Wer behauptet, es sei ein Rechtsbruch gewesen, der dieser großen Zahl von Menschen den Zugang nach Deutschland verschafft habe, muss definieren, welchen Rechtsrahmen er im Blick hat. Aus Sicht der Bundesregierung war das auch im Sommer 2015 das europäische Regelwerk, das mit den Begriffen Dublin und Schengen verbunden war.
Es lag auf der Hand, dass es nicht so funktionierte, wie man sich das einst gedacht hatte: In Italien wurden ankommende Flüchtlinge gar nicht mehr erst registriert, in Österreich wurden sie auf dem Weg gen Norden durchgewunken oder mit Bussen an die deutsche Grenze transportiert. Zugleich konnte Deutschland Flüchtlinge, die in Griechenland registriert waren, nicht mehr entsprechend den Dublin-Regeln dorthin zurückschicken. Denn seit 2011 untersagte dies der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
In dem in Straßburg entschiedenen Musterfall hatte Belgien einen Afghanen, der über den Iran und die Türkei nach Europa gelangt war, nach Griechenland zurückgewiesen. Er habe dort erstmals europäischen Boden betreten, folglich sei nach den Dublin-Regeln Griechenland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, argumentierten die belgischen Behörden. Nach Auffassung der Straßburger Richter aber drohte Asylsuchenden in Griechenland eine unwürdige und erniedrigende Behandlung. Der betroffene Afghane war nach seiner Rückschiebung sofort festgenommen und ohne jeden Rechtsschutz in ein völlig überfülltes Haftzentrum gebracht worden. Sanitäranlagen durften, soweit überhaupt vorhanden, nicht benutzt werden. Offenbar wurde der Mann auch physisch malträtiert. Monatelang musste er nach seiner Haftentlassung ohne jede Versorgung auf der Straße leben. Sein Asylantrag wurde nie wirklich geprüft. Nach einer öffentlichen Anhörung, bei der auch Vertreter des UNHCR, von Amnesty International und der Menschenrechtskommissar des Europarats befragt wurden, verurteilten die Richter sowohl Griechenland als auch Belgien dazu, dem Kläger Schadensersatz in Höhe von 26 000 Euro zu bezahlen.1 Auch der Europäische Gerichtshof2 und das Bundesverfassungsgericht3 bestätigten in der Folge das Verbot, Asylbewerber nach Griechenland zurückzuschicken.
Die höchstrichterlichen Urteile illustrierten das Grunddilemma, in dem die Flüchtlingspolitik von Monat zu Monat tiefer steckte: Immer weiter wuchs die Kluft zwischen rechtlichen Ansprüchen und der Lebenswirklichkeit in Europa. Ausgerechnet eines der Länder, in dem die meisten Flüchtlinge aus den Krisenregionen des Nahen Ostens europäischen Boden erreichten, sollte nicht mehr dafür verantwortlich gemacht werden können, mit der Rücknahme von Flüchtlingen einen Kern seiner Dublin-Verpflichtungen zu erfüllen. Man konnte meinen, die höchsten Richter selbst hätten das Regelwerk außer Kraft gesetzt, dessen Einhaltung sie kontrollieren sollten. Tatsächlich aber wendeten sie gerade in dieser Situation die bestehenden Normen an, denn auch die Dublin-Verordnung will verhindern, dass ein Land für Asylverfahren zuständig wird, in dem menschenunwürdige Verhältnisse herrschen. Die Richter drängten schlicht darauf, genau dieses Regelwerk in allen seinen Teilen zu respektieren und Konsequenzen zu ziehen, wo es nicht beachtet wurde. Dazu gehörte schließlich auch die Option, dass Länder, die nicht primär für die Durchführung von Dublin-Verfahren zuständig waren, in diese Verpflichtung einspringen. In dem Straßburger Musterfall wurde Belgien richterlich in die Pflicht genommen. Als sich die Krise des Jahres 2015 immer dramatischer zuspitzte, nahm Deutschland die Möglichkeit, Verfahrenszuständigkeiten anderer Länder zu übernehmen, freiwillig für sich in Anspruch.
Am 21. August 2015, zwei Tage nachdem Bundesinnenminister de Maizière(3) mit seiner erhöhten Prognose für das laufende Jahr für Aufsehen gesorgt hatte, ließ Manfred Schmidt(1), der Leiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), ein Rundschreiben an alle Außenstellen seiner Behörde verschicken. Unter dem Aktenzeichen 411–93605/Syrien/2015 wurde ein rechtlicher Kurswechsel für die Bearbeitung von Asylanträgen syrischer Flüchtlinge angeordnet: Wenn sich ein Antragsteller als Syrer ausweist, solle fortan nicht mehr geprüft werden, ob die Person bereits in einem anderen Land registriert war und dorthin zurückgeschickt werden müsste.
Die Maßnahme sollte dem unter der Bearbeitungslast erstickenden BAMF Luft verschaffen. 250 000 unbearbeitete Asylanträge stapelten sich auf den Tischen der knapp 3000 Prüfer. 9000 Leute brauche er, hatte (2)Schmidt zuletzt geklagt. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit für einen Asylantrag war auf fast ein halbes Jahr gestiegen, in Fällen aus Pakistan, Eritrea und Afghanistan dauerte es im Schnitt länger als ein Jahr, bis eine Entscheidung fiel.4
Die Kriegsflüchtlinge aus Syrien, die ohnehin fast ausnahmslos einen Schutzstatus erhielten, wurden nun zu Sonderfällen erklärt, in denen keine individuellen Schutzgründe mehr geprüft werden müssen.5 Der Sprecher des BAMF Mehmet Ata erklärte, Dublin-Verfahren würden für Syrer »zum gegenwärtigen Zeitpunkt faktisch nicht weiter verfolgt«. Sogar über Twitter verbreitete das BAMF die neue Linie unter dem Hashtag #DublinVerfahren.6 Aus Sicht der Behörde war das zunächst eine rein interne Verfahrensentscheidung. Zugleich aber war es nicht weniger als eine amtliche Kapitulationserklärung: Die oberste deutsche Asylbehörde gestand ein, dass die Wirklichkeit das normative Konzept der Dublin-Regelungen überrollt hatte.
Die praktischen Auswirkungen des neuen BAMF-Kurses aber blieben gerade deswegen gering. Man passte die Verfahrensvorgaben schlicht der Realität an. Nicht nur wegen der Griechenland-Rechtsprechung fanden schließlich kaum noch Rücküberstellungen in die Ankunftsländer statt. Die Dublin-Regeln sehen für die Rücküberstellungsverfahren nämlich eine Frist von sechs Monaten vor. Konnte der Antragsteller in dieser Zeit nicht zurückgeschickt werden, wurde das Aufenthaltsland auch förmlich für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.7 Weil man im BAMF mit der Prüfung und Bearbeitung der Anträge nicht mehr nachkam, hatte es in der ersten Jahreshälfte gerade einmal 131 Rücküberstellungen gegeben.8
Es waren diese Augusttage, in denen die Flucht- und Migrationskrise auch als Krise des Rechts ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rückte. Hatte sich Deutschland mit dem neuen BAMF-Kurs von den Dublin-Regeln verabschiedet? Kann ein Regelwerk überhaupt noch Geltung beanspruchen, wenn es in der Praxis, zumindest in wesentlichen Teilen, nicht mehr angewandt wird?
Das waren die Fragen, mit denen Regierungsvertreter nun auch von den Medien konfrontiert wurden. Die Bundesregierung jedoch beharrte konsequent darauf, dass »Dublin« gelte. »Eindeutig« stehe man zu den europäischen Regeln, beteuerte der Sprecher des Bundesinnenministeriums Johannes Dimroth(1) wenige Stunden nach Bekanntwerden des BAMF-Erlasses in der Bundespressekonferenz.9 Auch durch die neue Verwaltungspraxis seien die Dublin-Regeln keineswegs ausgesetzt worden. Vielmehr räumten die Dublin-Verträge den Mitgliedstaaten ausdrücklich die Möglichkeit ein, Asylverfahren durchzuführen, für die an sich die Ankunftsländer zuständig seien.
»Das ist das sogenannte Selbsteintrittsrecht«, erklärte Dimroth(2).10 Er verwies damit auf jene Klausel in Artikel 17 der Dublin-III-Verordnung, nach der schon nach dem EGMR-Urteil von 2011 die formale Zuständigkeit der Bundesrepublik für Antragsteller begründet wurde, die man nicht mehr nach Griechenland zurückschieben durfte. Nun wurde die Regelung generell auf alle Syrer ausgeweitet. »Insofern ist das vereinbar mit den europarechtlichen Vorgaben«, beteuerte der Sprecher des Innenministeriums. Auch sein Kollege Martin Schäfer(1), der Sprecher von Außenminister Frank-Walter Steinmeier(1), widersprach dem Vorwurf, Deutschland habe die Dublin-Regeln faktisch für obsolet erklärt. »Wir sind nach jetzigem Stand mit Dublin nicht übermäßig glücklich«, gestand (2)Schäfer. Aber solange es keine anderen Regeln gebe, sollten die existierenden gelten, »und das ist Dublin«.11 Die juristische Einschätzung des Auswärtigen Amtes sollte wenig später noch einmal von entscheidender Bedeutung sein.
Es war zugleich unübersehbar: Die immer schon unvollkommene Statik des Dublin-Systems ächzte und knirschte. Doch es war in den Augen der Bundesregierung der letzte Halt, den es überhaupt noch gab, wenn man sich in einem rechtlichen Rahmen bewegen wollte.
Wurde aber nicht die Substanz dieses Rechts gleichsam pulverisiert, je mehr die Belastung weiterwuchs? War nicht die reale Unordnung, in der sich die Welt befand, so überwältigend, dass die normative Ordnung des Rechts sich darunter auflöste und keine Geltung mehr entfalten konnte?
Am 31. August kam Angela Merkel(20) wie in jedem Sommer selbst in die Bundespressekonferenz, um die Fragen der Hauptstadtjournalistinnen und -journalisten zu beantworten. Es war der Tag, an dem sie selbst den politischen Maßstab formulierte, an dem sie fortan gemessen werden sollte: »Wir schaffen das«. Merkel aber machte zugleich deutlich, dass sie auch einen rechtlichen Maßstab im Blick hatte. »Das Dublin-Abkommen funktioniert nicht mehr so, wie es einmal war, weil sich die Situationen verändert haben«, sagte die Kanzlerin. Wenn andere sich nicht mehr an die Regeln hielten, indem sie Zäune bauten oder Menschen nicht mehr registrierten, dürfe das aber nicht dazu führen, dass auch die Bundesregierung nicht mehr an Dublin gebunden sei. »Wir haben keine andere Rechtsgrundlage«, beteuerte Merkel.
Der 31. August, an dem sich Angela Merkel(21) in der Bundespressekonferenz den Fragen der Journalisten stellte, war ein Montag. Es war der Beginn der Woche, an deren Ende die Krise dieses Sommers ihren Höhepunkt erreichte.
Die legendäre Nacht vom Freitag, dem 4. auf den 5. September, in dem die Kanzlerin(22) entschied, die aus Budapest Richtung Westen Flüchtenden in Deutschland aufzunehmen, barg mehrere Dimensionen. Es gab politische Abstimmungsprozesse, humanitäre Motive, aber es gab auch in den spätabendlichen Abstimmungen bereits rechtliche Erwägungen. Was als »Merkels Grenzöffnung« in die Geschichte einging, war aus Sicht der damaligen Akteure zunächst nie eine Entscheidung darüber, Grenzen zu öffnen. Die Grenzen waren ja offen.
In einer diplomatischen Depesche hatte die ungarische Regierung Österreich förmlich darüber informiert, worüber die Fernsehnachrichten bereits den ganzen Abend live berichteten: Tausende Menschen hatten sich von Budapest aus auf den Fußmarsch Richtung Westen gemacht. János Lázár(1), der Chef von Viktor Orbáns Staatskanzlei, erklärte, Österreich müsse entscheiden, ob es die Menschen ins Land lasse. Man werde Busse einsetzen, um sie an die Grenze zu transportieren. Der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann(1) bat Angela Merkel(23), die er am Rande einer Veranstaltung in Köln erreichte, daraufhin um Hilfe.
Merkel(24) hat die Entscheidung, die sie in dieser Situation traf, im Nachhinein immer wieder als humanitäre Antwort auf eine akute Notlage geschildert. Der Kanzlerin standen die Bilder des Lastwagens vor Augen, den man erst wenige Tage zuvor auf dem Seitenstreifen der österreichischen A4 entdeckt hatte. Im Laderaum hatte man 71 Leichen gefunden, 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder, erstickt beim Versuch, mithilfe von Schleusern nach Deutschland zu gelangen.
Die Flüchtlinge, die sich nun auf Österreich zubewegten, würden sich nur mit Gewalt aufhalten lassen, ahnte Merkel(25). Seit dem 21. Dezember 2007 gab es auch an der ungarisch-österreichischen Grenze keine Kontrollen mehr. Die Frage konnte nicht sein, ob man einen Schlagbaum heben, Grenzbeamte zum Durchwinken anweisen oder Tore öffnen solle. Die Frage war, ob und wie überhaupt man die offene Grenze schließen könnte. Weder Werner Faymann(2) noch Angela Merkel waren bereit, dafür neue Opfer zu riskieren.
Die Entscheidung, die Menschen in Deutschland aufzunehmen, sollte durch eine spätabendliche Telefondiplomatie zunächst politisch abgesichert werden. Merkel(26) telefonierte mit Faymann(3) in Wien, mit Frank-Walter Steinmeier(2), den sie bei einem EU-Außenministertreffen in Luxemburg erreichte, mit Vizekanzler Sigmar Gabriel(1) und Kanzleramtschef Peter Altmaier(1), der gerade auf dem Weg zu einer Wirtschaftskonferenz in den französischen Alpen war.
Bis in die Nacht und noch am nächsten Morgen auf der Bettkante in seinem Hotel in Evian telefonierte Altmaier(2) mit Ministern, Staatssekretären, Botschaftern und der bayerischen Staatskanzlei, um die »Ausnahmeentscheidung« der Bundesregierung zu erläutern. Er stieß nirgendwo auf Einwände. Es schien offensichtlich, dass in dieser Lage ein schnelles und unkonventionelles Handeln erforderlich war.
Nur an einer Stelle gelang die politische Absicherung nicht: Der bayerische Ministerpräsident war nicht zu erreichen. Von Karolina Gernbauer(1), der Chefin der Münchner Staatskanzlei, erfuhr Altmaier(3) lediglich, dass man Seehofer(17) nicht ans Telefon bekomme. Der CSU-Vorsitzende war nach einem Festakt zum 100. Geburtstag von Franz Josef Strauß(8) in der Münchner Residenz in sein oberbayerisches Wochenendhaus gefahren. Auch über seine Personenschützer könne man keinen Kontakt herstellen, hörte Altmaier aus München.
Ob Seehofer(18) tatsächlich, wie er später beteuerte, einfach so wie regelmäßig am Wochenende sein Handy ausgeschaltet, oder ob er – wissend um die Frage, die auf ihn zukommen würde – keine Anrufe angenommen hatte, blieb Stoff für Spekulationen. Seehofer, so ist von Mitgliedern der CSU-Spitze bis heute zu hören, wisse in heiklen Situationen immer wieder strategisch abzutauchen. Auch die eigenen Parteifreunde konnte er damit in die Verzweiflung treiben. Im September 2015 schuf er so die Voraussetzung dafür, die Verantwortung für die Entscheidung der Nacht fortan allein der Kanzlerin(27) zuzuweisen.
Schon am Sonntagabend, als der Koalitionsausschuss zu einem seit längerem geplanten Treffen im Kanzleramt zusammenkam, sprach Seehofer(19) von einem »Fehler« Merkels(28). Er wiederholte den Vorwurf später im CSU-Vorstand. DER SPIEGEL zitierte Seehofer in seiner nächsten Ausgabe mit dem Satz, der Fehler Merkels werde »uns noch lange beschäftigen«. Worin genau aber er den Fehler sah, ließ Seehofer offen. Meinte er eine mangelnde politische Abstimmung? Kritisierte er die humanitären Motive der Kanzlerin? Oder hielt er die Entscheidung schon zu diesem Zeitpunkt für rechtswidrig? Der Vorwurf war gravierend. Seehofer formulierte ihn bewusst in der ihm eigenen vagen Diktion. So öffnete er den Raum des Raunens, der Mutmaßungen und Spekulationen, der dann auch von anderen gefüllt werden konnte.
Was die Rechtmäßigkeit ihrer Entscheidung anging, wähnte sich Angela Merkel(29) auf der sicheren Seite. »Wir haben sogar noch die rechtlichen Implikationen überprüft: Kann man einen Notfall charakterisieren, ohne das Dublin-System aufzugeben?«, erklärte Merkel am 7. September 2015 nach einem Treffen mit ihrem österreichischen Kollegen Werner Faymann(4) im Bundeskanzleramt.
Frank-Walter Steinmeier(3) hatte nach dem Anruf der Kanzlerin(30) noch am Abend des 4. September die Juristen des Auswärtigen Amtes zu Rate gezogen. Ist rechtlich möglich, was politisch gewollt war? Die Frage wurde umgehend positiv beantwortet: Ja, die Aufnahme der Menschen aus Ungarn sei mit den Dublin-Regeln vereinbar, wurde dem Außenminister mitgeteilt. Auch hier könne sich Deutschland auf das Selbsteintrittsrecht nach Artikel 17 der Dublin-III-Verordnung berufen. Dublin verpflichte die Mitgliedstaaten dazu, ankommende Antragsteller zu registrieren und Asylverfahren durchzuführen. Es verbiete aber keinem Land, in die Bresche zu springen oder – aus welchen Gründen auch immer – Verfahren zu übernehmen, wenn andere das nicht täten. Aus Sicht der Juristen war das einleuchtend, denn man praktizierte das ja seit den Griechenland-Urteilen der obersten Gerichte regelmäßig, ohne dass je Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Praxis laut geworden wären. Steinmeier gab die Einschätzung an die Kanzlerin weiter.
Der Fokus der rechtlichen Fragen aber sollte sich schon bald verschieben. Als die Regierung ihre Entscheidung zur Aufnahme der Flüchtlinge traf, ging es allein um die Frage, ob man die Menschen aus Ungarn rechtmäßig aufnehmen könne. Erst Tage später, nachdem die ganze Dimension der Entscheidung offensichtlich wurde, rückte die Frage in den Mittelpunkt, ob man sie auch rechtmäßig abweisen könne. Das war das Thema, das auch innerhalb der Bundesregierung für eine juristische Kontroverse sorgen sollte, die sie noch Jahre später bis an den Rand des Bruches führte.
Knapp 7000 Menschen waren allein in der ersten Nacht des Wochenendes vom 4. und 5. September 2015 am Münchner Hauptbahnhof angekommen. Am Sonntag waren es rund 11 000. Und in den folgenden Tagen rollten immer neue Züge aus Österreich ein. Die Bilder von Münchner Bürgern, die die Ankommenden mit Willkommensplakaten und Blumen begrüßten, gingen um die Welt. Doch in den Behörden wuchs von Tag zu Tag die Sorge vor einem Kollaps.
Wann die Ausnahme ende, von der die Kanzlerin(31) gesprochen habe, fragte der bayerische Innenminister(20) Joachim Herrmann(1) Kanzleramtschef Altmaier(4) in drängenden Telefonaten. Eine klare Antwort erhielt er nicht. Bis zu 50 000 Menschen oder mehr könnten infolge der Berliner Entscheidung aus Budapest und nachrückend über die Balkanstaaten auf dem Weg nach Deutschland sein, schätzte man in Berlin. In München und Oberbayern kapitulierten derweil die zuständigen Kommunalbehörden vor der Aufgabe, die Ankommenden zu registrieren.
Landräte und Bürgermeister drängten darauf, die Menschen möglichst schnell auf andere Bundesländer zu verteilen. Kanzleramtschef Altmaier(5) willigte ein. Es begann eine wochenlange Phase, in der es nur noch darum ging, die ankommenden Menschen wie auch immer in verfügbare Notunterkünfte im ganzen Land zu verteilen. Die nach den Dublin-Regeln vorgeschriebene Registrierung würde man schon irgendwo und irgendwann nachholen. Das Wort vom Kontrollverlust machte die Runde.
In dieser Lage, knapp eine Woche nach der Entscheidung vom 4. September, verdichtete sich die Diskussion über eine Schließung der Grenzen. Das war der Punkt, an dem sich auch rechtlich die Geister schieden. Hier nahm die offene Kontroverse um die Rechtmäßigkeit der Flüchtlingspolitik ihren Lauf.
Am Samstag, dem 12. September, schaltete sich Thomas de Maizière(4) um elf Uhr vormittags mit den CDU-Innenministern der Länder zu einer Telefonkonferenz zusammen. »Wir brauchen jetzt Grenzkontrollen«, forderte Joachim Herrmann(2) aus München. Der bayerische Innenminister(21) erinnerte daran, dass man erst wenige Wochen zuvor beim G7-Gipfel in Elmau zeitlich befristete Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze eingeführt hatte. Was damals möglich gewesen sei, um gewaltbereite Demonstranten von der Einreise nach Deutschland abzuhalten, müsse auch in der jetzigen Ausnahmesituation möglich sein.
Herrmann brachte damit eine Regelung der Schengener Grenzvereinbarungen ins Spiel. Artikel 24 und die folgenden Artikel des Kodex in seiner damaligen Fassung erlauben es den Vertragsstaaten, bis zu 30 Tage lang in besonderen Fällen systematische Grenzkontrollen einzuführen, wenn die Sicherheit oder die öffentliche Ordnung des Landes ernsthaft bedroht ist.12
Die CDU-Innenminister(22) waren sich schnell einig: Wann, wenn nicht unter den seit einer Woche herrschenden Zuständen, sollten Grenzkontrollen gerechtfertigt sein? Innenminister (3)Herrmann rief seinen Ministerpräsidenten an: »Wir sind uns einig, Grenzkontrollen kommen«. In München ging man wie selbstverständlich davon aus, dass der Zustrom von Flüchtlingen nun bald an den Grenzen gestoppt würde.
Thomas de Maizière(5) informierte derweil den Kanzleramtschef. Altmaier(6) organisierte die Abstimmung in der Regierung. Am Nachmittag schaltete sich Angela Merkel(32) telefonisch mit Vizekanzler Gabriel(2), Außenminister Steinmeier(4), Innenminister(23) de Maizière und Altmaier zusammen. Horst Seehofer hatte sich aus München eingewählt.
Schnell war auch hier im Grundsatz Einigkeit hergestellt: Grenzkontrollen, ja. Aber nun wurde genauer gefragt: Wie soll das gehen? Können Menschen an der Grenze abgewiesen werden, die dort um Asyl bitten? Oder geht es vor allem darum, die Registrierung wieder in den Griff zu bekommen? Der Ministerrunde wurde klar, dass man nicht nur vor einem praktischen, sondern auch vor einem juristischen Problem stand. Wenn man überhaupt Menschen, die als Asylsuchende nach Deutschland kommen, zurückweisen könne, dann wohl nur diejenigen, die bereits in anderen Ländern registriert sind, war man sich einig. Der Innenminister(24) sollte klären, wie das genau bewerkstelligt werden könne.
Thomas de Maizière rief daraufhin für den nächsten Vormittag die gesamte Führungsspitze seines Ressorts zusammen: Staatssekretäre, Abteilungsleiter, Referatsleiter und der Chef der Bundespolizei Dieter Romann(1) trafen sich am Sonntag um 14 Uhr im Bundesinnenministerium am Moabiter Spreeufer. Einige der Teilnehmer waren telefonisch zugeschaltet. Die Besprechung wurde zu einem Schlüsselmoment der Flüchtlingskrise. Denn in der sonntäglichen Sitzung wurde nun bis ins Detail verhandelt, wie weit die Regierung gehen wollte, konnte und durfte, um in der akuten Krise zu handeln. Es war ein Gang an die Grenzen der Politik und des Rechts. Und er offenbarte, wo die Bruchlinien auch mitten durch die Regierung verliefen.
Thomas de Maizière(6) eröffnete die Sitzung und verkündete die Entscheidung der Regierungsspitze, unter Berufung auf die Ausnahmeklausel des Schengener Kodex Grenzkontrollen einzuführen. Niemand war überrascht. Die Sache hatte sich bereits herumgesprochen. Seine Leute stünden bereit, erklärte Romann(2). Noch am Tag zuvor hatte er seine Einheiten persönlich bei einem Großeinsatz gegen Neonazis und autonome Gegendemonstranten beim »Tag der Patrioten« in Hamburg begleitet. Der Bundespolizeichef war in seinem Werdegang und Wesen ein Mann der inneren Sicherheit. Neben dem schmalen Innenminister(25) war Romann eine bullige Erscheinung. Seit mehr als zehn Jahren war er in der Männerwelt der Polizei zuhause. Anfang der 2000er Jahre war er als junger Fachreferent in der Abteilung BGS des Bundesinnenministeriums für »Einsatzangelegenheiten« des damaligen Bundesgrenzschutzes zuständig gewesen. Bevor er 2012 selbst Chef der inzwischen in Bundespolizei umbenannten Truppe wurde, hatte der promovierte Jurist im Innenministerium das Referat Ausländerterrorismus und -extremismus geleitet.
Die Krise des Sommers 2015 bedeutete seiner Ansicht nach vor allem ein Sicherheitsrisiko – und für ihn hatte die Bundespolizei bereits bewiesen, dass sie in der Lage war, es effektiv in den Griff zu bekommen. Den Beweis hatte sie nach Auffassung ihres Präsidenten drei Monate zuvor mit der Durchführung der befristeten Grenzkontrollen im zeitlichen Umfeld des G7-Gipfels erbracht. Knapp 400 000 Personen waren dabei innerhalb von drei Wochen zwischen Ende Mai und Mitte Juni an den deutschen Landesgrenzen kontrolliert worden. 1185 Fahndungstreffer hatten die Beamten dabei erzielt und 151 offene Haftbefehle vollstreckt. In 14 000 Fällen wurden Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz festgestellt. Aus Sicht der Polizei war das deshalb nicht nur ein kriminalistisch erfolgreicher Beutezug, sondern auch ein Beleg dafür, »wie sehr das Thema der illegalen Migration die Bundesrepublik berührt und wie es um den Schutz der europäischen Außengrenzen bestellt ist.«13
Als Romann(3) über die bevorstehende Einführung von Grenzkontrollen informiert wurde, handelte er sofort. Über Nacht ließ er mit Hubschraubern Einsatzkontingente aus ganz Deutschland nach Oberbayern verlegen. Um 18 Uhr könne man loslegen, meldete Romann in der sonntäglichen Besprechung im Innenministerium. Was seine Leute im Frühsommer beschränkt auf den Schutz des Elmauer Gipfels demonstriert hatten, sollten sie nun im großen Maßstab zur Eindämmung der Flüchtlingskrise wiederholen.
Thomas de Maizière(7) leitete die Sitzung so, wie er das stets zu tun pflegte, wenn er vor wichtigen Entscheidungen stand: Er stellte Fragen. De Maizière war in seinem Haus bekannt als Chef, der nicht von oben herab kommandierte. Der Minister wollte, dass zunächst alles auf den Tisch kam, was für seine Entscheidung von Bedeutung war: Argumente dafür und dagegen, Fakten, Prognosen.
Wie genau also könne das mit der Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze funktionieren?, fragte de Maizière(8) den Bundespolizeichef. Würden dann sämtliche Autos an der Grenze kontrolliert? Was, wenn Frauen und Kinder auf die Polizei zumarschieren? Was, wenn es zu einem Massenansturm an der grünen Grenze kommt?
Romann(4) machte seinem Minister deutlich, dass er ein vorbereitetes Konzept der konsequenten Abriegelung verfolgte: Grenzübergänge an Straßen und Brücken sollten für alle, die man nicht ins Land lassen wolle, unpassierbar gemacht werden – Schutzsuchende ausdrücklich eingeschlossen. Das, so Romann(5), habe man schließlich erst vor wenigen Wochen beim G7-Gipfel in Elmau genau so praktiziert. Dass Elmau das Vorbild sein sollte, hatte Romann zuvor auch mit seinen Führungskräften besprochen.
Romanns(6) Konzept ging aber über den angeblichen »Probelauf« Elmau hinaus: Damals war es um koordinierte Straßenkontrollen in Absprache mit den österreichischen Kollegen gegangen und darum, Hooligans, Gewalttäter und gewaltbereite Globalisierungsgegner an der Einreise zu hindern. Jetzt dagegen ging es um die massenhafte Abwehr von Schutzsuchenden – und um deren abschreckende Symbolwirkung quer durch Europa.
De Maizière(9) ahnte: Es würde Szenen der Gewalt an den Grenzen geben. Das war eine politische Grenze, die er nicht überschreiten wollte. Behelmte Polizisten mit Schutzschildern, Schlagstöcken und Wasserwerfern, vielleicht sogar Soldaten im Einsatz gegen Flüchtlinge – das hatte man an der ungarischen Grenze scharf kritisiert. De Maizière wollte solche Szenen in Deutschland nicht verantworten. Für Romann hingegen waren diese Bilder, die anderen Teilnehmern der Sitzung Schauder über den Rücken jagten, gerade der Kern seines Konzepts.
Dennoch fragte de Maizière weiter: »Wie lange könnten Ihre Leute das durchhalten?« »Etwa eine Woche«, schätzten die Polizeifachleute. Dann würden die Kräfte erschöpft und keine Ersatzkontingente mehr verfügbar sein. Die Zeit aber werde genügen. Innerhalb von Stunden werde sich die Dynamik der Fluchtbewegung in ganz Europa wenden. Ein Land nach dem anderen werde die Grenzen schließen, sagte Romann(7) voraus. Am Ende würden es die Menschen aufgeben, sich noch auf den Weg nach Norden zu machen. Der Polizeichef nannte den erhofften Effekt eine »Schubumkehr«.
»Ist das mit Österreich abgesprochen?«, wollte De Maizière(10) wissen. Das sei Sache der Politik, wurde ihm beschieden. In diesem Augenblick war klar, dass die von Romann(8) geplante Grenzschließung eine massive Verwerfung in ganz Europa auslösen würde. Österreich hatte sowohl im Herbst 2015 als auch danach immer prompt Widerspruch erhoben, wenn in Deutschland laut über einseitige Grenzschließungen oder die Zurückweisung von Flüchtlingen nach Österreich nachgedacht wurde. Selbst die Einrichtung gemeinsamer Kontrollposten wie beim Elmauer G7-Gipfel lehnte die österreichische Regierung mehrfach ab. Menschen in großer Zahl einfach in das Nachbarland zurückzudrängen, womöglich gar mit Polizeigewalt – das hätte Deutschland in Europa nicht nur moralisch, sondern auch politisch an den Pranger gestellt.
De Maizière(11) ging es um Ordnung und die Frage, ob man Menschen dabei im Rahmen geregelter Kontrollen zurückweisen könne, wenn sie in anderen Ländern registriert waren. Doch auch hier waren die Fachleute und Führungskräfte des Bundesinnenministeriums gespalten. Der Minister fand zwei Fraktionen des eigenen Hauses vor sich: Die eine bestand aus der Riege der Sicherheitsexperten. Polizeichef Romann(9) allen voran, an seiner Seite der Leiter der für ihn zuständigen Abteilung »B – Bundespolizei« im Innenministerium Helmut Teichmann(1) sowie Stefan Kaller(1), Abteilungsleiter »ÖS – Öffentliche Sicherheit«. Aus der Spitze des Ministeriums machte sich vor allem der parlamentarische Staatssekretär Ole Schröder(1), Ehemann von Ex-Familienministerin Kristina Schröder(1), für die Zurückweisung von Flüchtlingen stark. Ihnen gegenüber standen die Fachbeamten der Verfassungs- und Migrationsabteilungen.
Die Sicherheitsexperten des Bundesinnenministeriums waren nicht erst seit dieser Krise eng miteinander verbunden. Neben denen, die am 13. September am Tisch des Ministers saßen, gehörte zu dem Netzwerk auch Hans-Georg Maaßen(1), der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz. Noch ein paar Jahre zuvor hatten er, Kaller(2) und Romann(10) in den für Polizei und Terrorbekämpfung zuständigen Referaten des Innenministeriums zusammengearbeitet. Von Kolleginnen und Kollegen wurden sie als oft raubeiniger Männerbund beschrieben.
In solchen Kreisen schwärmte man gern von den Zeiten unter Ministern wie Otto Schily(1) oder Wolfgang Schäuble(1), in denen man rechtliche Einwände auch mal burschikos beiseite wischen oder von einer rigiden »Selbstbehauptung des Rechtsstaats«14 träumen durfte, wenn es darum ging, Sicherheitsinteressen durchzusetzen. So hatte man einst das Luftsicherheitsgesetz mit der Regelung zum Abschuss gekaperter Passagierflugzeuge erdacht, die dann später vom Bundesverfassungsgericht kassiert wurde. So hatte man dem Bremer Murat Kurnaz(1), der unschuldig in Guantanamo inhaftiert war, die Rückkehr nach Deutschland verweigert, weil er es während der Haft versäumt habe, die Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Romann(11), Maaßen(2) und Kaller(3), die damals als junge Referenten und Fachbeamte Vorlagen für die Regierung zugeliefert hatten, saßen nun in den Spitzenpositionen des Sicherheitsapparats und verfolgten die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung mit wachsendem Argwohn. In den Sicherheitskreisen in Ministerium, Bundespolizei und Verfassungsschutz wurde der Innenminister(26) von vielen als schwache Figur gesehen, ein Bürokrat ohne eigene Agenda, politisch gesteuert von einer Kanzlerin(33) und ihren Vertrauten, die sich im Beifall einer humanitätsduseligen Öffentlichkeit gefielen.
Das Bundesinnenministerium ist zuständig für die Sicherheit im Land. Aber es ist auch zuständig für die Wahrung der Verfassung. Minister und Fachbeamte aus den Rechtsabteilungen nennen ihr Haus zuweilen gerne Verfassungsministerium, um daran zu erinnern, dass sie, auch wenn es um das Recht geht, für das Große und Ganze zuständig sind. Wenn bei internen Besprechungen zu heiklen Sicherheitsthemen die Fachleute aus beiden Welten des Ministeriums zusammenkommen, führen oft die Vertreter der Sicherheitsinteressen das erste Wort: »Wir müssen«, »man sollte«, »wir könnten«. Erst im Laufe des Gesprächs melden sich dann auch die Experten für Rechts- und Verfassungsfragen, die ihre voluminösen Gesetzeskommentare vor sich auf dem Tisch aufgetürmt haben. Dann kommen die Bedenken und Einwände, warum das alles doch nicht so einfach gehen könnte, weil es da eben Paragrafen, Urteile und rechtswissenschaftliche Meinungen zu beachten gibt.
Bei der sonntäglichen Besprechung am 13. September stand Hans-Heinrich von Knobloch(1) an der Spitze der Rechtsexperten. Der Leiter der Abteilung »V – Staats-, Verfassungs- und Verwaltungsrecht« arbeitete seit fast 25 Jahren im Innenministerium. Auch in Habitus und Argumentationsstil verkörperte der kunstsinnige und leise auftretende Beamte einen Gegenpol zu den robusten Sicherheitsleuten und parlamentarischen Staatssekretären mit ihren politisch forschen Thesen und Forderungen. Doch wenn es darum ging, Regierungsvorhaben auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, war von (2)Knobloch weit über das Innenministerium hinaus als Autorität anerkannt. Der Atomausstieg, die Abschaffung der Wehrpflicht und der Mindestlohn waren von ihm und seinen Mitarbeitern akribisch auf rechtliche Mängel abgeklopft worden. Wenn »die V« – wie die Abteilung regierungsintern genannt wurde – Bedenken anmeldete, gingen Gesetzestexte noch einmal zur Überarbeitung in die Fachministerien zurück. Von (3)Knobloch war immerhin der Mann, der als Vertreter der Bundesregierung auch regelmäßig im Karlsruher Gerichtssaal saß, wenn das Bundesverfassungsgericht über die Rechtmäßigkeit von Gesetzen verhandelte. Auch dort genoss von (4)Knobloch als ruhiger und unbestechlicher Kenner des Verfassungsrechts hohes Ansehen.
Auch Norbert Seitz(1) gehörte zu den Skeptikern. Der 61-jährige Jurist leitete die Abteilung »M« für »Migration, Integration und Flüchtlinge«. Seit langem engagierte er sich zudem im Bereich der Kriminalprävention. In der aktuellen Krise war er der Frontmann. Seitdem er 2012 Leiter der Migrationsabteilung geworden war, hatte er den Anstieg der Flüchtlingszahlen und die drohende Überforderung der Behörden verfolgt. Er kannte die Lage des BAMF und die unerhörten Hilferufe des Behördenchefs Manfred Schmidt(3), der die politisch Verantwortlichen immer wieder vergeblich um die Aufstockung seines Personals angefleht hatte. Mit Vertretern der Länder, Kommunen und dem Technischen Hilfswerk stand Seitz in Dauerkontakt, um die Verteilung und Unterbringung von Flüchtlingen zu organisieren. Zugleich hatte seine Abteilung das ganze Jahr über zusammen mit dem BAMF daran gearbeitet, verstärkt Flüge zur Rückführung abgelehnter Antragsteller nach Albanien, Mazedonien und in den Kosovo zu organisieren. Man hatte dafür gesorgt, dass örtliche Fernsehsender die Bilder der erfolglos Heimkehrenden übertrugen.
Seitz(2) aber wusste aus seiner Beschäftigung mit der Kriminalprävention auch, dass die Wirkung reiner Symbolpolitik meist schnell verpufft. Deshalb hatte man zusammen mit dem Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit Programme zur Wirtschaftsförderung in den Balkanländern entworfen und im Auswärtigen Amt gemeinsam mit EU-Partnern an einer Initiative zur Lösung der schwelenden Konflikte in der Region gearbeitet. Dass die Zahlen der Flüchtlinge aus dem Westbalkan im Sommer deutlich zurückgegangen waren, sahen Seitz und seine Migrationsfachleute als ersten Erfolg dieser Politik.
Unmittelbar neben Bundespolizeichef Dieter Romann(12) saß bei der Sonntagsbesprechung am 13. September Christian Klos(1) am Konferenztisch des Bundesinnenministeriums. Klos war Leiter des Referats Ausländerrecht, des Fachbereichs, der am detailliertesten mit den Rechtsfragen der Flüchtlings- und Migrationspolitik befasst war. Mitte der 90er Jahre hatte er seine Dissertationsschrift über »Rahmenbedingungen und Gestaltungsmöglichkeiten der europäischen Migrationspolitik« verfasst.15 Nicht nur wegen seiner weithin anerkannten Fachkompetenz hatte seine Stimme ein besonderes Gewicht. Auch politisch war Klos(2) bestens vernetzt. Er war persönlicher Referent des damaligen Staatssekretärs Peter Altmaier und Leiter des Ministerbüros von Wolfgang Schäuble gewesen. »Ich glaube an die Befolgung von Normen«, ließ sich der Beamte in einem späteren Portrait der FAZ zitieren.16
In der Ministerrunde vom 13. September war Klos der erste, der den Einsatzplänen von Bundespolizeichef Romann rechtliche Einwände entgegenhielt. Eine Zurückweisung von Schutzsuchenden an der Grenze stehe im Widerspruch zum Konzept des Dublin-Vertrags, erklärte Klos dem verdutzten Polizeipräsidenten. Klos(3) verschob damit den Fokus der Diskussion. Es ging nun nicht mehr allein darum, was an der Grenze durch die Einführung von Kontrollen nach dem Schengen-Kodex machbar war, welche Methoden die Polizei anwenden würde und welche Bilder um die Welt gehen oder vermieden werden sollten. Jetzt stand auch die Frage offen im Raum, welche Geltung die Grundsätze von Dublin noch beanspruchen könnten, wenn die Sonderregelungen von Schengen zur Einführung temporärer Grenzkontrollen angewandt würden.
Für Dieter Romann(13) hatte sich hier kein Konflikt zwischen unterschiedlichen Normkonzepten aufgetan, als er der Runde seine Einsatzpläne vorstellte. Der Bundespolizeipräsident war fest überzeugt: Wenn an den Grenzen kontrolliert würde, könnten auch Schutzsuchende zurückgewiesen werden. Das habe man schließlich auch beim Elmauer Gipfel so gemacht, erklärte der Polizeichef seinem Innenminister. 1132 Menschen, so rechnete die Bundespolizei vor,17 seien während der Kontrollen im Zusammenhang mit dem G7-Gipfel an der Grenze zurückgewiesen worden, und zwar »auch im Fall vorgebrachter Asylgesuche«.18 Dabei habe man schlicht die »bestehende Rechtslage« angewandt, beteuerte die Bundespolizei. Nach wie vor wird darauf immer wieder hingewiesen, wenn belegt werden soll, dass bei den Elmau-Kontrollen doch offenbar auch rechtlich möglich gewesen sei, was dann später angeblich aus rechtlichen Gründen abgelehnt wurde.
Was aber tatsächlich im Rahmen der Kontrollen beim Elmauer Gipfel an der deutsch-österreichischen Grenze geschehen ist, liegt in einer ungewöhnlichen Grauzone. Die Darstellungen des Geschehens aus dem Bundesinnenministerium jedenfalls zeichnen im Rückblick ein anderes Bild als die der Bundespolizei: Wenn Schutzsuchende auf deutschem Boden kontrolliert worden seien und dabei um Asyl ersucht hätten, seien sie auch damals entsprechend der Dublin-Regeln ins Land gelassen worden, um zu klären, wer für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. Eine Zurückweisung von Asylsuchenden habe es nicht gegeben, beteuert man im Innenministerium.
Wie die von der Bundespolizei genannte Zahl von mehr als 1000 Zurückweisungen in den Wochen der Elmau-Kontrollen zustande gekommen ist, weiß niemand mehr genau zu erklären. Es waren Menschen darunter, die keine Papiere hatten und solche, die als mögliche Gewalttäter von den Demonstrationen gegen den G7-Gipfel ferngehalten werden sollten. Dass auch Flüchtlinge und Migranten in die Kontrollen gerieten, war zu diesem Zeitpunkt ein Aspekt, dem man im Ministerium keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Der Zweck der Kontrollen war im Frühsommer schließlich ein anderer gewesen. Was den Umgang mit Asylsuchenden betraf, ging man im Ministerium davon aus, dass sich nichts an der bis dahin geltenden Praxis ändern werde, also Asylbegehren geprüft und die Dublin-Verfahren beachtet würden. Eine Besonderheit bestand allerdings darin, dass ein erheblicher Teil der Grenzkontrollen im Mai und Juni an den gemeinsam mit der österreichischen Grenzpolizei bewachten Kontrollstellen auf österreichischem Boden stattfand. Wer dort um Asyl in Deutschland nachsuchte, hatte deutschen Boden noch nicht betreten und konnte unstrittig an der Einreise gehindert werden, bevor hier die Dublin-Regeln zur Zuständigkeitsfeststellung gegriffen hätten und entsprechende Überstellungsverfahren hätten durchgeführt werden müssen.
Diese Voraussetzung, Schutzsuchende noch vor Übertreten der Grenze an der Einreise nach Deutschland zu hindern, war im September nicht mehr gegeben. Aus Sicht der Rechtsexperten des Innenministeriums stand damit fest, dass – so wie auch die Regierung es immer wieder beteuerte – Dublin ganz normal galt. Die Normalität von Dublin bedeutete nach ihrer Auffassung: Einfach an der Grenze abweisen durfte man nur Menschen, die kein Asyl in Deutschland beantragten. Würde sich die Bundesregierung einfach über das Grundprinzip der Dublin-Verordnung hinwegsetzen, drohte nach Ansicht der Rechts- und Migrationsfachleute die endgültige Implosion des Regelwerks. Wenn sich das größte und in diesen Tagen am meisten betroffene Land der EU wissentlich von der EU-Verordnung verabschieden würde, gäbe es keinen Weg mehr zurück in den Rahmen des Rechts. Seit mehr als 20 Jahren hatten die Fachjuristen des Ministeriums an dem Ausbau des Asylrechts gearbeitet. Sie kannten die Schwächen des Systems und sahen, dass es im Moment der größten Belastung nicht so funktionierte, wie es gedacht war. Aber sie wollten es nicht aufgeben. Sie wussten, dass die EU-Kommission und auch die Bundesregierung nach wie vor für eine Weiterentwicklung des gemeinsamen Asylsystems kämpften. Würde man es jetzt kurzerhand für obsolet erklären, wäre man auf einen Schlag ins vergangene Jahrtausend zurückversetzt. Es wäre dann kaum möglich, je wieder dahin zu kommen, wo man mit Dublin nun schon einmal war.
Noch während der Sitzung telefonierte de Maizière mit dem Kanzleramt und informierte Merkel und Altmaier über den Dissens in der Spitze seines Hauses. Die Telefonate aus dem Sitzungsbereich des Innenministeriums wurden im Nachhinein zum Gegenstand raunend verbreiteter Erzählungen: Der Minister sei von »ganz oben« angewiesen worden, etwas zu tun, was er eigentlich nicht gewollt habe. Kanzleramtschef Peter Altmaier(7) wurde in diesem Narrativ zum Vollstrecker einer Entscheidung der Kanzlerin, die – um ihren Ruhm als oberste Flüchtlingshelferin fürchtend – eine Grenzschließung untersagte, mehr noch: Je mehr die Kritik an der Politik Merkels zur mythischen Erzählung vom bewussten Rechtsbruch umgeformt wurde, desto mehr wurde de Maizière(12) darin zur tragischen Figur stilisiert, die von Merkel und Altmaier daran gehindert wurde, zu tun, was er selbst für rechtens gehalten habe.
Plausibler aber ist, dass de Maizière(13) in dieser Situation keineswegs und schon gar nicht gegen seinen Willen einer Direktive der Kanzlerin(34) folgte. Merkel selbst ging ja am Sonntag schließlich noch davon aus, dass man nach der telefonischen Abstimmung mit Gabriel(3) und Steinmeier(5) vom Vortag mit der Einführung von Grenzkontrollen auch die Zurückweisung von Antragstellern veranlassen werde. Erst als de Maizière ihr vom Dissens seiner Fachleute berichtete, war auch der Kanzlerin klar, dass eine Zurückweisung von Asylsuchenden an der Grenze in einen rechtlichen Konflikt führen würde. Merkel und de Maizière dürften sich einig gewesen sein: Unter diesen Umständen konnte es politisch keine gewaltsame Abriegelung der Grenzen und rechtlich keine Zurückweisungen im Rahmen der geplanten Kontrollen geben.
Dass de Maizière(14) selbst glaubte, mit dieser Entscheidung auf rechtlich sicherem Boden zu stehen, lag im Naturell eines Politikers, der ursprünglich selbst aus der obersten Bürokratie und nicht aus der Politik kam. Er hatte nach der Juristenausbildung bei Richard von Weizsäcker(1) und Eberhard Diepgen(1) in der Berliner Senatskanzlei gearbeitet, seinen Cousin Lothar de Maizière(1) beim Aufbau der letzten demokratisch gewählten Regierung in der DDR unterstützt, war Chef der Staatskanzleien in Schwerin und Dresden gewesen, bevor Angela Merkel(35) ihn 2005 zu ihrem ersten Kanzleramtschef machte. Erst ein Jahr zuvor hatte er selbst erstmals ein politisches Wahlamt errungen und sich ein Mandat im sächsischen Landtag gesichert. De Maizière blieb immer eher Staatsdiener als politischer Staatslenker.
Mit einem solchen Selbstverständnis war es schwerlich vereinbar, sich so nonchalant wie die Sicherheitsleute über Einwände und Bedenken der zuständigen Juristen im eigenen Haus hinwegzusetzen. Otto Schily(2) hätte das gekonnt. Wolfgang Schäuble(2) als Innenminister vielleicht auch. Aber einem wie de Maizière(15) lag es fern, eine Entscheidung zu treffen, die nicht die Unbedenklichkeitsbescheinigung eines Verfassungsjuristen wie von Knobloch(5) oder eines Fachmanns wie Klos(4) hatte. De Maizière wusste schließlich auch: Selbst die politische und symbolische Wirkung einer spektakulären Grenzabriegelung würde verpuffen, wenn die Justiz sie nach kurzer Zeit, vielleicht sogar in einem Eilverfahren, aufheben würde, weil sie mit den geltenden Regeln nicht vereinbar war.
De Maizière(16) teilte seiner Leitungsrunde mit: Grenzkontrollen würden eingeführt, Zurückweisungen aber könne es nicht geben. Wer über die Grenze gekommen sei und Asyl beantragt habe, müsse nach den Dublin-Regeln behandelt werden. Dieter Romann(14) schäumte. Es sei lautstark und emotional geworden, erinnern sich Sitzungsteilnehmer. Doch Romann war klar, dass ihm nur die Bitte um Entlassung oder der Gehorsam des untergeordneten Beamten blieb. Widerwillig fügte sich der Polizeichef der Weisung des Ministers und änderte den Einsatzbefehl an seine Truppen. Sie würden Kontrollen durchführen. Sie würden versuchen, Schleuser zu ermitteln und festzunehmen. Sie würden Menschen, die nicht um Asyl nachsuchten, an der Grenze abweisen. Das alles war möglich und ohne Zweifel rechtens. Wer aber in Deutschland Schutz beantragte, würde auch weiterhin ins Land gelassen. Dublin galt. Ihren Frieden mit der Entscheidung haben die Sicherheitsleute nicht mehr gemacht.
Thomas de Maizière(17) zweifelte nicht daran, dass er rechtlich auf der sicheren Seite war. Viel mehr als ein gefestigtes Rechtsgefühl aber war das nicht. Die Diskussion im Ministerium war dazu nicht genügend in die Tiefe der juristischen Fragen gegangen. Sie war dominiert gewesen von dem Machbarkeitsdenken der Sicherheitsleute. Es war mehr um Grenzblockaden, Wasserwerfer und Polizeikontingente gegangen als um Paragrafen und die komplexen Überlagerungen nationaler und europäischer Rechtsordnungen. Die Festlegung, zu Dublin zu stehen und ein vollständiges Auseinanderbrechen des europäischen Asylsystems nicht hinzunehmen, war eine wichtige Weichenstellung gewesen. Doch es sollte sich zeigen, dass es auch jenseits dieser Grundsatzentscheidung noch rechtliche Weggabelungen gab.
Als sich die öffentliche Diskussion über die Flüchtlingspolitik der Regierung im Herbst auch innerhalb der Unionsparteien zuspitzte, wuchs damit auch der Druck, die eigene Rechtsposition genauer zu klären und abzusichern. An der Oberfläche der Debatte, die in das offene Zerwürfnis zwischen Angela Merkel(36) und Horst Seehofer(27) mündete, ging es um die Forderungen der CSU nach einer »Obergrenze« und Transitzentren an der Grenze. Darunter aber lag immer wieder die gleiche Frage: Unter welchen Umständen können Asylsuchende an der Grenze zurückgewiesen werden, sei es, wenn eine wie auch immer definierte Obergrenze erreicht ist, sei es, wenn sie aus Transitzonen im Grenzbereich wieder ausgewiesen werden sollen?
Vor allem in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gärte der Unmut. Abgeordnete wie der ehemalige Bundespolizeidirektor Armin Schuster(1) und der frühere Polizeikommissar Clemens Binninger(1) waren bestens mit der Spitze der Bundespolizei verdrahtet. Sie kannten die Position von Dieter Romann(15) genau und wussten, dass er im entscheidenden Moment vom Innenminister(28) ausgebremst worden war. Als Angela Merkel(37) Anfang Oktober in der Bundestagsfraktion erklärte, niemand glaube doch wohl ernsthaft, man könne die deutschen Grenzen vollständig schließen, widersprachen (2)Schuster und (2)Binninger unter dem Beifall vieler Kolleginnen und Kollegen. Er wisse aus eigener Erfahrung, dass auch Zurückweisungen an der Grenze machbar seien, rief (3)Schuster. Was sollten Grenzkontrollen denn auch bewirken, wenn sie nicht auch die Entscheidung darüber ermöglichten, wer in das Land einreisen darf und wer nicht? Der Traum offener Grenzen war für ihn zu einer Bedrohung geworden, der Schengen-Vertrag »längst abgebrannt«.19
In München fuhr derweil Horst Seehofer(29) das dickste juristische Geschütz auf, das die Verfassung ihm bot: Der Vorsitzende der Regierungspartei CSU drohte der Kanzlerin(38) und der von ihm mitgetragenen Bundesregierung mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Seehofer zeichnete ein apokalyptisches Bild: »Wir können nicht dauerhaft jedes Jahr mehr als eine Million Menschen aufnehmen«, mahnte der CSU-Vorsitzende. Von »Notwehr« war die Rede und von der Möglichkeit, die bayerische Polizei an den Grenzen einzusetzen, um zu tun, was die Bundespolizei unterlassen musste: Flüchtlinge abweisen.20
In Berlin rüstete man sich angesichts des eskalierenden Streites mit juristischer Expertise. Angela Merkel(39) hatte Anfang Oktober ihren Kanzleramtschef Peter Altmaier(8) mit der regierungsinternen Koordinierung der Flüchtlingspolitik beauftragt. In den Medien wurde das als Entmachtung des Innenministers kommentiert, der zwar selbst bei der Kanzlerin und bei Altmaier um Entlastung gebeten hatte, aber wohl nicht das Maß der Kompetenzverlagerung erwartet hatte, mit der Merkel und Altmaier die Sache an sich zogen.
Ein knappes Dutzend Beamte aus verschiedenen Ministerien wurden in einer Stabsstelle zusammengezogen. Als Leiter holte Altmaier(9) einen Spitzenjuristen an seine Seite: Der 48-jährige Jan Hecker(1) war seit vier Jahren Richter am 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts und hatte davor eine steile Juristenkarriere hingelegt. In seiner Promotion hatte er sich mit Verfassungsfragen der europäischen Integration beschäftigt und eine außerplanmäßige Professur an der Viadrina-Universität in Frankfurt an der Oder erhalten. 1999 war er aus einer der großen, internationalen Anwaltskanzleien ins Bundesinnenministerium gewechselt. Dort fiel er Peter Altmaier auf, als dieser in der ersten Regierung Merkels(40) Staatssekretär bei Wolfgang Schäuble(3) im Innenministerium wurde. Als Hans-Georg Maaßen(3) dort zum Unterabteilungsleiter befördert wurde, rückte Hecker auf dessen Posten als Leiter des Referats Ausländerrecht nach und wurde zum anerkannten Fachmann in dem Themenbereich, mit der er nun als Leiter des Koordinierungsstabs Flüchtlingspolitik konfrontiert war.
Hecker(2) wurde nicht nur als Organisator, sondern auch als Jurist gefordert. Denn unter dem Eindruck der scharfen Kritik in der Fraktion und den Klagedrohungen aus Bayern wollte sich die Regierung auch rechtlich noch einmal absichern. Zudem aber hatte man auch selbst kalte Füße bekommen. Kann und muss man wirklich unter allen Umständen an der am 13. September beschlossenen Linie festhalten? Was würde man tun, wenn der Strom der Flüchtlinge nicht abreißen und Seehofers düstere Prognosen wahr würden?
Ganz sicher war man sich nicht. Angela Merkel(41) hatte versprochen, die Zahlen der Ankommenden mit einem Mix aus Maßnahmen zu reduzieren. Im BAMF hatte der Innenminister(30) den überforderten Präsidenten Schmidt ausgewechselt und den Vorstandsvorsitzenden der Bundesagentur für Arbeit Frank-Jürgen Weise als harten Sanierer eingesetzt. In Verhandlungen mit der Türkei wollte Merkel dafür sorgen, dass die Versorgung der syrischen Flüchtlinge dort verbessert wird, damit sie sich nicht weiter auf den Weg nach Westeuropa machen.
Doch niemand wollte und konnte völlig ausschließen, dass sich die Lage nicht noch einmal erneut und noch weiter zuspitzen würde. Was, wenn die Verhandlungen über eine Einbindung der Türkei in die Sicherung der EU-Außengrenzen scheitern würden? Neue Krisen an den Rändern der EU – auf dem Balkan, im Nahen Osten, in Nordafrika – könnten neue Fluchtbewegungen in Gang setzen. Alle Bemühungen, den Zustrom von Menschen nach Europa einzudämmen, könnten sich dann als unzureichend erweisen. Müsste es die Bundesregierung auch dann hinnehmen, dass all diejenigen, die es bis nach Deutschland schaffen, im Rahmen der Dublin-Verpflichtungen aufgenommen werden?
Noch in der sonntäglichen Ministeriumsbesprechung vom 13. September hatte Thomas de (18)Maizière seine Juristen beauftragt, die Rechtslage genauer zu klären. Die Experten der Verfassungs- und der Migrationsabteilung schlossen sich daraufhin mit den Fachbeamten des Bundesjustizministeriums zusammen, um ein internes Gutachten zu erstellen, das verschiedene Interpretationsmöglichkeiten der Rechtslage und Handlungsoptionen der Regierung aufzeigen sollte. Der genaue Inhalt des Papiers, das am 15. Oktober fertiggestellt war, ist bis heute nicht bekannt. Als Journalisten Wind davon bekamen und mit Anträgen nach dem Informationsfreiheitsgesetz versuchten, die Herausgabe zu erzwingen, verweigerte die Bundesregierung das mit dem Argument, es handele sich lediglich um ein sogenanntes Non-Paper, eine unfertige Gedankensammlung. Doch ist bis heute in Regierungskreisen von dem Papier die Rede. Auf wenigen Seiten, so viel ist zu erfahren, wurde die rechtliche Ausgangslage skizziert. Zwei denkbare Argumentationslinien, die eine Grenzschließung mit Zurückweisungen rechtfertigen könnten, wurden genannt.
Man könnte möglicherweise argumentieren, die Einführung von temporären Grenzkontrollen nach dem Schengener Kodex setze die Dublin-Verpflichtungen außer Kraft. Dann falle man gleichsam in den rein nationalen Rechtsrahmen zurück; das deutsche Asylgesetz wäre dann nicht mehr von der EU-Verordnung überlagert, und es würde gelten, was § 18 Absatz 1 des Asylgesetzes regelt: Einem Antragsteller »ist die Einreise zu verweigern, wenn er aus einem sicheren Drittstaat einreist«. Das aber wäre eine gewagte Interpretation. Denn eine solche Wechselwirkung, nach der Dublin nur dann gelten würde, wenn auch Schengen in vollem Umfang gilt, war in keiner der Regelungen vorgesehen. Selbst als Horst Seehofer(31) drei Jahre später als Innenminister das Thema der Zurückweisungen noch einmal brachial auf die Tagesordnung setzte, ging er nicht soweit, eine solche Rechtfertigung auch nur in den Raum zu stellen.
Die andere Rechtfertigungsstrategie, die von den Experten des Innenministeriums ins Spiel gebracht worden war, wurde fortan immer wieder als juristische Ultima Ratio genannt: Wenn eine Lage entstünde, in der ein Massenzustrom von Flüchtenden tatsächlich zu einem bedrohlichen Notstand führe, dann, aber auch nur dann, könne man sich durchaus über europarechtliche Bindungen hinwegsetzen. Die Juristen verwiesen dazu auf eine Klausel des Vertrags über die Arbeitsweise in der EU (AEUV), des Grundlagengesetzes der Europäischen Union.
Artikel 72 AEUV ist darin eine Art Notausschalter: Er stellt klar, dass das Europarecht nicht die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für den Erhalt der inneren Sicherheit und öffentlichen Ordnung einschränkt. Damit, so glaubte man, habe man eine Option in der Hinterhand, um sich im Notfall über die Dublin-Regeln hinwegsetzen und Asylsuchende an der Grenze zurückweisen zu können.
Als die Fachleute des Innen- und Justizministeriums diese Rechtsauslegung entwarfen, war die Bundesregierung indes entschlossen, auf das heikle Instrument der Zurückweisung von Schutzsuchenden an der Grenze zu verzichten. Angela (42)Merkel setzte stattdessen auf einen Erfolg ihrer Türkei-Diplomatie. Um eine Kettenreaktion von Grenzschließungen im Zentrum Europas zu vermeiden, sollten die Außengrenzen durch den Pakt mit (1)Erdoğan verriegelt werden. Im Inneren arbeiteten Jan Heckers Flüchtlingsstab im Kanzleramt und das Bundesinnenministerium daran, das Räderwerk der Behörden wieder in einen stetigen Gang zu bringen. Der neue BAMF-Leiter Weise hatte das Personal der Behörde aufgestockt und damit begonnen, den Rückstau von unbearbeiteten Anträgen abzubauen. Tempo und Quantität der Verfahren waren jetzt wichtiger als Qualität. Aber man hatte das Gefühl, die Lage allmählich wieder in den Griff zu bekommen. Unter diesen Bedingungen würde sich Deutschland nicht mehr auf eine staatsbedrohende Notlage berufen können, um die Geltung des Europarechts außer Kraft zu setzen, war sich die Bundesregierung sicher.
Wäre das Anfang September noch anders gewesen? Hätte man sich da vielleicht doch auf die Notklausel des AEUV berufen können, um eine Schließung der Grenzen für Schutzsuchende zu legitimieren?
Die Regierung wich der Frage aus. Das Papier der Juristen im Innen- und Justizministerium wanderte in den Giftschrank, ohne dass die Regierung sich auf eine Haltung zu den darin skizzierten Rechtsauslegungen festlegte. Man wollte die Sache nicht abschließend entscheiden, um sich alle Optionen offenzuhalten. Außerdem fürchtete man, dass sich Horst Seehofer(32) provoziert fühlen könnte, tatsächlich die angedrohte Klage in Karlsruhe einzureichen, wenn die Bundesregierung jetzt darauf beharrte, sich auf rechtlich sicherem Boden zu bewegen. De Maizière(19) und Altmaier(10) hatten schließlich nicht die Sorge, Seehofer könne eine Schließung der Grenzen erzwingen. Denn selbst die gewagteste Rechtsauslegung der Fachleute ging nicht soweit, eine Verpflichtung der Regierung zur Grenzschließung zu behaupten. Es ging allenfalls darum, die Möglichkeit von Zurückweisungen an der Grenze in einer künftigen Notlage zu rechtfertigen. Politisch aber wollte man es unbedingt vermeiden, dass der bayerische Koalitionspartner tatsächlich gegen die eigene Bundesregierung in Karlsruhe zu Felde zieht.
Die Beziehung zwischen der Kanzlerin(43) und dem CSU-Chef war inzwischen auch persönlich schwer angeschlagen. Beim CSU-Parteitag Ende November hatte Seehofer(33) die Bundeskanzlerin wie eine Schülerin neben sich stehen lassen und über seine Obergrenzenforderung belehrt. Merkel hatte das schweigend mit sich geschehen lassen. Auch jetzt wollte sie den Streit nicht weiter eskalieren lassen. Der Zwist sollte durch sichtbare Erfolge der praktischen Politik entschärft und nicht durch Grundsatzdebatten weiter am Köcheln gehalten werden. Dabei war man aus guten Gründen sicher, im Falle eines offenen Rechtsstreits die besseren Karten in der Hand zu haben. Den Akteuren im Kanzleramt und an der Spitze des Innenministeriums aber war es wichtiger, den brüchigen Scheinfrieden in der Koalition zu wahren, als auf eine Klärung der Rechtslage zu drängen. Auch als Thomas de Maizière(20) im Dezember, unmittelbar vor einem CDU-Parteitag, in einem Interview der WELT AM SONNTAG auf das Rechtsthema angesprochen wurde, wich der Minister aus. Die Regierung habe sich »bisher politisch dagegen entschieden«, Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen, antwortete de Maizière auf die Frage, ob das deutsche Asylgesetz nicht zur Zurückweisung von Flüchtlingen verpflichte. Das deutsche Recht werde in »vielerlei Hinsicht vom europäischen überlagert«, erklärte der Minister vage und ließ bewusst offen, wie genau das auch im Asylrecht galt. »Darüber kann man rechtlich lange diskutieren«. De Maizière hoffte, sich den Rechtsstreit vom Leibe halten zu können. Er täuschte sich. Denn während die Regierung eine Klärung und Erklärung ihrer rechtlichen Haltung vermied, nahm die Diskussion darüber andernorts erst richtig Fahrt auf.