Der Zufall wollte, dass schon Anfang Oktober 2015 die ehrwürdige Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer zu ihrer Jahrestagung zusammenkam. Das tut sie seit 1949 jedes Jahr im Herbst, und in diesem Jahr war der Schauplatz des Treffens die pfälzische Domstadt Speyer, Standort der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften. 312 Staatsrechtslehrer aus Deutschland, Österreich und der Schweiz waren erschienen. Das Tagungsthema: »Verfassung als Ordnungskonzept«.
Nichts an Programm und Verlauf der Tagung verriet, dass sich Staat und Recht in der Bundesrepublik Deutschland Anfang Oktober 2015 in einer Situation befanden, die sich von der der Jahre 2014 oder 2013 großartig unterschieden hätte. Das Thema Flüchtlinge und Grenzen spielte in Speyer in allen offiziellen Teilen der Veranstaltung überhaupt keine Rolle. Kein Wunder, so kurz nach dem Vorgang, dessen genaue Konturen zum damaligen Zeitpunkt ja noch niemand im Detail kannte: »Wir waren ja alle in der Rolle von Fernsehzuschauern«, sagt der Münchner Verwaltungsrechtsprofessor und damalige Vorsitzende der Staatsrechtslehrervereinigung Martin Burgi(1) im Rückblick. Das Tagungsthema stand bereits seit einem Jahr fest, die wie immer umfangreichen und sorgfältigst ausgearbeiteten Referate waren längst geschrieben. Die Debatten verliefen genauso balanciert, zivil und um minimale Anstoßnahme bemüht wie in jedem anderen Jahr auch. Um sich über die flüchtlingspolitischen Aktualitäten auszutauschen, blieb während des offiziellen Tagungsprogramms kaum Spielraum.
Unter der Oberfläche aber, in den informellen Runden während der Kaffeepausen und Abendempfänge brodelte es umso heftiger. Schon bei der Eröffnung der Tagung regten sich manche vernehmlich darüber auf, dass mit der einzigen Ausnahme des Speyerer Oberbürgermeisters Hansjörg Eger(1) es niemand für angezeigt hielt, in den Begrüßungsworten das Thema Flüchtlinge überhaupt nur zu erwähnen. Beim Empfang der rheinland-pfälzischen Landesregierung auf dem Hambacher Schloss brachte der Münchner Verfassungsrechtsprofessor und Richter des Bundesverfassungsgerichts Peter M. Huber(1) die Unzufriedenheit, die viele empfanden, offen zum Ausdruck. Wie könne es sein, fragte Huber seinen Münchner Fakultätskollegen Burgi(2), dass sich die Staatsrechtslehrerzunft auf ihrer Jahrestagung über Standardthemen unterhalte, während ganz Deutschland über nichts anderes rede als die Flüchtlingskrise? Die deutsche Wiedervereinigung vor 25 Jahren habe die Staatsrechtslehrervereinigung immerhin zum Thema einer Sondertagung gemacht. Jetzt gehe es wieder um Lebensfragen des Landes, und zwar um solche, die in die Kernkompetenz der Wissenschaft vom öffentlichen Recht fallen. Und die Staatsrechtslehrerschaft halte es nicht für nötig, sich dazu zu verhalten?
Mit dabei stand der Kölner Staatsrechtsprofessor Otto Depenheuer(1). Gemeinsam mit seinem Wiener Kollegen Christoph Grabenwarter(1) leitete Depenheuer damals den »Schönburger Kreis«, eine Gesprächsrunde, die er mit Huber(2) und einigen anderen dem konservativ-liberalen Spektrum zuneigenden Staatsrechtslehrern vor Jahren gegründet hatte. Depenheuer machte einen Vorschlag: Wenn die Staatsrechtslehrervereinigung sich schon nicht zu interessieren schien – warum dann nicht eine Sondertagung des Schönburger Kreises veranstalten?
Seinen Namen hat dieser Gelehrtenzirkel von der Schönburg, einem Schlosshotel im rheinischen Oberwesel unweit von Bonn auf steilem Felsen 130 Meter oberhalb des deutschen Stroms gelegen. In diesem Gemäuer ließ im Hochmittelalter, Anno Domini 1149, der grimmige Pfalzgraf Hermann von Stahleck(1) seinen Rivalen Otto von Rheineck(1) erdrosseln.1 Siebeneinhalb Jahrhunderte später kaufte die Burg am Rhein, in den Franzosenkriegen arg zerstört, ein New Yorker Bankier mit dem passenden Namen T. J. Oakley Rhinelander(1). Heute befindet sich hier ein Hotel nebst Restaurant, wo man »im stilvollen Ambiente des Barbarossa-, Prinzessinnen- und Kapellenzimmers« übernachten kann und »Feinstes aus Küche und Weinkeller in ritterlichen Räumen und mittelalterlicher Tracht« serviert bekommt.2 Bis vor kurzem tagten die Mitglieder noch in der spartanischen Einfachheit eines ebenfalls in dem Burgareal untergebrachten Kolpinghauses bei Kartoffelsalat und paniertem Fischfilet. Das Kolpinghaus ist mittlerweile geschlossen und das Gebäude wurde vom benachbarten Schlosshotel übernommen, das den Staatsrechtslehrern gute Konditionen einräumte: Heute speist man viergängig (was aber auch nicht allen gefällt).3
In der Staatsrechtslehrervereinigung, dieser einst so erlesenen Institution, fühlen sich viele ältere Staatsrechtsprofessoren schon lange nicht mehr richtig wohl. Über 700 Mitglieder hat die Vereinigung mittlerweile, zu ihren Tagungen reisen 300, 400 Leute an. Es ist ein nivelliertes Feld ohne allzu große Höhen und Tiefen – ganz anders als die um wenige, wolkenumkränzte Autoritäten gruppierte Wissenschaftslandschaft, die man früher kannte. Früher musste ein Staatsrechtslehrer (i. d. R. ein Mann) auf der Höhe seiner Macht nur zum Telefonhörer greifen, um in seinem weit gespannten Netzwerk einem nach jahrelangem gehorsamen Dienst fertig habilitierten Schüler (ebenfalls i. d. R. ein Mann) die wohl verdiente Professur zu beschaffen, auf dass dieser seinerseits zahlreiche Schüler in die Welt setze und mit Lehrstühlen versorge und man selbst als greiser Patriarch dereinst über einer wimmelnden Schar akademischer Nachkommen die segnende Hand erheben könne.4 Das läuft heute alles so nicht mehr. Die heutigen jungen Leute treiben sich lieber in London, Florenz und New York herum und entwickeln auf ihren Juniorprofessuren und Fellowships ein schockierendes Maß an Widerspruchsgeist, und will man ihnen einen bescheidenen, aber ordentlichen Posten als Lehrstuhlassistent anbieten, dann antworten sie kühl, sie fänden in Kopenhagen oder in Toronto oder an diesem oder jenem Max-Planck-Institut deutlich attraktivere Konditionen vor, um sich wissenschaftlich zu entfalten.
Auch die Debattenkultur, da sind sich viele einig, war früher besser. Bis heute zehrt die Vereinigung vom Glanz des gewaltigen, weit über die Grenzen des Faches hinausstrahlenden intellektuellen Feuerwerks, das in den 20er Jahren auf ihren Jahrestagungen entzündet wurde, wo Geistesriesen wie Carl Schmitt(1), Hans Kelsen(1) und Hermann Heller(1) mit ihrem legendären »Methodenstreit« zwischen »Positivisten« auf der einen und »Geisteswissenschaftlern« auf der anderen Seite ihre Klingen kreuzten.
Und heute? Eine sehr durchformalisierte Angelegenheit sind die Tagungen geworden, mit vielen vorformulierten Statements und wenig Kontroverse. Man weiß noch immer von jedem, welcher Partei er oder sie nahesteht, und in der Staatsrechtslehrervereinigung wird bei allen Entscheidungen, von der Vorstandswahl bis zur Referentenliste, nach wie vor auf politischen Proporz geachtet. Aber umso weniger wird noch richtig gestritten. Die Leute, die heute in der Staatsrechtslehrervereinigung das Wort führen, sind längst nicht mehr so rechts und autoritär wie einst, aber so richtig links sind sie auch nicht. Das alles macht gerade den alten Herren, die die alte Glorie noch von früher kennen, keinen rechten Spaß mehr. Sie fühlen sich marginalisiert, missachtet, nicht ernst genommen und umstellt von den Fallen der Political Correctness. Viele bleiben den Staatsrechtslehrertagungen im Herbst lieber fern. Umso lieber fahren sie im Frühjahr auf die Schönburg hinauf, wo es noch ein bisschen so ist wie früher, wo man sich kennt und vertraut, fast alles Männer, die meisten Inhaber von Lehrstühlen an altehrwürdigen westdeutschen Universitäten und unverdächtig, einen mit Gender- oder Postkolonialismusstudien und dergleichen behelligen zu wollen. Ein Ort, an dem das Staatsrechtslehrertum alter Schule und strikter Observanz noch ganz bei sich ist.5 Ein Zufluchtsort. Ein Ort zum Überdauern.
Ein Ort auch, um nachzuholen, was auf der Staatsrechtslehrertagung in Speyer versäumt worden war. Und so trafen sich die Mitglieder des Kreises, soweit sie Zeit und Interesse hatten, am 11. und 12. Dezember 2015 im Bonner Universitätsclub (die Schönburg war als Tagungsort so kurzfristig nicht verfügbar). Der Ertrag hielt sich indessen in Grenzen. Einige nutzten ihren Vortrag, um Kulturkritik am Zustand von Staat, Recht und Gesellschaft zu üben und den Mangel an Staatsverantwortung und juristischer Gedankenschärfe unter den »Romantikern« und »Gesinnungsethikern« der Willkommenskultur mit Sarkasmus zu überhäufen. Andere referierten nüchtern über rechtliche Einzelaspekte der Asyl- und Migrationspolitik wie Integration oder das Konzept sicherer Drittstaaten oder die Anforderungen der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wieder andere entfalteten rechtspolitische Forderungen nach Grenzen, Obergrenzen und einer strikteren Trennung von Asyl und Arbeitsmigration. Wer indessen eine juristische Analyse erwartet hatte, die das konkrete flüchtlingspolitische Handeln und Unterlassen der Bundesregierung zu einigermaßen klar benannten Rechtsnormen ins Verhältnis gesetzt hätte, der hoffte vergebens. Das sei auch gar nicht zu erwarten gewesen, so die Teilnehmer. Das Treffen sei mehr ein »Selbstfindungsprozess« gewesen, eine »offene Suche nach Antworten« auf schwierige rechtliche Fragen von großer Tragweite.
Knapp zwei Monate später, am 8. Februar 2016, erschien die schriftliche Fassung der Bonner Vorträge in einem schmalen Bändchen in der Reihe »Schönburger Schriften zu Staat und Recht«. Titel: Der Staat in der Flüchtlingskrise. Zwischen gutem Willen und geltendem Recht. »Der Rechtsstaat«, heißt es im Vorwort des Bändchens,6 »ist im Begriff, sich im Kontext der Flüchtlingswelle zu verflüchtigen, indem das geltende Recht faktisch außer Kraft gesetzt wird. Regierung und Exekutive treffen ihre Entscheidungen am demokratisch legitimierten Gesetzgeber vorbei, staatsfinanzierte Medien üben sich in Hofberichtserstattung, das Volk wird stummer Zeuge der Erosion seiner kollektiven Identität.«7 Manche der Autoren, die ihre Beiträge mit diesen Worten eingeleitet sahen, befremdeten diese Sätze, sowohl vom Inhalt wie von der alarmistischen Diktion her. Das Vorwort sei den Autoren von (2)Depenheuer und (2)Grabenwarter nicht vorgelegt worden, sagt etwa der Bonner Staatsrechtslehrer Klaus Ferdinand Gärditz(1). Es suggeriere auch »etwas anderes, als drinsteht«.
Wer nur das Vorwort las, konnte den Eindruck gewinnen, dass hier »16 Staatsrechtslehrer in Sorge« auf Basis ihrer juristischen Expertise der Bundesregierung einen Bruch geltenden Rechts bescheinigten und nachwiesen. Dass die überwiegende Anzahl der Beiträge dieses Bandes diesen Anspruch gar nicht einlöste, entging zwar nicht der juristischen Fachöffentlichkeit.8 Aber die Botschaft, mit diesem Band sei die Bundesregierung nach allen Regeln der Staatsrechtskunst des Rechts- und Verfassungsbruchs überführt, war in der Welt und fand ihre Abnehmer. Als am 18. Mai 2018 die AfD-Bundestagsfraktion ihre Organklage gegen die »Grenzöffnung« vor dem Bundesverfassungsgericht der Presse vorstellte9 und der Journalist Christian Rath(1) mit bohrenden juristischen Fachfragen nachsetzte, hielt der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion Jürgen Braun(1) jenen dünnen Band in die Höhe – gleichsam als autoritatives Zeugnis für die Richtigkeit der juristischen Argumentation der AfD. »Die wesentlichen Staatsrechtler der Bundesrepublik Deutschland« seien da versammelt, sagte Braun andächtig,10 die »absoluten Topleute«, die »großen Denker«.
Ein Beitrag in dem Büchlein dürfte dem AfD-Mann besonders gut gefallen haben. Er stammte vom Mitherausgeber Otto Depenheuer(3) selbst: »Flüchtlingskrise als Ernstfall des menschenrechtlichen Universalismus« ist er überschrieben.11 Depenheuer inszeniert darin ein Drama von apokalyptischer Grimmigkeit: Auf der Bühne lässt er die fröhliche, menschheitsumarmende Gegenwart aufmarschieren, beseelt von der »›Friede, Freude, Eierkuchen‹-Mentalität einer saturierten, weithin entpolitisierten und von ihrer moralischen Werteorientierung am meisten begeisterten Wellness- und Spaßgesellschaft«,12 in der die »Unterschiede des Geschlechts, der Abstammung, der Rasse, der Sprache, der Heimat, Herkunft und Staatsangehörigkeit, des Glaubens und der Weltanschauung keine Rolle mehr spielen«.13 Doch dieses heitere Völkchen, wie es da durch seine idyllische Welt universeller Brüderlichkeit tanzt, ist bedroht. Draußen lauert – der Ernstfall. Ein katastrophisches Ereignis, eine Naturgewalt: die »Flüchtlingswelle«. Rund 1,3 Millionen Menschen soll sie »nach Deutschland gespült«14 und die »überkommenen normativen Regelwerke« unseres Landes »buchstäblich lawinenartig mitgerissen«15 haben. Diese Erfahrung, so Depenheuer, sollte uns aus unserer »Rechtsvergessenheit« herausreißen und uns lehren, dass rechtsstaatlicher Katastrophenschutz nicht ohne Ausgrenzung zu haben ist.
Der Ernstfall: Das ist ein Argument mit Tradition in der Staatsrechtslehre. Seit Carl Schmitt(2) 1922 sein berühmtes Wort von der Souveränität dessen prägte, der über den Ausnahmezustand entscheidet,16 macht damit die eine Hälfte der Staatsrechtslehrerschaft der anderen die Geltungsgründe ihres Staatsrechts streitig. Der Ernstfall – das ist sozusagen der Ort, von dem aus sich der Rechtsstaat von außen betrachtet. Das ist dort, wo das Recht nicht mehr hinreicht und nur noch die Macht zählt. Wo es gebrochen wird, weil es gebrochen werden muss. Wo der Staat sich nicht mehr um Verfahren und Zuständigkeiten und Rechtsansprüche schert, sondern nur noch um seine schiere Existenz: Krieg, Aufstand, Naturkatastrophe. Der Ernstfall: Das ist Helmut Schmidt(1), der als Hamburger Innensenator bei der großen Sturmflut 1962 das Verwaltungsrecht entschlossen beiseiteschiebt, um der Not zu wehren. Das ist der Krisenstab der von der RAF erpressten Bundesregierung im Terrorherbst 1977, der das »Undenkbare denkt« (und sich dann aber doch für das Recht entscheidet). Der Ernstfall: Da kriegt so mancher Staatsrechtslehrer fiebrig glänzende Augen. Und keiner mehr als Otto Depenheuer(4).
Knapp zehn Jahre zuvor hatte Depenheuer(5) schon einmal eine ganz ähnliche Geschichte erzählt. »Als sich die zwei Passagierflugzeuge in die Türme des WTC bohrten«, schrieb er 2007,17 »war es mit einem Schlag vorbei mit Integration, Autopoiesis und Selbstreferentialität. Die Spaßgesellschaft verstummte und hintergründige Angst machte sich breit.« In Osama Bin Laden(1) sei dem freiheitlichen Verfassungsstaat ein Feind entgegengetreten, nicht nur ein Krimineller. Gegen ihn und sein Gefolge kämpfte er nicht um seine Geltung, sondern um seine Existenz. Weshalb er, zumindest als »verfassungstheoretische Option«,18 aufhören könnte, wenn nicht gar sollte, ihn als Inhaber von Rechten zu behandeln. Auch nach geltendem Verfassungsrecht sei er im Rahmen einer Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit durchaus frei, zur »Feindgefahrenabwehr« auch mal das Undenkbare zu denken: »Maßnahmen der präventiven Sicherungsverwahrung ebenso (…) wie solche der Internierung potentiell gefährlicher Personenkreise oder die kontrovers diskutierte Frage nach einer – rechtsstaatlich domestizierten – Folter«.19
Depenheuers Buch – erschienen in der gleichen Reihe wie später das Flüchtlingskrisen-Bändchen – war damals ein ziemlicher Knaller, und das nicht nur wegen der wohligen Gruselschauer, die es mit seiner Agent-Jack-Bauer-Martialität der für solche Reize immer aufgeschlossenen Spaßgesellschaft über den Rücken trieb. Der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble(4), immerhin der oberste Verfassungsschützer der Bundesrepublik, empfahl das Buch in einem Zeitungsinterview ausdrücklich zur Lektüre.20 Dass der Rechtsstaat mit dem Ernstfall tatsächlich Ernst machen könnte, erschien für einige Zeit als reale Möglichkeit (und die war es anderenorts ja auch, siehe das von Depenheuer(6) ebenfalls als »verfassungstheoretisch mögliche Antwort«21 empfohlene Guantanamo). Dazu kam es bekanntlich nicht. Der Ernstfall blieb aus, und Depenheuer – ein fröhlicher Rheinländer, ausgesprochen angenehm in der persönlichen Begegnung22 – kehrte an sein Kölner Katheder und zu seinem Hobby und Zweitberuf, dem Orgelspiel,23 zurück. Bis 2015 die »Flüchtlingskrise« kam, und mit ihr die nächste Gelegenheit, den Ernstfall vom Zaun zu brechen.
Der Depenheuer(7)-Ernstfall 2015 unterschied sich aber in einem Punkt ganz maßgeblich vom Depenheuer-Ernstfall 2007: Es gab keinen Feind. Die Flüchtlinge waren Fremde, aber keine Feinde – jedenfalls in ihrer überwältigenden Mehrzahl. Sie hatten mit dem, was sie legaler- oder illegalerweise taten, nicht die Vernichtung und Verneinung des Rechtsstaats als solchen zum Ziel. Sie suchten nicht Krieg und Terror, sondern Schutz vor Krieg und Terror. Und zwar beim Rechtsstaat. Sie machten Rechte geltend.
Zum Ernstfall wird für Depenheuer(8) die Ankunft von 1,3 Millionen Nichtfeinden aber gerade dadurch, dass sie auf deutschem Boden Rechte geltend machen. Die Rechte, die der Rechtsstaat den Asylsuchenden gewährt, sind sozusagen die Flut, in der er versinkt. Indem er Rechte wahrt, setzt er sich ins Unrecht. Der Rechtsstaat wird sein eigener Ernstfall. Damit lässt sich alles delegitimieren, was den Staat rechtlich bindet, und zugleich alles legitimieren, was ihn ermächtigt. Wer über dieses Werkzeug verfügt, braucht nicht einmal mehr großen Begründungsaufwand zu betreiben. Dass das geltende Recht auf Ausschluss und Zurückweisung hinausläuft, versteht sich dann buchstäblich von selbst.
So wehrhaft wie Depenheuer(9) schaute unter den Schönburgern sonst kaum einer unter der Helmzier hervor. Aber dass der Staat in der »Flüchtlingskrise« einen Not- und Ausnahmezustand zu bewältigen hatte – mit dieser Diagnose stand Depenheuer im Winter 2015/16 nicht alleine.
Auch der Würzburger Staatsrechtsprofessor Kyrill-Alexander Schwarz(1) fragte in seinem Beitrag zu dem Tagungsbändchen,24 ob »die Herrschaft des Rechts durch die Macht des Faktischen in Frage gestellt« sei und womöglich auf »überpositives Notstandsrecht« zurückgegriffen werden müsse. Eine Antwort blieb er aber schuldig. Wie hätte er die auch geben sollen? Was die geltende Verfassung an Notfallregeln bereithält, passte alles nicht. Und über das, was jenseits des Punktes gilt, an dem das Recht zu gelten aufhört – darüber können Juristen ohnehin nicht kompetent Auskunft geben. Das kann, siehe Carl Schmitt(3), nur der Souverän.
Die Staatsrechtslehre ist, wie die moderne deutsche Rechtswissenschaft generell, seit jeher ein »zutiefst romantisches Projekt«.25 Sie gibt sich nicht gern zufrieden mit dem, was ihr der Gesetz- und Verfassungsgeber an geltendem, positivem Recht hinstellt, sondern sucht dahinter nach dem Idealen und Eigentlichen. Nach dem Untergang des alten Reiches 1806 waren es Professoren an den vielen verschiedenen Landesuniversitäten des zersplitterten Deutschlands, die aus der föderalen, vielfach noch absolutistisch und polizeistaatlich geprägten Vielfalt des öffentlichen Rechts sowie dem vergleichenden Studium anderer Verfassungsordnungen ein »allgemeines Staats- und Verwaltungsrecht« extrahierten – »ein Recht, das als solches nirgends galt«, das aber die ersehnte liberale Einheit Deutschlands sozusagen vorwegnahm.26 Das war ein sehr deutsches Vorhaben. In keinem anderen europäischen Land wäre es der Rechtswissenschaft eingefallen, geschweige denn gelungen, sich in dieser Weise an Gesetzgeber, Bürokratie, Justiz und Anwaltschaft vorbei selbst zum Ausgangs- und Fluchtpunkt der Verfassungsordnung zu machen.
Daran änderte sich auch nach der Reichseinigung 1871 nichts Grundlegendes, zumal es bis zum Ende der Weimarer Republik im öffentlichen Recht, anders als im Zivil- und Strafrecht, weiterhin kaum einheitliche Gesetzgebung und Rechtsprechung gab, die der Wissenschaft in die Quere hätten kommen können. Die berühmte Weimarer Staatsrechtslehre hatte allen Platz der Welt, ihre großartigen Gedankengebäude zu errichten. Und als ab 1933 der Nationalsozialismus anfing, das positive Verfassungs- und Verwaltungsrecht der Republik als »überholt« aus dem Fenster zu werfen, fand das Gros der Staatsrechtslehrerschaft da gar nichts dabei.
In der Bundesrepublik ab 1949 änderte sich das Selbstverständnis der durch ihre NS-Nähe in weiten Teilen ohnehin zutiefst kompromittierten Staatsrechtslehre. Das Bundesverwaltungsgericht und vor allem das Bundesverfassungsgericht traten auf den Plan und nahmen die Aufgabe, das öffentliche Recht systematisierend zu durchdringen und fortzuentwickeln, immer mehr in die eigene Hand. Die Wissenschaft fand sich ihrerseits ab den 60er Jahren zunehmend in der Rolle des Dialogpartners der Bundesgerichte wieder und nahm nunmehr demütig deren Rechtsprechung als ihr hauptsächliches Studienobjekt unters Mikroskop.
Umgekehrt lasen sich vor allem die Urteilsbegründungen des Bundesverfassungsgerichts immer mehr wie gelehrte Traktate. Wie sehr viele Staatsrechtslehrer diese Rollenumkehr schmerzte, wurde in dem Stoßseufzer offenbar, den der später als Romanautor zu Ruhm gelangte Bonner Staatsrechtsprofessor Bernhard Schlink(1) 1989 über den »Bundesverfassungsgerichtspositivismus« seiner Zunft ausstieß: »Die Staatsrechtswissenschaft lebt publizistisch im Ghetto ihrer Fachzeitschriften und inhaltlich im Bann des BVerfG.«27
Was aber erhalten blieb, war der Drang zur Eigentlichkeit jenseits des geltenden positiven Rechts.28 So bestand etwa die bundesdeutsche Verfassungsdoktrin bis zuletzt darauf, dass hinter der vom Grundgesetz verfassten realen Bundesrepublik der eigentliche deutsche Nationalstaat weiter fortexistiere – das Deutsche Reich nämlich, das den großen Vorzug besaß, in seiner geisterhaften Fortexistenz keinerlei Gegenstück in der Realität zu haben, und daher umso besser dazu taugte, nicht nur die real existierende DDR, sondern auch die Bundesrepublik in ihrer unvollkommenen und provisorischen Realität zu delegitimieren.29
Als sich nach dem Grundlagenvertrag 1973 und dem dazugehörigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts30 die Existenz zweier realer deutscher Staaten nicht länger leugnen ließ, entmutigte das den Drang zur Eigentlichkeit in der Staatsrechtslehre keineswegs. Die Staatlichkeit der Bundesrepublik wurde nun zusehends selbst etwas, das theoretisch gegen das positive Verfassungsrecht in Stellung gebracht werden konnte. Die »Entscheidung der Verfassung, die allen anderen ihrer Entscheidungen vorausliegt und sich in ihnen aktualisiert«, schrieb 1987 einer der Hauptprotagonisten dieser Denkschule, der Bonner Staatsrechtslehrer Josef Isensee(1), sei die »Entscheidung zur Staatlichkeit. Sie ist das Basisprinzip der Verfassung.«31 Deutschland als Staat ist, so gesehen, nicht nur das, was die Verfassung verfasst. Der Staat ist nicht nur Adressat von verfassungsrechtlichen Geboten und Verboten zum Schutz von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grund- und Menschenrechten, nicht nur Produkt von Verfassungsnormen, die seine Institutionen, Zuständigkeiten, Befugnisse und Verfahren begründen. Sondern er ist selber geboten. Der Staat selbst ist Norm. Und zwar vor der Verfassung.
In der bundesrepublikanischen Realität der 80er Jahre kam diese Lehre kaum je in die Verlegenheit, sich als Maßstab zur Lösung konkreter Fälle bewähren zu müssen. Die Gedankenburg des bundesrepublikanischen Staatsrechts wuchs unterdessen immer höher in den Himmel und gipfelte schließlich ab 1987 im Handbuch des Staatsrechts, einer auf sieben monumentale Bände angelegten, von Isensee(2) und Paul Kirchhof(1) herausgegebenen Summe des gesamten Denkens und Trachtens dieser wissenschaftlichen Schule.32
Dann fiel die Mauer. Das Ideal wurde Wirklichkeit, das Volk der Deutschen vollendete »in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands«,33 die Zahl der »Deutschen im Sinne des Grundgesetzes«34 näherte sich der der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger im Sinne des Ausweisdokuments auf einen Schlag um 16 Millionen an. Ein erheblicher Teil der alt-neuen Bundesbürgerinnen und Bundesbürger hatte indessen erwartet, an der gesamtdeutschen verfassungsgebenden Gewalt nunmehr irgendwie teilhaben zu dürfen, anstatt einfach nur dem bundesdeutschen Verfassungsbestand ohne viel weitere Umstände beizutreten – aus Sicht einer Theorie, die den Staat als vorgelagert gegenüber der Verfassung sieht, kein so fernliegender Gedanke, sollte man meinen. Das hätte freilich das Ende des bekannten und bewährten Grundgesetzes bedeutet und damit die Experten, die diesen Text von Berufs wegen interpretieren, eines Gutteils ihrer Autorität beraubt. Damit wollten sich diese dann doch in ihrer ganz überwiegenden Zahl nicht anfreunden.35 Wie folgerichtig diese Abwehrhaltung war, interessierte einstweilen niemanden, zumal sie mit der politischen Entscheidung, die Einheit durch einen schnellen Beitritt zum Grundgesetz herzustellen, ohnehin gleichlief.36
Zum anderen aber, und vielleicht noch wichtiger, schob sich eine neue Rechtsrealität ins Bewusstsein der Staatsrechtslehrer – und zwar eine, die ihre Doktrin von der Staatlichkeit als Verfassungsvoraussetzung massiv auf die Probe stellte: die Europäische Union. Bis dahin hatte das Europarecht den meisten deutschen Staatsrechtlern als eine Domäne von Sonderlingen gegolten, die sich mit Warenverkehrsfreiheit und dergleichen beschäftigten. Doch jetzt ließ sich die Realität einer neuen supranationalen Verfassungsordnung in Europa nicht länger ignorieren.
Das Ende des Ost-West-Konflikts und seine europapolitischen Konsequenzen blieben nicht ohne Folgen. Ab den 90er Jahren begann die Dominanz des etatistischen Flügels im öffentlichen Recht erst allmählich, dann immer schneller zu schwinden. An der eigentlich stockkonservativen Münchner Fakultät tauchte Mitte des Jahrzehnts ein furcht- und respektloser junger Bursche namens Christoph Möllers(1) auf, der sich vorgenommen hatte, in seiner Doktorarbeit dem »Staat als Argument« gehörig auf den Zahn zu fühlen.37 Das Buch wurde zum Klassiker und Möllers zu einem der einflussreichsten Verfassungsjuristen seiner Generation. Die Isensees(3) und Kirchhofs(2), bis dahin das Maß aller Dinge in der Wissenschaft vom öffentlichen Recht, sahen mit einem Mal buchstäblich alt aus – alt, und auf provinzielle Weise desinteressiert an dem, was im vergrößerten Deutschland, in Europa und rings herum in der Welt geschah. Die jüngere Generation hatte zumeist einen Teil ihres Studiums in London, Harvard, Chicago oder Yale verbracht und von dort nebst allerlei Critical Legal Studies und Law and Economics die Erkenntnis mitgebracht, wie sehr die Fixiertheit auf den Staat als Rechtsmaßstab politischen Handelns eigentlich eine deutsche Marotte war, die man im Ausland niemandem erklären konnte.
Dazu kam, dass unter der Ägide liberaler Juristen wie Wolfgang Hoffmann-Riem(1) (Hamburg), Eberhard Schmidt-Aßmann(1) (Heidelberg) und Andreas Voßkuhle(1) (Freiburg) eine Denkschule entstanden war,38 die sich ohne falsche Bescheidenheit »Neue Verwaltungsrechtswissenschaft« nannte und für sich in Anspruch nahm, die hergebrachte »juristische Methode« im öffentlichen Recht infrage zu stellen:39 Nicht allein auf den Rechtsakt, auf das Gesetz, die Verordnung, die behördliche Anordnung und ihre Kontrolle und Systematik komme es an, sondern auf das gesellschaftliche Problem,40 das dieser Rechtsakt lösen soll – und eben allzu häufig nicht besonders gut löst. Statt immer nur am hoheitlichen Rechtsbefehl herumzuforschen und sich im Lamento über dessen Verfall und Niedergang zu ergehen, solle die Wissenschaft vom öffentlichen Recht lieber mithelfen, den Gründen für Vollzugs- und Steuerungsdefizite des Rechts auf die Spur zu kommen, und sich nützlich machen dabei, ihm wieder zu mehr Wirksamkeit zu verhelfen. Der Standpunkt dieser Denkschule war nicht die Außenperspektive des Ernstfalls, die immer gleich der ganzen Rechts- und Verfassungsordnung mit der Geltungsfrage droht, sondern die Binnenperspektive des gesetzgeberischen und administrativen Maschinenraums: Wenn da mal etwas nicht funktioniert, ist das noch lange kein Grund, gleich schreiend nach draußen zu laufen und den Ausnahmezustand auszurufen.
Wie sehr diese Binnenperspektive zum Mainstream in der Staatsrechtslehre geworden war, offenbarte sich im Oktober 2016, als sich die Staatsrechtslehrer erneut zu ihrer Jahrestagung trafen, diesmal im oberösterreichischen Linz. Der Vorstand der Staatsrechtslehrervereinigung hatte mittlerweile auf die Erschütterung reagiert, die ein Teil der Mitglieder durch die Vorgänge des »Flüchtlingssommers« 2015 erfahren hatte: »Migrationssteuerung im Mehrebenensystem« hieß das erste Thema der Linzer Tagung, die unter dem Generaltitel »Grenzüberschreitungen« stand. Inwieweit lässt sich Migration durch Recht überhaupt steuern? Wer steuert da – der souveräne Nationalstaat, Europa, das Völkerrecht, alle zusammen – und mit welchem Ziel? Dies zu klären, war Auftrag und Ziel der beiden Referenten Stephan Breitenmoser(1), ein Europarechtler aus Basel, und Kerstin Odendahl(1), Völkerrechtsprofessorin an der Universität Kiel.
Migrationssteuerung – das Wort allein musste den konservativen Staatsrechtlern wie eine Provokation erscheinen, und zwar in doppelter Hinsicht: »Migration« fasst Flucht und Zuwanderung unter ein und denselben Begriff, als sei nicht das eine ein Recht auf Zeit und das andere ein Privileg auf Dauer. Und »Steuerung« suggeriert, dass hier der Staat wieder einmal nur windelweiche Verhaltensanreize setzt, anstatt mit hoheitlichem Befehl Ordnung zu schaffen und diese notfalls mit Zwang durchzusetzen.
Nun also: Migrationssteuerung. Was die beiden Referenten zutage förderten, war nicht weiter überraschend: Mit großer Sorgfalt dröselten beide auseinander, wie die völker-, europa- und verwaltungsrechtlichen Instrumente ineinandergreifen, und ließen dabei auch nicht unerwähnt, wie unvollkommen und schlecht aufeinander abgestimmt sie konzipiert sind und angewandt werden. Was es an Ursachen und Ablauf der Krise zu skandalisieren gab, war das Ungleichgewicht in der Verteilung der Lasten, die Überforderung der süd- und osteuropäischen Länder an der EU-Außengrenze und deren Unvermögen bzw. Unwillen, ihre europarechtlichen Pflichten zu erfüllen und Flüchtlinge korrekt zu registrieren, zu behandeln und zu versorgen. An der vermeintlichen »Grenzöffnung« durch die Bundesregierung dagegen fanden beide Referenten nichts weiter auszusetzen. Im Gegenteil, so Kerstin Odendahl(2): »Eine Rückführung oder gar eine Abweisung der Schutzsuchenden an der Grenze war und ist rechtlich nicht ohne weiteres möglich.«41
Niemand widersprach. Ein Staatsrechtslehrer nach dem anderen meldete sich in der anschließenden Diskussion zu Wort, und nicht einer bestritt diesen Befund. Stattdessen konzentrierte sich die Kritik, soweit sie sich nicht um Begrifflichkeiten oder technische Aspekte der beiden Referate drehte, auf die Politik und nicht auf das Recht: Christian Hillgruber(1) geißelte den »Pullfaktor«, zu dem sich die Europäische Menschenrechtskonvention für Flüchtlinge entwickelt habe, und forderte die Mitgliedstaaten auf, dem durch völkerrechtliche »Auslegungsvereinbarungen« entgegenzuwirken.42 Den Direktor des Bonner Max-Planck-Instituts Christoph Engel(1) erfüllte mit Sorge, wie einzelne Mitgliedstaaten durch die Drohung mit offen rechtswidrigem Handeln ihre »Aushandlungsmacht« in Europa steigerten.43 Eine regelrecht apokalyptische Vision trug Frank Fechner(1) von der TU Ilmenau vor, der die versammelten Staatsrechtslehrer daran erinnerte, dass sie dereinst ihren »Kindern und Enkeln« darüber Rede und Antwort stehen müssten, was sie in diesen Tagen sagen, tun und lehren, ohne aber zu präzisieren, was das denn seiner Meinung nach genau sein sollte.44
Einen anderen Ton schlug indessen Josef Isensee(4) an, der fast 80-jährige Spiritus Rector der Staatsrechtslehrer strikter Observanz: Das System der Öffnung der Binnengrenzen und der Verteilung der Asylbewerber in Europa, so Isensee bei der Diskussion in Linz, bilde »heute einen Scherbenhaufen. Die Mitgliedstaaten suchen sich jeweils eine passende Scherbe heraus, die meisten eine, die einen Vorwand liefert, sich vor dem Massenansturm zu retten. Nur Deutschland holt sich aus dem Scherbenhaufen die Scherbe des Selbsteintrittsrechts heraus, um seinen nationalen Alleingang zu rechtfertigen und Unionstreue zu demonstrieren. Doch hat ein Ausnahmetatbestand überhaupt noch normative Kraft, wenn das Regelwerk, zu dem er gehört, zerbrochen ist?«45
Das klang gerade so, als wolle Isensee(5) der Bundesregierung – apropos Rechtsbruch – vor allem das Versäumnis ankreiden, das Europarecht in der Stunde angeblicher Not nicht entschlossen genug gebrochen zu haben. Aber damit war Isensee noch nicht fertig: Exekutive und Judikative, fuhr er fort, offenbarten im Umgang mit nicht asylberechtigten Ausländern eine Scheu vor »hässlichen Bildern« und vor dem »Grundkonflikt (…), den auch der Jurist in sich austragen muss: zwischen der Härte des allgemeinen Gesetzes, in dem sich auch Staatsraison verkörpert, auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem weinenden Gesicht und dem Appell der Humanität, hier zu helfen, sich wenigstens im Einzelfall über das Recht hinwegzusetzen, wenn nicht gar es auf einen humanitären Staatsstreich ankommen zu lassen, wie wir ihn – jedenfalls dem Nimbus nach – in Deutschland erlebt haben.«
Ein »humanitärer Staatsstreich« also, »jedenfalls dem Nimbus nach«. Eine rätselhafte Wortwahl: War die rechtmäßige Regierung von Menschenrechtsaktivistinnen gestürzt worden? Das war es wohl kaum, was Isensee(6) mit dieser Formulierung sagen wollte. Aber was dann? Hatte seiner Meinung nach der Fehlgriff in den angeblichen »Scherbenhaufen« die Verfassung außer Kraft gesetzt? Oder wollte er vielleicht einfach nur mal tüchtig auf die Ernstfall- und Ausnahmezustandspauke hauen, um die versammelten Migrationssteuerer aus ihrer Selbstzufriedenheit zu reißen?
Allen in Linz war klar, dass das europäische Flüchtlingsrecht entsetzlich schlecht funktionierte. Aber warum sollte das die Dublin-III-Verordnung gleich zu einem »Scherbenhaufen« machen und das Selbsteintrittsrecht zu einer Scherbe ohne »normative Kraft«? Die Mitgliedstaaten sind rechtlich verpflichtet, sich um die Flüchtlinge, die bei ihnen Asyl beantragten, zu kümmern, ihnen ein rechtsstaatliches Verfahren zu geben und zumindest erst mal zu prüfen, wer für sie zuständig ist, anstatt sie sich nur wechselseitig zuzuschieben und als Refugees in Orbit im Niemandsland staatlicher Verantwortungslosigkeit ihrem Schicksal zu überlassen. Diese Pflicht soll in der Notsituation der »Flüchtlingskrise« ausnahmsweise nicht gelten oder sogar in ihr Gegenteil, eine Pflicht zur Zurückweisung, umschlagen?
Eine Reihe von Juristen hatte sich unterdessen, teils im Auftrag, teils aus eigener Initiative, längst an die Arbeit gemacht, die Rechtslage zu untersuchen. Was sie zutage förderten, erwies sich allerdings kaum als geeignet, den Streit zu befrieden.