Mitte der 70er Jahre entwarf der Bayreuther Verfassungstheoretiker Peter Häberle(1) die optimistische Vision einer Gesellschaft, die sich in einem lebendigen und vielfältigen Diskurs über ihre Verfassung verständigt. Nicht von oben herab sollten Gelehrte, Richter und Politiker diktieren, was als Grundlage der Staats- und Rechtsordnung gilt. Verfassung, so meinte Häberle(2), müsse in einem lebendigen Austausch von Argumenten, Beobachtungen und Lebenserfahrungen den Wandel von Werten und sozialen Realitäten einer Gesellschaft spiegeln. Häberle(3) nannte dieses Ideal »die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten«.1
Wie wenige andere deutsche Rechtstheoretiker fand Häberle(4) weit über die Grenzen Deutschlands hinaus Beachtung und Anerkennung. Nur das Ende seiner glanzvollen Laufbahn wurde von einem spektakulären Betriebsunfall der Rechtswissenschaft überschattet: Häberle(5) hatte die Doktorarbeit des aufstrebenden CSU-Politikers und späteren Bundesverteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg betreut, die sich als Ansammlung wüster Plagiate und schwülstiger Verfassungslyrik erwies.
Der Fall Guttenberg war der Auftakt zu einer Reihe von Plagiatsskandalen, die den Verteidigungsminister und zwei Jahre nach ihm auch seine Kabinettskollegin Annette Schavan zu Fall brachten. Die Affären trafen Politik und Wissenschaft. Sie warfen aber auch ein Licht auf die Medien und einen Journalismus, der Guttenberg zunächst zu einer messianischen Heilsgestalt der Politik erhoben hatte, um ihn wenig später als lächerliche Witzfigur zu erniedrigen.
Es sind die Medien, die auch den Resonanzraum für jenen offenen Diskurs der Verfassungsinterpretation formen, den sich Guttenbergs Doktorvater Häberle(6) für eine plural und freiheitlich konstituierte Gesellschaft erhofft hatte. Tatsächlich waren die Diskussionen über die wichtigsten politischen Weichenstellungen und den Wandel der Gesellschaft in der Geschichte der Bundesrepublik immer wieder auch in der medialen Öffentlichkeit geführte Verfassungsdebatten. So war auch die Diskussion um die Flüchtlingspolitik ein Testfall für die Fähigkeit der Medien, einen Diskursraum herzustellen, in dem sich die Gesellschaft über die rechtlichen Grundlagen ihres Gemeinwesens verständigen kann.
Ganz ähnlich wie die Staatsrechtswissenschaft funktionieren auch die Medien nicht mehr so, wie das in früheren Zeiten einmal war. Gesellschaftliche Milieus, politische Lager und die daraus erwachsenden Orientierungen sind neuen Ordnungen, Leitbildern und Funktionsweisen gewichen. Der Umzug von Regierung und Parlament von Bonn nach Berlin war eine besonders markante Zäsur. Der Begriff »Berliner Republik« drückte gerade in den ersten Jahren für viele die Hoffnung aus, dass es in der neuen Hauptstadt zu einer Neuformatierung politischer Milieus und einem Reset der politischen Kommunikation kommen werde. Rechts-Links-Schemata wurden als überholt erklärt. Die FAZ suchte nach den Überresten der alten Ideologien in einer aufsehenerregenden Feuilleton-Serie: »What’s left?«. Publizistische Wegbereiter eines neuen Nationalkonservatismus riefen in einem gleichnamigen Sammelband die »Selbstbewusste Nation« aus.2
Tatsächlich bedeutete die Neuaufstellung des politischen Journalismus in Berlin einen Generationenwechsel und damit eine soziale Zäsur in fast allen Redaktionen.3 In großer Zahl wurden junge Journalisten eingestellt, um die Hauptstadtredaktionen für den Wettbewerb um die exklusivsten Geschichten, schnellsten Nachrichten und heißesten Gerüchte aus dem Regierungsviertel aufzurüsten. Die Mitgliederzahl der Bundespressekonferenz wuchs von knapp 600 im Bonn der 80er Jahre auf über 900 in Berlin an. Es waren mehr Frauen darunter. Der Journalismus wurde jünger, weiblicher und nüchterner – in mehr als einer Hinsicht: Der Typus des bärbeißigen Leitartiklers, der erst dann richtig in Fahrt kommt, wenn er die Whisky-Flasche aus der untersten Schublade seines Schreibtischs hervorgeholt und sich einen eingeschenkt hat, wurde zum Auslaufmodell. Auch die alten Grabenkämpfe der parteipolitischen Lager verloren an Bedeutung. In Bonn hatten sich Journalisten in klar verorteten Hintergrundkreisen zu ihren vertraulichen Gesprächen mit Politikern getroffen – die Konservativen im »Ruderclub«, die sozialdemokratisch und linksliberal orientierten Kollegen in der »Gelben Karte«. Die einen schrieben für WELT, BILD oder FAZ, die anderen für den SPIEGEL, die TAZ oder die Süddeutsche Zeitung. Christlich-konservative Leser lasen den Rheinischen Merkur, zu dessen Herausgebern der Staatsrechtler Paul Kirchhof(13) gehörte. Gewerkschafter informierten sich durch die Frankfurter Rundschau. So spiegelte sich die soziale Ordnung der alten Bundesrepublik in ihren Medien. Doch das ist Geschichte. Politische Journalisten wechseln heute von der TAZ zur WELT und von BILD zum SPIEGEL. Die Frankfurter Rundschau wurde durch den Verlag der Frankfurter Allgemeinen aus der Insolvenz gerettet. Den Rheinischen Merkur gibt es nicht mehr, weil die katholische Kirche den Geldhahn zudrehte.
Der strukturelle, ökonomische und soziale Wandel der Medien veränderte auch die Art und Weise, wie sich Politik im öffentlichen Raum entfaltete. Die Polarisierungen, die sich traditionell entlang von Partei- und Milieugrenzen zeigten und das Spannungsfeld bildeten, in dem Politik entstand, kamen nicht mehr so zuverlässig und berechenbar wie einst zustande. Das zeigte sich auch in den Skandalisierungswellen der Jahre vor 2015. Im Fall Guttenberg entstand der Eindruck, der junge CSU-Politiker sei von einem konformen Politikjournalismus zunächst emporgeschrieben und sodann niedergemacht worden. In den Diskussionen um die Bundespräsidenten Köhler und Wulff, die in kurzer Folge in den Rücktritten endeten, schien es in den Medien keine Verteidiger, sondern nur noch Angreifer zu geben.4 Auch das trug zu einem Vertrauensabriss im Dreiecksverhältnis zwischen Journalisten, Politikern und Mediennutzern bei. Der Eindruck eines Medienmainstreams machte sich breit, der sich – angetrieben und beschleunigt durch die Digitalisierung – zu reißenden Meinungsströmen verdichtet, die immer nur in eine Richtung fließen.
Dass Medien anders funktionieren, als man das gewohnt war, stach im Sommer 2015 schon auf den ersten Blick auf die Auslagen an den deutschen Zeitungskiosken ins Auge: Fast überall in Europa transportierten die Boulevardblätter in dramatisierenden Überschriften die Ängste, Befürchtungen und Ressentiments, die sich mit der Flucht- und Migrationskrise verbinden ließen. In Deutschland dagegen wurde die größte Boulevardzeitung zum lautesten Sprachrohr der »Willkommenskultur«. Die BILD-Zeitung, über Generationen als ressentimentgeladenes Hetzblatt verschrien und verhasst, rief zu Hilfsbereitschaft auf und propagierte Empathie mit Flüchtlingen. Als Anfang September der dreijährige Aylan Kurdi auf der Flucht aus Syrien im Mittelmeer ertrank und sein toter Körper an der türkischen Küste angespült wurde, druckte die Zeitung das Bild ganzseitig mit schwarzem Trauerrand. »Wer sind wir, was sind unsere Werte wirklich wert, wenn wir so etwas weiter geschehen lassen?«, fragte das Blatt seine Millionenleserschaft.5 Wenig später startete die Zeitung die groß angelegte Kampagne »#refugeeswelcome – Wir helfen!«. In der Bundesliga liefen die Profis mit dem Logo der BILD-Aktion auf die Spielfelder. Als der Bundestag wenige Tage nach der später so heftig umstrittenen Grenzentscheidung der Kanzlerin(59) zur Generaldebatte zusammenkam, saß Vizekanzler Gabriel(4) mit einem »refugees welcome«-Anstecker auf der Regierungsbank neben Angela Merkel – »die den Button nicht trug«, wie die BILD-Zeitung in rügendem Ton vermerkte.
Wie kontrovers die Debatte über die Flüchtlingspolitik noch werden sollte, ließ sich in den großen traditionellen Medien erst später ablesen. Eine gegenüber Flüchtlingen empathische Grundhaltung dominierte im Frühjahr und Sommer 2015 die Berichterstattung vom Boulevard über die großen Tages- und Regionalzeitungen bis zum öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunk. Rassistische Kundgebungen und gewalttätige Übergriffe wie in Heidenau oder Tröglitz wurden dagegen scharf, verständnislos und einhellig verurteilt.
Der amerikanische Journalist und Kommunikationswissenschaftler Jay Rosen(1), der während eines Forschungsaufenthalts in Deutschland mit mehr als 50 Journalistinnen und Journalisten Interviews über ihre Selbstwahrnehmung führte, befand rückblickend: »Deutsche Journalisten betrachten es als ihre Aufgabe, für die Rechte von Minderheiten einzutreten und zu verhindern, dass Links- oder Rechtsextreme den öffentlichen Raum kapern«. In einem »Brief an deutsche Journalisten« konfrontierte Rosen seine Kollegen mit einer Beobachtung, über die sie sich selbst kaum bewusst seien: »Auch in ihrer journalistischen Arbeit verteidigen sie Demokratie und Menschenwürde. Sie treten für ein Staatswesen ein, das sich in der Nachkriegszeit herausgebildet hat und in Europa fest verankert ist.«6 Nach Auffassung des Amerikaners war das eine Tugend, die den deutschen Journalismus auszeichnete.
Detaillierter und im Ergebnis viel kritischer fiel eine von der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung in Auftrag gegebene Studie aus. Der ehemalige ZEIT-Journalist und Medienwissenschaftler Michael Haller(1) untersuchte mit seinem Team 35 000 Texte, die zwischen dem Frühjahr 2015 und dem Frühjahr 2016 in Zeitungen und Onlinenachrichtenportalen erschienen waren.7 Besonders kritisch beurteilten Haller(2) und seine Mitarbeiter einen gleichförmigen Umgang der Medien mit dem Narrativ der »neuen deutschen Willkommenskultur«, das im Kontext des Flüchtlingsthemas eine auf »Konformität gerichtete Meinungsmacht« entfaltet habe. Wer demgegenüber Skepsis angemeldet habe, sei »in einem hohen Gleichklang zwischen den Politiker- und den Medienaussagen« in den Verdacht der Fremdenfeindlichkeit gerückt worden.8 Haller selbst wehrte sich gegen schnelle Interpretationen, er habe den Medien schlechthin ein »Versagen« attestiert.9 Auch in traditionellen Leitmedien wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der WELT und der Süddeutschen Zeitung fand der Wissenschaftler Belege für »eine relativ breite Palette an Akteurs- und Sprecherrollen«, »skeptische und kritische Positionen« sowie »authentische Vor-Ort-Berichte und Reportagen«.10 In ihrer Gesamtheit aber warf Haller den Medien vor, durch eine Paradoxie zu einer Verengung der Wahrnehmung beigetragen zu haben: Einerseits seien Mediennutzer mit einer nicht mehr überschaubaren Fülle von Nachrichten zum Flüchtlingsthema konfrontiert und überfordert worden. Zuschauer und Leser seien dadurch gezwungen worden, zu selektieren, zu vereinfachen und auszublenden.11 Die Medien andererseits haben der Studie zufolge keine zugänglichen Angebote gemacht, das Sichtfeld qualitativ zu erweitern, um die Wirklichkeit auch in ihrer Vielfalt und Vielstimmigkeit erfassen zu können. So sei nicht nur Skepsis gegenüber dem Leitbild der Willkommenskultur ausgeblendet worden. Erstaunlicherweise sind nach den Auswertungen Hallers die eigentlichen Hauptakteure – Mitglieder von Helfergruppen, Initiativen und freien Trägern und vor allem die Flüchtenden selbst – kaum zu Wort gekommen. Die Medien hätten ein »Flüchtlingsthema ohne Flüchtlinge« abgebildet, meint (3)Haller. Die Menschen, die ins Land kamen, sind nach seiner Untersuchung vor allem in den Naturmetaphern von Strömen und Fluten sowie in Abbildungen von namenlosen Gesichtern anonymisiert worden.12
Dafür dominierten die Stellungnahmen von Politikern und insbesondere den Regierungsparteien die Berichterstattung.13 Es ging seit Herbst 2015 um die unionsinterne Debatte über die Obergrenze und das Für und Wider von Transitzonen. Damit, so befindet (4)Haller, wurden stets hoch personalisierte Zweikämpfe – Merkel(60) gegen Seehofer(41), CDU gegen CSU – inszeniert. »Von diskursiver Themenbearbeitung kann für das Jahr 2015 nicht die Rede sein«,14 bilanzierte (5)Haller.
Ein Diskurs entsteht aus Sicht der Kommunikationswissenschaft erst dann, wenn mehr als zwei Teilnehmer daran beteiligt sind, mehr als nur ein Pro und ein Contra gegenübergestellt werden. Diskurs entsteht aus einer Vielzahl von Perspektiven und durch die Erweiterung des Blickfelds. Auch dadurch können in einer unübersichtlichen Nachrichtenfülle Überblick, Deutungsmuster und Interpretationsangebote erkennbar werden. Medien müssen dafür in der Lage sein, Handlungsrahmen der Politik zu beschreiben und zu erklären, die nicht allein aus parteipolitischer Polarisierung und persönlicher Rivalität bestehen. Außenpolitische Rahmenbedingungen gehören dazu, aber auch rechtliche Normen und ihre Auslegungen, die für die Politik handlungsleitend sind.
Gerade für die Beobachtung und Analyse dieser Themenfelder aber, die für die Flüchtlings- und Migrationspolitik von entscheidender Bedeutung sind, waren und sind die Medien eher schwach aufgestellt. In Zeiten des ökonomischen Drucks und digitalen Wandels waren in Zeitungs- und Rundfunkredaktionen vor allem außenpolitische Kompetenzen abgebaut worden. Korrespondentenplätze wurden gestrichen, um Personalressourcen in den Aufbau von Onlineredaktionen umzulagern. Lange hatte man nach dem Ende des Kalten Krieges auch in Verlagshäusern und Rundfunkanstalten geglaubt, eine Friedensdividende einstreichen zu können, indem man teure Druckseiten und Sendezeiten für außenpolitische Berichterstattung einspart. Am Ende wirkte sich die Verkümmerung außenpolitischer Kompetenz in den Medien auch auf die Politik aus: Weil der öffentliche Resonanzraum schwand, wurde es für Politiker immer schwerer, sich durch den Nachweis außenpolitischer Expertise öffentlich zu profilieren. Im Bundestag war der Kompetenzverlust am Rückgang von Fremdsprachenkenntnissen und persönlicher Vernetzung der Abgeordneten in andere Länder messbar.15 Erst im Zeichen der globalen Flucht- und Migrationskrisen erhält Außenpolitik inzwischen wieder ein neues Gewicht als Instrument, Zusammenhänge in der Welt zu verstehen und auch im eigenen Interesse an Problemlösungen mitzuwirken.
Auch die Berichterstattung über juristische und verfassungsrechtliche Fragen spielt in den Medien eine eher exotische Rolle. Die Zeiten, in denen größere Lokal- und Regionalzeitungen ausgebildete Juristen beschäftigt haben, die nicht nur als Gerichtsreporter arbeiteten, sondern regelmäßig zu Fachtagungen reisten und Verbindungen in Rechtswissenschaft und Bundesgerichte pflegen konnten, sind vorbei. Ein kleines Häuflein von juristisch qualifizierten Journalisten hat sich in Karlsruhe in der »Justizpressekonferenz« zusammengeschlossen. In den Redaktionen aber gelten Rechtsthemen meist als spröde Materie, die man sich ähnlich wie Kernphysik von Expertinnen erklären lassen muss. Lebendige Diskurse können sich so im öffentlichen Raum der Medien kaum entfalten. Wenn sich Professoren oder Richter mit ihren Rechtsauffassungen in der Medienöffentlichkeit äußern, wird ihnen gerne eine fast päpstliche Autorität zugemessen. Wer traut es sich als Journalistin schon zu, einem ehemaligen Verfassungsrichter oder gar einem ehemaligen Präsidenten des höchsten deutschen Gerichts fundierte Argumente entgegenzuhalten? Und wer kennt sich in der Fachwelt genügend aus, um eine von verfassungsrichterlicher Aura umwehte Äußerung in rechtliche Kontexte einzuordnen oder die Mechanismen des bezahlten Gutachterwesens an juristischen Fakultäten zu durchschauen?
An einem offenen, rechtlichen Diskurs schien in der Debatte über die Flüchtlingspolitik keiner der Akteure in Regierung, Parlament und Medien ein echtes Interesse zu haben. Der CSU genügte das Gutachten des früheren Verfassungsrichters Di Fabio(27), um den politischen Druck auf die Kanzlerin(61) zu erhöhen. Angela Merkel und ihre Vertrauten mieden den Rechtsstreit, weil sie dem politischen Konflikt mit der CSU keine weitere Nahrung geben wollten. Journalisten fürchten, dass eine juristische Debatte schnell in schwindelerregende Abstraktionshöhen führen würde, in die ihnen ihre Leser, Zuschauerinnen und Hörer nicht mehr folgen wollen. Selbst als der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas (3)Voßkuhle mit Blick auf die staatsrechtlich begründete Kritik an der Politik der Bundesregierung von Argumenten aus dem »19. Jahrhundert« sprach,16 löste das keine Berichterstattung über den ungewöhnlichen Dissens zwischen dem obersten Richter des Landes und seinem Vorgänger aus. Das Interesse der meisten Medien konzentrierte sich auf die spektakulären Konflikte an der politischen Oberfläche des Geschehens. Vor allem die kritischen Äußerungen ließen sich so in das einfache Deutungsmuster einer unter parteipolitischem Druck stehenden Regierung einfügen. Wie sie damit klarkam, erschien in der Folge mehr als Sache politischer Standfestigkeit und Durchsetzungskraft denn als Frage juristischer Argumentationsmacht.
So konnten der Vorwurf des Rechtsbruchs und die These von der »Herrschaft des Unrechts« ihr Eigenleben in den Nischen der Medienlandschaft entfalten und dort weitgehend unbehelligt von Widerspruch gedeihen. Der Nährboden dafür fand sich in den Internetforen und Social-Media-Kanälen der AfD und rechtsnationalistischen Publikationen wie dem Magazin Compact. Dessen Herausgeber Jürgen Elsässer(1), ein ehemals linker und zum »Querfront«-Aktivisten gewandelter Publizist, hatte schon im September 2015 mit revolutionärer Verve zur »Fraternisierung zwischen Volk und bewaffneten Kräften« gegen die Grenzpolitik der Regierung aufgerufen.17 Erfolgversprechender aber als eine Meuterei von Bundeswehr und Polizei erschien es ihm, der Regierung mit rechtlichem Beistand zu Leibe zu rücken. Argumentativ unterstützt von dem Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider(1), forderte Elsässer ein Volksbegehren für ein bayerisches Grenzsicherungsgesetz, weil der Bund seine Aufgabe, für die äußere Sicherheit des Freistaats zu sorgen, nicht erfüllt habe.18
Wer es nicht ganz so exaltiert wollte, wurde auf dem Achgut-Blog bedient. In ausführlichen Beiträgen wurde hier der »Rechtsbruch und die Aufhebung der Gewaltenteilung in Deutschland«19 beklagt, und Thilo Sarrazin(1) verspottete den Europarechtler Daniel Thym(6) als »Professor Unfug«, weil dieser der schrillen These vom Rechtsbruch nüchtern widersprochen hatte.20 Immerhin aber veröffentlichte der Blog auch eine Replik Thyms21 sowie eine weitere Entgegnung Sarrazins22 und freute sich darüber, einer veritablen Rechtsdebatte Raum verschafft zu haben.23
Je weniger Lust die Regierung zeigte, sich mit den rechtlichen Attacken gegen ihre Politik herumzuschlagen, desto mehr schien die Freude ihrer Gegner am juristischen Argument zu wachsen. Das beflügelte eine Publizistik, die sich auch einem bildungsbürgerlichen Publikum als Alternative zu den traditionellen, als konform und berauscht von »Gutmenschentum« verschrienen Medien anbot. Cicero, das Magazin für politische Kultur, das Ulrich Vosgeraus(24) These von der »Herrschaft des Unrechts« in die Welt setzte, gehört zu dieser Gattung ebenso wie der Blog des Wirtschaftsjournalisten Roland Tichy(1). Wer meint, dass Tageszeitungen und der öffentlich-rechtliche Rundfunk nur noch einem linksliberalen Mainstream folgen würden, findet bei Tichys Einblick nichts als Selbstbestätigung: Der Herausgeber und seine Autoren liefern zuverlässig Argumentationsmaterial gegen alles, was sich als Politik Angela Merkels(62), »Genderwahn«, grüne Öko-Diktatur oder blauäugige Flüchtlingshelferei verhöhnen und verdammen lässt. So wurde der Tichy-Blog bis weit in die CDU-Anhängerschaft hinein zu einem der Zentralorgane des Unmuts in der Mitte der Gesellschaft. CDU-Mitglieder, die sich unter dem Namen »Konrads Erben« zusammengetan hatten, veröffentlichten hier einen Appell, in dem sie zur »unmittelbaren Rückkehr zu Recht und Gesetz« aufriefen.24 Autoren des Blogs prangerten »Hundertausendfachen Rechtsbruch im BAMF« an und wussten: »Die Verantwortlichen sitzen auf der Regierungsbank.«25 So verdichtete sich das Bild einer mit staatlicher Autorität beförderten »Rechtsverwahrlosung« in Deutschland, die unweigerlich in die »Herrschaft des Unrechts« führe.26
Roland Tichy(2), der 1990 noch ein Buch mit dem Titel »Ausländer rein« veröffentlicht hatte, gehörte als Berliner Büroleiter des Handelsblatts und Chefredakteur der Wirtschaftswoche einst selbst zum gehobenen journalistischen Establishment. Auch etliche seiner Autoren hatten in früheren Positionen als Zeitungsherausgeber oder leitende Redakteure im öffentlich-rechtlichen Rundfunk konventionelle Meinungsmacht. Jetzt präsentierten sie sich als nonkonforme Alternative zum Mainstream ihrer jüngeren Nachfolgerinnen und Nachfolger. Tichy(3) selbst hatte dabei mit dem Blick des ordoliberalen Wirtschaftspublizisten erkannt, dass auch der Meinungsmarkt den Gesetzen von Angebot und Nachfrage folgt. »Da gibt es eine Lücke des Unbehagens«, erklärte (4)Tichy einem Kollegen der ZEIT. »Die füllt die AfD. Die füllt der Seehofer(42). Die fülle ich.«27 Der Kurs zahlte sich aus. Ein Jahr nach Beginn der publizistischen Offensive gegen die Flüchtlingspolitik brachte (5)Tichys Verlag auch eine monatliche Druckversion des Blogs mit einer Startauflage von 70 000 Exemplaren auf den Markt.28
Auch im traditionellen Printjournalismus, der ansonsten eher von Niedergangsstimmung geprägt war, löste der bürgerliche Überdruss an Angela Merkel(63) und dem Meinungsklima in Zeitungen und öffentlich-rechtlichem Rundfunk Gründerstimmung aus. In der Annahme, mit einem konsequent ordoliberalen Kurs und Kritik an der Politik Angela Merkels Leser in Deutschland gewinnen zu können, investierte die Neue Zürcher Zeitung in eine verstärkte Berichterstattung aus dem Nachbarland. »Es gibt in Deutschland eine Lücke für eine Stimme, die so deutlich für die Rechte des Individuums eintritt, wie wir das tun«29, sagte Chefredakteur Eric Gujer(2), der mehrere Jahre als Korrespondent seiner Zeitung aus Berlin berichtet hatte.
Auch die Chefredakteure des Cicero, Christoph Schwennicke(1) und Alexander Marguier,(1) setzten erfolgreich darauf, mit einer Mischung aus gemütlichem Literaturfeuilleton, nationalkonservativ gefärbter Kulturkritik und Merkel(64)-Abgesängen ihre Anteile im bildungsbürgerlichen Lesermarkt ausbauen zu können. Als der schweizer Ringier-Verlag aus dem Magazin ausstieg, übernahmen es die beiden Chefredakteure in einem Management-Buy-out, kurz nachdem ihr Autor Vosgerau(25) im Cicero die »Herrschaft des Unrechts« ausgerufen hatte.
Die wohl stärkste Wirkung auf die Wahrnehmung der Flüchtlingspolitik in einer breiten, bürgerlichen Leserschaft hatte ein Buch: die Reportage »Die Getriebenen« des WELT-Journalisten Robin Alexander(1).30 Schon kurz nach der Veröffentlichung im Frühjahr 2017 stand das Buch auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste. (2)Robin Alexander, der seine journalistische Karriere bei der TAZ begonnen hatte, wurde durch den Erfolg zum Starjournalisten mit Dauerpräsenz auf allen Kanälen, von Fernsehtalkshows bis zu seinem Twitter-Kanal mit rund 35 000 »Followern«.
Sein Buch ist einerseits eine minutiöse und akribisch recherchierte Schilderung aus dem Innenleben der Bundesregierung im Sommer und Herbst 2015 bis ins Jahr 2016. Schritt für Schritt verfolgt (3)Alexander die Kanzlerin(65) in den schicksalhaften Stunden am ersten Septemberwochenende. Detailreich protokolliert er die entscheidende Besprechung im Bundesinnenministerium am 13. September, in der sich Bundespolizeipräsident Dieter Romann(16) mit seiner Forderung nach der Zurückweisung von Flüchtlingen an der deutsch-österreichischen Grenze nicht durchsetzen konnte.
Auf den ersten Blick zieht das Buch als packende Rekonstruktion von Reisen und Begegnungen der Kanzlerin(66), Gesprächen im engsten Beraterkreis, Telefonaten mit EU-Partnern sowie Abstimmungen mit den Koalitionspartnern seine Leser in den Bann. Die Erzählung aber folgt nicht nur dem dramatischen Gang der Ereignisse. Sie wird eingefügt in einen Frame, eine Rahmung, in der die Politik Angela Merkels als reine Imagekampagne einer nur auf ihre Popularität bedachten Regierungschefin erscheint. Die Geschichte, die Robin (4)Alexander in diesem Licht erzählt, lässt sich knapp zusammenfassen: Eine seit jeher rein opportunistisch agierende Kanzlerin öffnet im September 2015 die Grenzen und weist ihren zaudernden Bundesinnenminister an, die Einwände seiner Sicherheitsexperten vom Tisch zu fegen, weil sie unangenehme Bilder fürchtet. Dabei setzt sich das Kanzleramt vorsätzlich über die Regeln des Dublin-Systems hinweg, das ihm ohnehin seit langem ein Dorn im Auge war. Die Folgen sind Chaos in Deutschland und Europa. So einfach stellt sich das für Leserinnen und Leser am Ende der gut 280 Seiten dar. Das ist zugleich das Narrativ, das die Reportage unausgesprochen zur Anklageschrift gegen die Kanzlerin und ihre angeblichen Mittäter machte.
Die tendenziöse Rahmung erfolgt durch gezielte Abwertungen von vermeintlich objektiv geschilderten Abläufen. Da wird von »Kalkül«31 und »Methode«32 geraunt. Was Merkel(67) tue, sei ständig »inszeniert«,33 während ihre »Kommandobrücke unbesetzt«34 bleibe. Wenn die Kanzlerin Bürger oder Flüchtlinge trifft, ist das ein »Wanderzirkus«.35 Die Begegnung mit der palästinensischen Schülerin Reem Sahwil missrät zur »Image-Katastrophe, wie sie in Merkels zehnjähriger Kanzlerschaft noch nicht vorkam.«36
Zugleich wird die Entscheidung im September 2015, die Zuständigkeit für Flüchtlinge aus Ungarn zu übernehmen, von Alexander(5) zu einem »historischen Moment«37 stilisiert, zu einer »Richtungsentscheidung (…), die vielleicht sogar mit Konrad Adenauers Westbindung, der Ostpolitik Willy Brandts oder der entschlossenen Wiedervereinigung unter Helmut Kohl(3) vergleichbar ist«,38 nur um dann Merkels(68) Auftritt im Bundestag hinterher mit dem einer »Sparkassendirektorin bei der Bilanzvorstellung ihrer Vorortfiliale« zu vergleichen.39 So entsteht das Bild einer Kanzlerin, der gleichzeitig alles zuzutrauen ist – und nichts.
Mit diesem Double-Bind sichert Alexander(6) seine Rekonstruktion der Flüchtlingspolitik 2015/16 nach allen Seiten ab. Merkel(69) und ihre Regierung erscheinen einerseits als ein Haufen halt- und planlos am Rande der Fahrlässigkeit dahindilettierender Improvisateure, die vor lauter Angst vor »hässlichen Bildern« das eigentlich längst für richtig Erkannte nicht zu tun wagen, andererseits aber als Teil einer raffinierten Verschwörung einer »Truppe« rund um EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker(2) und Kanzleramtschef Peter Altmaier(11), die 2015 die »Gelegenheit« dazu erkannt und ergriffen habe, ihre »Überzeugung, Dublin müsse verschwinden«, zu verwirklichen.40
Das Recht selbst aber, das da angeblich so zielstrebig ausgehebelt werden sollte, bleibt in Alexanders(7) »Report aus dem Inneren der Macht« ein blinder Fleck. Die juristischen Einwände der zuständigen Fachbeamten in der Besprechung am 13. September 2015 streift der Autor nur in einem Nebensatz, um sie dann mit dem saloppen Hinweis zu erledigen, sie seien »übrigens unbegründet« gewesen.41 Ähnlich nonchalant wird der Hinweis auf die Tatsache, dass die deutsche Grenze im September nicht »geöffnet« wurde, weil sie bereits seit mehr als 20 Jahren offen war, als »Wortklauberei« abgefertigt. Es gehe dabei nur darum, »die Tatsache zu verdecken: Die Flüchtlinge hätten nach den EU-Regeln nicht nach Deutschland kommen dürfen«.42 Dass diese Lesart der EU-Regeln nicht die einzige oder gar maßgebliche sein könnte – diese Überlegung hält Alexander(8) von sich und seinen Lesern fern.
Für all diejenigen, die schon immer zu wissen glaubten, dass die Flüchtlingspolitik eine mindestens halbkriminelle Machenschaft war, wurde Alexander(9) mit dieser Erzählung zum unfreiwilligen Kronzeugen: Mit triumphaler Inbrunst hielt Beatrix von Storch das Cover der »Getriebenen« in die Kamera. »Dieses Buch ist Dynamit«,43 verkündete die AfD-Politikerin in mehreren Videoclips für die Social-Media-Kanäle ihrer Partei. Es zeige, »wie Merkel(70) und die regierende Klasse das Land sehenden Auges in eine Katastrophe geführt haben.«44 Auf dem verschwörungstheoretischen Blog »PI-news« wurde Alexander(10) als neuer Thilo Sarrazin(2) gefeiert: Der Islamkritiker habe »den Weg frei« gemacht »für die Wende. Jetzt kommt aber noch ein vielleicht größerer Türöffner: (11)Robin Alexander.«45 Der AfD-Prozessvertreter Ulrich Vosgerau(26) schließlich schlachtete das Buch für seine Verfassungsklage aus und verwies in den Fußnoten der Antragsschrift auf (12)Alexander und »Die Getriebenen«, als handele es sich um ein im Auftrag der Kläger verfasstes Fachgutachten.46