Fassung des Asylgrundrechts gilt seit 1993. Sie war die Antwort des Gesetzgebers auf eine Krise, die in vieler Hinsicht der des Jahres 2015 zu ähneln scheint. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Europa war es Anfang der 90er Jahre zu massiven Flucht- und Migrationsbewegungen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion gekommen. Dramatisch wurde die Entwicklung schließlich durch die Balkankriege ab 1991. In den Jahren nach 1989 vervierfachte sich die Zahl der in Deutschland jährlich neu registrierten Asylsuchenden und stieg auf knapp 440 000 im Jahr 1992. Fast drei Viertel der Menschen kamen aus Europa. Nur ein Bruchteil von ihnen erhielt politisches Asyl im Sinne des damals noch knapp gefassten Artikels 16 Grundgesetz, der das Grundrecht ohne jede Relativierung garantierte. Darüber hinaus aber konnten sich Menschen, die religiöser Verfolgung oder der Drohung durch unmenschliche Behandlung ausgesetzt sind, schon seit Ende der 60er Jahre auf einen erweiterten Schutz berufen, den ihnen die Genfer Flüchtlingskonvention, 1967 ergänzt durch das »Protokoll über die Rechtsstellung von Flüchtlingen«, gewährt. Seitdem genügt der Blick in das Grundgesetz allein nicht mehr, um zu erfassen, wer alles in der Bundesrepublik einen asylgleichen Schutzstatus erhalten kann. Das Grundgesetz war von Beginn an als völkerrechtsfreundliche Verfassung angelegt. Internationale Abkommen wie die Genfer Flüchtlingskonvention wurden damit Teil der verfassungsmäßigen Ordnung in Deutschland und geltendes Recht.
Breiter als die humanitären Zugangswege waren lange die Tore, die das Staatsangehörigkeitsrecht nach Deutschland geöffnet hatte – und auch darüber kamen Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre Hunderttausende neu ins Land. Das damals noch ganz und gar auf die Abstammung gegründete Staatsangehörigkeitsrecht gewährte sogenannten »deutschen Volkszugehörigen« in den ehemaligen Reichsgebieten östlich der Oder-Neiße-Linie sowie in Siedlungsgebieten der einstigen Ostblockländer einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung in der Bundesrepublik. Allein 1990 waren es etwa 400 000 Menschen, die auf diesem Weg nach Deutschland kamen, fast genauso viele, wie im gleichen Zeitraum als Asylsuchende registriert wurden.2 Hinzu kam in vielen westlichen Teilen des Landes die Binnenmigration aus den neuen Bundesländern im Osten. Insgesamt zogen allein zwischen 1988 und 1992 vier Millionen Menschen in die Bundesrepublik Deutschland zu. Der Anteil der Ausländer stieg in dieser Zeit von vier auf 7,3 Millionen an. Gut 14 Prozent der deutschen Bevölkerung war zum Ende des Jahrtausends nicht in Deutschland geboren.3 Trotzdem dominierte in der Politik nach wie vor die Behauptung, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Der Widerspruch zur Lebenswirklichkeit aber wurde immer offenkundiger.
Die Migrationsbewegungen und gesellschaftlichen Veränderungen der späten 80er und 90er Jahre gingen mit sozialen Spannungen und Herausforderungen einher. Die Gesellschaft des gerade wiedervereinten Landes zeigte Risse. Das Bild der glücklichen Deutschen, die sich auf der Berliner Mauer und an geöffneten Grenzübergängen in den Armen lagen, wurde überlagert von der hässlichen Fratze eines gewalttätigen Rassismus und einem steigenden Zulauf zu rechtsextremen Parteien. Zwischen September 1991 und Mai 1993 kam es in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen und Mölln zu mörderischen Anschlägen und Ausschreitungen gegen Ausländer. In Baden-Württemberg, Bremen und Schleswig-Holstein zogen Republikaner und die DVU mit Stimmenanteilen zwischen sechs und knapp elf Prozent in die Landtage ein.
Die Politik reagierte darauf mit einer beispiellosen Verschärfung des Asylrechts. Nach einer harten innerparteilichen Diskussion vollzog die SPD auf einem Sonderparteitag im November 1992 die »Petersberger Wende« und erklärte sich bereit, einer Änderung des Asylgrundrechts zur nötigen Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat zu verhelfen. Zum Kompromiss, auf den sich die Sozialdemokraten einließen, gehörte zunächst noch die Forderung, eine Verengung des Asylrechts mit einem modernen Einwanderungsrecht zu verbinden. Tatsächlich kam es in der Folge nur zu marginalen Lockerungen des Abstammungsprinzips im Staatsangehörigkeitsrecht sowie zu Einschränkungen der Aufnahme von »Spätaussiedlern«.4 Asylrecht, Migrationssteuerung und Staatsangehörigkeitsrecht aber waren seit dem Asylkompromiss ein politisch verbundenes Themenfeld. In welchem Maß es auch zu einem politischen Schlachtfeld geworden war, wurde bei der Abstimmung über die Grundgesetzänderung am 26. Mai 1993 spektakulär sichtbar: Zehntausend Demonstranten hatten das Bonner Regierungsviertel in einen Belagerungszustand versetzt. Die Zufahrtsstraßen zum provisorischen Sitz des Bundestags im alten Wasserwerk am Rhein waren blockiert. Hunderte Abgeordnete mussten mit Polizeihubschraubern und Schiffen ins Parlament gebracht werden.
Die Grundgesetzänderung ersetzte den einstmals schlanken Artikel 16 durch ein sprachliches Ungetüm. Im neuen Artikel 16 a bildete der Satz »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« als Absatz 1 nun nur noch den Ausgangspunkt für die verfassungsrechtliche Zementierung eines politischen Kompromisses in insgesamt fünf Absätzen. Der Umfang der Asylregelung war dadurch um mehr als das Sechzigfache gestiegen. Details künftiger Asylverfahren, die man normalerweise in einfachen Gesetzen erwarten würde, wurden in den Rang von Verfassungsnormen erhoben, die fortan nur noch mit Zweidrittelmehrheit geändert werden konnten. Das Grundrecht sei zu einem »Gesetzbuch im Kleinformat« gemacht worden, kritisierte damals der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm(1).5
Der Kern des neuen Asylkonzepts war jene Drittstaatenregelung, die Deutschland faktisch zu einer Insel machte, auf der Asyl nur noch beanspruchen konnte, wem auf dem Luftweg die direkte Flucht aus seinem Herkunftsland auf einen deutschen Flughafen gelang.
Der Asylkompromiss von 1993 hatte ein doppeltes Gesicht: Einerseits war er Ausdruck eines deutschen Abschottungs- und Abwehrstrebens. Zugleich aber stand er politisch und rechtlich in unmittelbarem Zusammenhang mit der europäischen Öffnungsdynamik, die zwei Jahre später zum Wegfall der Binnengrenzen im Zentrum Europas führte. Diese Ambivalenz von Öffnung und Schließung kennzeichnet Europa bis heute.
In dem luxemburgischen Ort Schengen hatten Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg und die Niederlande schon 1985 den Prozess in Gang gesetzt, der die Vision eines grenzenlosen Europas verwirklichen sollte. Es war der Traum, der Anfang der 50er Jahre am Beginn der europäischen Einigung stand. Damals hatten begeisterte Jugendliche an der deutsch-französischen Grenze die Schlagbäume weggerissen. In Schengen unterschrieben Helmut Kohl(1), François Mitterrand(1) und ihre Kollegen aus den Beneluxländern nun das Abkommen, das den tatsächlichen Abbau aller Grenzkontrollen einleitete.
Die beteiligten Staaten gaben auf, was bis dahin in der hergebrachten Juristenlehre als Wesenskern von Staatlichkeit schlechthin angesehen wurde: die Kontrolle darüber, wer in ein Staatsgebiet ein- und ausreist. Erst innerhalb kontrollierter Grenzen nahm demnach ein ansonsten amorphes Herrschaftsgebiet die stabile Gestalt eines Staates an. Schlagbäume, Zäune, uniformierte und bewaffnete Grenzbeamte an den Staatsgrenzen waren nicht nur dazu da, die Einhaltung von Einreisevorschriften zu gewährleisten und Zölle zu kassieren. Ihr pures Dasein machte deutlich: Hier beginnt nicht irgendein Niemandsland, hier ist ein Staat!
Mit dem Wegfall kontrollierter Binnengrenzen hatten sich in der Mitte Europas zwar nicht die Staaten aufgelöst, wohl aber die sichtbare und exklusive Verknüpfung von Staatsgebiet und Staatsgewalt. Die Gründergeneration Europas hatte das einst genau so gewollt. Ihr war es darum gegangen, die traditionellen Nationalstaaten und ihre Konflikte, die sich an ihren Grenzen immer wieder blutig entzündet hatten, in einem vereinten Europa hinter sich zu lassen.
Erst viel später, in der Flucht- und Migrationskrise des 21. Jahrhunderts, sollte sich zeigen, dass dieser grundlegende Wandel des Staatsverständnisses auch in den politischen, akademischen und medialen Eliten noch längst nicht so akzeptiert und verinnerlicht war, wie man das lange glauben wollte. »Zu einem Staat gehören wesensgemäß Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsregierung«, wiederholte der ehemalige CDU-Verteidigungsminister Rupert Scholz(1) auf dem Höhepunkt der Krise im Herbst 2015 den klassischen Dreisatz, den er als Staatsrechtsprofessor an der Universität München einst Generationen von Juristen eingetrichtert hatte. »Staatsgebiet ist definiert durch Grenzhoheit. Wenn ein Staat seine Grenzen aufgibt, gibt er ein Stück seiner Staatlichkeit insgesamt auf«, geißelte Scholz die Politik der Bundesregierung.6
Tatsächlich aber hatten die Vertragsstaaten des Schengener Abkommens einen wesentlichen Teil dessen, was bis dahin ihre Souveränität ausgemacht hatte, längst auf die europäische Ebene übertragen. Das löste schon ab Mitte der 80er Jahre einen umfangreichen Regelungs- und Harmonisierungsbedarf aus. Ganz besonders betraf er die Rechtsgebiete, die bis dahin auch in der Europäischen Gemeinschaft stets Kernbestand nationalstaatlicher Kompetenzen geblieben waren, nämlich das Einwanderungs- und Asylrecht. Mit dem Verzicht auf die Kontrolle über Ein- und Ausreisen an den Binnengrenzen war es nun erforderlich, gemeinsame Standards und Verfahren in der Asyl- und Migrationspolitik zu definieren.
Dazu schlossen zunächst die Schengen-Staaten 1990 einen weiteren Vertrag, das Schengener Durchführungsabkommen, auch Schengen II genannt. Sodann bezog man bei einem Gipfeltreffen im gleichen Jahr in Dublin die Mittelmeeranrainer Italien, Griechenland, Spanien, Portugal sowie das Vereinigte Königreich und Irland ein. Mit diesem ersten Vertrag von Dublin war die bis heute geltende Grundlage eines europäischen Asylsystems gelegt.
Sein wichtigstes Element war das One-State-Only-Prinzip: Nur in einem Vertragsstaat sollten Schutzsuchende den Anspruch auf ein Asylverfahren haben, und dies sollte regelmäßig der Staat sein, in dem sie erstmals den Boden des grenzenlosen Raumes in Mitteleuropa betreten haben. Zweierlei sollte damit ausgeschlossen werden: erstens ein »Asylum Shopping« – die Möglichkeit für Flüchtlinge, in mehreren Ländern Asylanträge zu stellen und sich dann selbst das Land auszuwählen, in dem man sich die besten Chancen erhoffte. Zweitens wollte man verhindern, das Schutzsuchende hilflos durch Europa irren und sich kein Land für sie zuständig fühlt – »Refugees in Orbit«. In den folgenden Jahren wurde das Dubliner Abkommen, das zunächst als völkerrechtlicher Vertrag geschlossen war, als Dublin-II- und Dublin-III-Verordnung in das Recht der Europäischen Union integriert.
Bis zur vollständigen Umsetzung des Schengener Abkommens dauerte es nicht weniger als zehn Jahre. Erst am 26. März 1995 endeten zwischen den sieben Vertragsstaaten die letzten, am Ende nur noch sporadischen Grenzkontrollen. Ehemalige Grenzschutzgebäude an Landstraßen und Autobahnen verwaisten und wurden schließlich vollständig abgebaut. Für niemanden musste ab diesem Moment mehr eine Grenze geöffnet werden. Die Grenzen in der Mitte Europas waren offen – für alle. Wo einst uniformierte Beamte Personendaten mit polizeilichen Datensystemen abgeglichen und Schlagbäume gehoben oder gesenkt hatten, brauste man nun wie an Ortseinfahrten an Schildern vorbei, die signalisierten, dass man soeben nach Frankreich, Spanien oder Deutschland eingereist war. Wer sich heute nicht aus eigener Erfahrung daran erinnert, wie das früher einmal gewesen war, muss mit Besuchern aus anderen Kontinenten durch dieses scheinbar grenzenlose Europa reisen, um durch ihr Staunen daran erinnert zu werden, wie ungewöhnlich das ist.
Die euphorische Rede vom Raum ohne Grenzen beschrieb nur einen Teil der europäischen Wirklichkeit. Auch die andere Seite der Medaille war in Deutschland zunächst noch lange sichtbar. Denn die Bundesrepublik kam nicht sofort in die vermeintlich bequeme Mittellage, in der sie sich heute im Zentrum des erweiterten Schengen-Raums befindet. Bis zur EU-Osterweiterung 2004 war Deutschland selbst noch ein Außengrenzenstaat der EU. In den Verhandlungen über die Wiedervereinigung war das Versprechen der Bundesregierung, einen effektiven Grenzschutz zu gewährleisten, zunächst noch die Voraussetzung dafür gewesen, die Regeln des europäischen Binnenmarkts schnell auch auf das Gebiet der ehemaligen DDR übertragen zu können.7 Bis dahin hatte sich die Regierung Kohl(2) noch aus ureigenem Interesse stets dafür eingesetzt, Fragen des Grenzschutzes und der Migrationssteuerung in einer europäischen Gesamtverantwortung und nicht nur national zu regeln.8
Als schließlich die Grenzkontrollen innerhalb der EU wegfielen, stand zumindest jenen, die hinsehen wollten, in Deutschland ganz unmittelbar vor Augen, wie die Kehrseite des grenzenlosen Freiraums aussah, der sich nach Westen erstreckte: Die 1264 Kilometer lange Ostgrenze zu Polen und Tschechien war damals die Außengrenze der EU, die am aufwändigsten gesichert wurde. Knapp 6000 Grenzschutzpolizisten waren mit Hubschraubern, Patrouillenbooten und Wärmebildkameras Tag und Nacht gegen Migranten und Schleusergruppen im Einsatz.
Das Grenzschutzregime wurde ergänzt durch eine Politik bilateraler Rücknahmeabkommen, die im Rückblick wie eine Blaupause für die Grenz- und Migrationspolitik der EU der Gegenwart wirkt: Die Verpflichtung der Nachbarn, eigene Staatsangehörige und Drittstaatler, die keinen Schutzstatus in Deutschland erhielten, zurückzunehmen, wurde mit großzügigen Finanzhilfen erkauft. 120 Millionen DM zahlte die Bundesrepublik Polen in den Jahren 1993 und 1994 für die Unterbringung zurückgewiesener Migranten und Grenzsicherungsmaßnahmen. Ähnliche Abkommen schloss man mit Tschechien und Rumänien.9
Die Abschottung wirkte. 2004 hatte die Zahl der jährlichen Asylanträge in Deutschland bereits einen Tiefstand von knapp 43 000 erreicht. Nachdem auch Polen und Tschechien schließlich EU-Mitglieder wurden und die Außengrenze nach Osten verschoben war, sank die Zahl noch weiter bis unter 30 000. Erst jetzt profitierte Deutschland von seiner geografischen Lage im Zentrum Europas, und der Asylkompromiss von 1993 konnte seine volle Wirkung entfalten. Das »Asylproblem« schien fast vollständig externalisiert und in die neuen Außengrenzenländer verlagert worden zu sein. Auch die einst ausgesprochen integrationsfreundliche Haltung der Bundesregierung auf europäischer Ebene hatte sich inzwischen gewandelt. Auf Betreiben der Bundesregierung hatte der Europäische Rat Fragen des Asyl- und Migrationsrechts im Vertrag von Amsterdam dem Einstimmigkeitsprinzip unterworfen.10 Deutschland – aber auch jeder andere Mitgliedstaat – konnte seitdem jede Entscheidung mit einem Veto blockieren. Das sollte sich rächen. Denn der Ausbau des gemeinsamen Asylsystems, auf den die Bundesregierung in der Krise von 2015 wieder drängen sollte, entwickelte sich nur schleppend weiter.
Mit den Dublin-Verträgen waren lediglich Fundamente und Eckpfeiler eines umfassenden Gesamtsystems errichtet worden. Der lange Prozess, in dem es weiter ausgebaut und vervollständigt werden sollte, ist mit weiteren Ortsmarken verbunden: Im finnischen Tampere verständigte sich ein EU-Gipfel 1999 auf ein Programm, mit dem Verfahrensstandards, rechtsstaatliche Garantien und die Entwicklungszusammenarbeit mit den wichtigsten Ursprungsländern der damaligen Flucht- und Migrationsbewegungen verstärkt werden sollten. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wurden die humanitären und menschenrechtlichen Aspekte von einer verschärften Sicherheitsdogmatik und dem Kampf gegen den Terrorismus überlagert. Das schlug sich in der nächsten Ausbaustufe des Asylsystems nieder. Im Haager Programm von 2004 wurden unter anderem die europäische Grenzschutzagentur FRONTEX und neue Instrumente zum Datenaustausch eingeführt. Wo es um Sicherheit und die reine Abwehr unerwünschter Migration ging, schloss sich Europa zusammen. Wo es aber um eine auf gemeinsamen Kriterien beruhende Steuerung der Migration ging, tat sich die Gemeinschaft schwer. Oft war das Ziel einer europäischen Migrationspolitik vor allem die Ausrede für nationale Regierungen, sich unbequeme Fragen vom Leib zu halten, indem man sie nach »Brüssel« delegierte. Eine umfassende und konsequente Europäisierung der Politik hat man vermieden, denn sie hätte eine von den Staaten nicht gewollte Machtverschiebung von den nationalen zu den europäischen Institutionen bedeutet.11
In wichtigen Punkten blieb die europäische Asylharmonisierung deshalb weit hinter den Zielen und Erwartungen der Programme von Tampere und Den Haag zurück. So gelang es zum Beispiel wegen des von Deutschland einst erwirkten Einstimmigkeitserfordernisses nicht, eine Einigung über europäische Listen sicherer Herkunftsstaaten zu erzielen. Der eigentliche Plan, das 1993 bereits im Grundgesetz verankerte Drittstaatenkonzept zu europäisieren, ist bis heute nicht verwirklicht.
Seit langem sollte das europäische Asylsystem auch für Situationen wie diejenige eine Lösung bieten, mit der man im Sommer 2015 konfrontiert war. Die Erfahrungen im Zusammenhang mit den Balkankriegen hatten gelehrt, dass es gerade nach dem Ende des Kalten Krieges Mitten in Europa oder seiner Nachbarschaft wieder zu Kriegen kommen konnte, die dramatische Fluchtbewegungen auslösen. Anfang der 90er Jahre hatte Deutschland etwa 350 000 Menschen aus dem zerfallenen Jugoslawien aufgenommen, die meisten von ihnen Muslime aus Bosnien-Herzegowina. Das waren mehr als doppelt so viele wie in allen anderen Staaten der EU zusammen.12
Da sie als reine Kriegsflüchtlinge überwiegend nicht in die klassischen Schutzkategorien des Asylgrundrechts oder der Genfer Flüchtlingskonvention passten, hatte man für sie eine Sonderregelung aktiviert, die man im Rahmen des Asylkompromisses 1993 auf Forderung der Sozialdemokraten in § 32 a des Ausländergesetzes aufgenommen hatte. Die Klausel erlaubte es, Kriegsflüchtlingen einen befristeten Aufenthaltsstatus zu gewähren. Sie durften keine Asylanträge stellen, der Schutzstatus sollte auf die Dauer des Krieges beschränkt sein.13 Tatsächlich kehrten viele wieder freiwillig in ihre Heimat zurück. Andere wurden abgeschoben. Ende 2001 waren nur noch weniger als 20 000 Kriegsflüchtlinge und Vertriebene aus Bosnien in Deutschland.14
Das in Dublin begründete europäische Asylsystem war auch nach mehr als zehn Jahren für eine vergleichbare Situation nicht gerüstet. Es war ein unvollendetes Regelwerk für bessere Zeiten, in denen sich die Zahl der an den Außengrenzen ankommenden Menschen in einem überschaubaren Rahmen bewegt. Dass Italien notorisch darüber klagte, als das am meisten betroffene Land mit dem Schutz der Außengrenzen und der Versorgung der an seinen Küsten landenden Flüchtlinge allein gelassen zu werden, nahm man hin. Dafür drückte man ein Auge zu, wenn deutsche Menschenrechtsaktivisten wie der Cap-Anamur-Chef Elias Bierdel(1) in Italien mit hanebüchener Anklage als kriminelle Schleuser vor Gericht gestellt wurden oder die italienische Marine Flüchtlingsboote mit Schüssen abdrängte.15
Den politischen Akteuren aber war durchaus bewusst, dass die bis dahin funktionierenden Elemente des gemeinsamen Asylsystems an ihre Grenzen stoßen, wenn sich die Zahl der Schutzsuchenden einmal dramatisch erhöhen würde. Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis sollte eine Richtlinie mit der Bezeichnung 2001/55/EG sein, die der Europäische Rat im Juli 2001 erließ. Sie wurde unter dem Namen »Massenzustrom-Richtlinie« bekannt. Darin wurden Verfahren und »Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Fall eines Massenzustroms von Vertriebenen« – so der offizielle Untertitel – vereinbart. Im Falle von kriegs- oder vertreibungsbedingten Fluchtwellen sollte es so ermöglicht werden, einer außergewöhnlich hohen Zahl von Menschen kurzfristig und ohne aufwändige Anerkennungsverfahren Zuflucht und eine soziale Absicherung in Europa zu gewähren. Voraussetzung dafür war ein Mehrheitsbeschluss des Rates, mit dem der Fall eines »Massenzustroms« festgestellt wird. Dann – so das ursprüngliche Ziel – sollte ein europäischer Solidaritätsmechanismus in Gang gesetzt werden, der eine faire Lastenteilung bei einer zeitlich begrenzten Aufnahme und Versorgung der Flüchtlinge mit sich bringt.16
Die EU-Kommission und auch das EU-Parlament hatten genau definiert, was damit gemeint war. Sogar der Untertitel der Richtlinie wies ausdrücklich darauf hin: eine »Verteilung« der Ankommenden auf die Mitgliedstaaten. Doch hier schieden sich schon 2001 die europäischen Geister. Für den von der Kommission vorgeschlagenen Verteilungsmechanismus mit festen Aufnahmequoten ließ sich die erforderliche Einstimmigkeit im Rat nicht herstellen. Der Notfallplan wurde daher ohne seinen inhaltlichen Kern verabschiedet: Ob und in welchem Umfang die einzelnen EU-Staaten in einer künftigen Fluchtkrise tatsächlich Menschen aufnehmen, sollte jedem einzelnen Land selbst überlassen bleiben. Die Richtlinie lief damit schon bei ihrer Verabschiedung absehbar ins Leere.17
Als 2015 genau die Situation eingetreten war, für die man 2001 eigentlich Vorsorge treffen wollte, erinnerte man sich zwar durchaus an die Massenzustrom-Richtlinie. Aber es gab keinen ernsthaften Versuch mehr, den Rat zu einer Aktivierung des Mechanismus zu bewegen. Schon im Frühjahr war klar geworden, dass es nach wie vor kein Einvernehmen über eine solidarische Verteilung von Flüchtlingen in Europa geben würde. Dabei wurde nun immer deutlicher, dass genau das Szenario auf Europa zukam, auf das es sich mit der Richtlinie eigentlich vorbereiten wollte.
In den frühen Morgenstunden des 19. April 2015 kenterte etwa 70 Seemeilen vor der libyschen Küste ein mit Menschen überfrachteter Fischkutter. Schätzungsweise 800 Menschen ertranken 180 Kilometer vor den Küsten Europas. Das Unglück war kein Einzelfall, doch die hohe Zahl der Opfer löste eine Schockwelle aus.18 Vier Tage später trafen sich die 28 Staats- und Regierungschefs der EU zu einem Sondergipfel in Brüssel. Das Treffen begann mit einer Schweigeminute. Dann folgten wortreiche Bekenntnisse der Teilnehmer: »Es geht jetzt darum, Menschenleben zu retten«, erklärte einer nach dem anderen. Die Mittel für die EU-Grenzschutz- und Rettungsmission Triton wurden aufgestockt.19
Nach der Demonstration gemeinsamer Trauer und Appellen an humanitäre Werte aber war es mit der Einigkeit schnell vorbei. Als man sich nur wenige Wochen später zum nächsten turnusmäßigen Gipfel in Brüssel traf, forderte Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi(1), 40 000 Menschen aus Griechenland und Italien sowie weitere 20 000 direkt aus den Flüchtlingslagern um Syrien in Europa zu verteilen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker(1) erneuerte den Vorschlag eines Quotensystems. Angela Merkel(16) und der französische Präsident François Hollande(1) unterstützten den Plan. Doch sie stießen auf vehementen Widerspruch Ungarns, Polens, Tschechiens und der Slowakei sowie der baltischen Staaten. Auch Ratspräsident Donald Tusk(1) wollte allenfalls freiwillige Vereinbarungen akzeptieren. Die nächtliche Diskussion wurde emotional. »Ihr verdient es nicht, Europäer genannt zu werden«, rief Matteo (2)Renzi seinen Kollegen aus Mittel- und Osteuropa frustriert zu.20
Die Spaltung Europas, für die später allein die deutsche Kanzlerin(17) wegen ihrer Entscheidung im September 2015 verantwortlich gemacht wurde, lag schon in diesem Moment offen zutage. Die Ost-West-Kluft in der Flüchtlingspolitik verlief quer zu jener, die bis dahin auch die Diskussionen des Rates dominierte: zur Nord-Süd-Spaltung in der Euro- und Finanzkrise. Ausgerechnet Angela Merkel, die in Griechenland bis dahin als Zuchtmeisterin einer erbarmungslosen Austeritätspolitik verschrien war, wurde in der Flüchtlingspolitik zur Schutzpatronin des neuen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras(1), der händeringend europäische Solidarität bei der Aufnahme von Flüchtlingen forderte.
Auch auf dem Juni-Gipfel in Brüssel stand noch die Debatte über die Griechenland-Hilfen sowohl bei den Staats- und Regierungschefs als auch in der Medienberichterstattung an erster Stelle der Agenden. Doch war es bereits absehbar, dass die Prioritäten sich verschieben würden. Die Flüchtlingskrise sei »die größte Herausforderung, die ich jedenfalls in meiner Amtszeit bezüglich der Europäischen Union gesehen habe«, erklärte Angela Merkel(18) am Ende des Brüsseler Treffens. Nur ein »kleiner Schritt voran« sei dabei gegangen worden, klagte die Kanzlerin und forderte: »Es werden weitere Schritte folgen müssen.«21
Zu diesem Zeitpunkt – im Frühsommer 2015 – stammte die größte Gruppe der in Deutschland ankommenden Menschen noch aus den Staaten des Westbalkans. Bis weit über die Hälfte der monatlich gezählten Asylanträge wurde bis dahin von Bürgerinnen und Bürgern der Länder Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien gestellt. Im März war der Kosovo mit über 11 000 Anträgen noch das Land, aus dem die meisten Antragsteller nach Deutschland kamen.22 Entsprechend konzentrierten sich auch die politischen Bemühungen der Bundesregierung auf diese Region. Mit Informationskampagnen in regionalen Medien versuchte man, Menschen von der Reise nach Deutschland abzuhalten. Die Suche nach einem Arbeitsplatz sei kein Asylgrund, hieß es in einem Videofilm, den die Bundespolizei im Auftrag des Bundesinnenministeriums produziert hatte. Wer den Versprechungen krimineller Schleuserbanden glaube, »tauscht sein Vermögen nur gegen Lügen und Illusionen ein, die mit der Wahrheit nichts zu tun haben«, warnte die Stimme aus Deutschland in mehreren Sprachen.23 Zugleich zeigten die Bemühungen, die Asylverfahren zu verkürzen und abgelehnte Antragsteller in ihre Heimat zurückzuschieben, erste Erfolge. Am 1. September 2015 meldete die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »Weniger Zuzug vom Westbalkan«.24 Aus dem Kosovo zählte man im August gerade noch 781 neue Anträge.25 In der zweiten Augusthälfte war auch die Zahl der Ankommenden aus Albanien, dem zweitgrößten Herkunftsland, deutlich gesunken.
Doch die Flucht- und Migrationskrise hatte längst eine Dimension angenommen, die sich mit den klassischen Mitteln einer europäischen Migrationspolitik allein nicht mehr steuern ließ. Es war der Krieg in Syrien, der Europa mit einem weltgeschichtlichen Ereignis konfrontierte und eine neue Haltung erzwang. Das Assad-Regime und seine Verbündeten hatten Hunderttausende aus dem Land getrieben: Eine Generation junger Männer, die der Rekrutierung durch Armee oder aufständische Milizen entgehen wollte, Freiheitskämpfer und Revolutionäre, Frauen, Kinder, Väter und Großväter aus den zerbombten Wohnvierteln Aleppos und anderer Städte hatten sich auf die Flucht über das Mittelmeer und den Fußweg in den Norden Europas begeben. In Deutschland hatte man im Februar noch 4237 Asylanträge von Syrern gezählt, im August überstieg die Zahl 10 000, im September waren es 16 544 Erstanträge von Flüchtenden aus Syrien.26 Die Zahlen bildeten nur einen Teil derer ab, die tatsächlich in Deutschland ankamen und erst Wochen später förmlich Asyl beantragten oder ohne Registrierung im Land blieben. Ende Juli waren in der EASY-Datei, in der alle Neuankommenden zunächst registriert wurden, rund 100 000 weitere Menschen erfasst, die in den überlasteten Ausländerbehörden noch keine Asylanträge gestellt hatten. Im November sollten es doppelt so viele sein.27
Die Flucht so vieler Menschen aus Syrien war auch die Folge von Fehleinschätzungen, Handlungsunfähigkeit und dem Unwillen der westlichen Welt, selbst Akteur im Syrien-Konflikt zu werden. Zu lange hatte man darauf gesetzt, dass sich die Entwicklung des Arabischen Frühlings in Syrien von allein fortsetzen und der Diktator bald stürzen werde. Als die westlichen Regierungen erkannten, dass Russland den Überlebenskampf Assads mit blutiger Konsequenz unterstützen und Syrien zur Arena seiner hegemonialen Ambitionen machen würde, war niemand mehr bereit, in den Konflikt einzugreifen. Während man in Washington, Paris und Berlin zusah, wie das Land immer tiefer im Krieg versank und Assad alle roten Linien überschritt, kamen die Flüchtenden in immer größeren Scharen vor den eigenen Türen in der Mitte Europas an.
Am 19. August 2015 schraubte Bundesinnenminister de Maizière(2) die Schätzung für die Zahl der im laufenden Jahr zu erwartenden Flüchtlinge auf 800 000 hoch. Das war fast eine Verdoppelung der bisherigen Prognose. »Wir sind alle gefordert, überfordert ist Deutschland mit dieser Entwicklung nicht«, versicherte de Maizière und versprach – knapp zwei Wochen vor dem »Wir schaffen das« der Bundeskanzlerin(19): »Wir kriegen das hin«. Die Vorhersage der Ankunftszahlen, auf die sich der Optimismus der Regierung gründete, musste später oft als Beleg dafür herhalten, dass die Regierung die Lage nach wie vor dramatisch unterschätzt habe. Von mehr als einer Million Schutzsuchender war am Jahresende in ersten Bilanzen die Rede. Erst als man im Herbst 2016 alle Zahlen ausgewertet und Fehler – etwa durch mehrfache Registrierungen – bereinigt hatte, stellte sich heraus, dass die Schätzung des Innenministers im Sommer 2015 durchaus nahe an der Wirklichkeit lag. 890 000 Menschen waren im Krisenjahr als Asylsuchende nach Deutschland gekommen.28