Recht ist keine Mathematik. Die meisten Menschen, Juristinnen und Juristen nicht ausgeschlossen, bilden sich ihr Urteil über Recht und Unrecht nicht als logische Schlussfolgerung aus vorausgesetzten Prämissen, sondern auf verschlungeneren Wegen. Was als Recht und was als Unrecht gelten soll, wird mit dem eigenen »Rechtsempfinden« abgeglichen, dem Gefühl für Ordnung und Gerechtigkeit. Über Gefühle kann man bekanntlich nicht streiten. Was man fühlt, kann und muss man nicht rechtfertigen. Das gefühlte Recht steht oft im Gegensatz zu dem Recht der Gesellschaft, das durch demokratische Aushandlung entsteht. Gefühltes Recht gilt nicht, weil es gute Gründe dafür gibt, sondern weil und indem es erspürt wird von jenen, die den Sinn dafür besitzen, woher auch immer.
Noch mächtiger als das Gefühl für das gute und richtige Recht kann das Empfinden von Unrecht und der Verletzung des Rechtsgefühls wirken. Es entfacht gewaltige und im Extremfall gewalttätige Energien: Empörung, Zorn, Tatendurst.
Michael Kohlhaas(1), der berühmteste Leidensmann eines verletzten Rechtsgefühls, empfindet sich als »verstoßen (…) zu den Wilden der Einöde hinaus.« Als Opfer eines eklatanten Rechtsbruchs nimmt er »die Keule, die mich selbst schützt, in die Hand« und zieht sengend und brennend durchs Land.1
Das Gefühl, eine Auflösung des Rechts zu erleben, ist seit der Eurokrise auch ein geistiger Treibstoff der bürgerlich-konservativen Protestbewegung im gegenwärtigen Deutschland. Von Beginn an war es auch der emotionale Kitt, der die AfD in ihrem Innersten zusammenhält. Die Partei entstand als bürgerliche Sammlungsbewegung, deren Anhänger aus ganz unterschiedlichen Motiven zusammenfanden. Da waren Männer und auch Frauen, die sich von »Genderwahn« verfolgt sahen und um ihre tradierten Geschlechterrollen in Familie und Beruf fürchteten. Da waren wertkonservative Bildungsbürger, die in der Rechtschreibreform und der Abschaffung der Frakturschrift über den Kommentaren der FAZ sichere Vorzeichen für den Untergang des Abendlands sahen. Und da waren zornige Volkswirtschaftsprofessoren, die seit Jahren vergeblich in Karlsruhe gegen den Euro Sturm gelaufen waren und in der Krise der Währungsgemeinschaft nun das aufwühlende Erlebnis teilten, ökonomisch recht gehabt, aber juristisch nicht Recht bekommen zu haben.
Mit der Eurokrise hatte die Bewegung ihr erstes großes Thema gefunden. Mit dem Gefühl, Deutschland werde im Modus eines fortgesetzten Rechtsbruchs regiert, fand sie ihr bis heute immer wiederkehrendes Leitmotiv. Es durchzieht die Rhetorik der AfD wie ein pulsierender Generalbass: Wechselnde Themen lassen sich darüber variieren, von der Euro- bis zur Flüchtlingspolitik und der Angst vor dem Islam. Der Vorwurf des Rechtsbruchs aber schafft den alles überwölbenden Sound. Er wird stets in einem hohen Ton der Entrüstung formuliert. Weil er Emotionen ins Schwingen bringt, hallt er länger nach als die nüchterne Logik juristischer Argumentation. Je mehr diese Vibrationen ein Bauchgefühl aktivieren, desto weniger bedarf die Behauptung des Rechtsbruchs der Begründung im Kopf. Sie muss sich nicht mehr an der Rationalität der normativen Ordnung messen lassen, weil sie an das Rechtsgefühl appelliert.
So stimuliert sie kontinuierlich das politische Erregungsniveau, das der Bundestagsabgeordnete und Hausphilosoph der AfD Marc Jongen(1) mit dem Begriff des Thymos umschrieb.2 Der Sloterdjik(1)-Schüler bezeichnete damit eine Art nationalen Hormonhaushalt, der durch die Konsens- und Kompromisspolitik der Großen Koalitionen unter Angela Merkel(71) in eine bedrohliche Unterfunktion geraten sei. Die Politik der AfD muss nach Jongens Thymos-Theorie dafür sorgen, dem erschlafften Volkskörper eine heilsame Dosis rhetorischer Stimulanzien zuzuführen, auf dass die kollektive Immunabwehr gegen Überfremdung und islamische Kulturinfektion gestärkt werde. Der Vorwurf des Rechtsbruchs hatte sich dazu schon lange vor der Flucht- und Migrationskrise des Jahres 2015 als besonders breitenwirksames Mittel erwiesen – mit politisch gewollten Nebenwirkungen.
Als die Gründer der AfD an einem kalten Abend im März 2013 zu ihrer ersten öffentlichen Kundgebung einluden, fanden sich rund 1200 Menschen in der überfüllten Stadthalle von Oberursel im hessischen Hochtaunuskreis ein. Es war eine gutbürgerliche Versammlung, überwiegend von Männern, die meisten augenscheinlich gut situiert. Man trug Anzug oder Tweed-Jacket mit Schlips und Kragen. Ärzte, pensionierte Lehrer, Journalisten, Professoren und Rechtsanwälte hatten sich zusammengefunden. Es waren Menschen, die sich als gute und unbescholtene Staatsbürger empfanden und glaubten, Zeugen eines schreienden Unrechts zu sein. Beunruhigt folgten sie den kühlen volkswirtschaftlichen Argumentationslinien, mit denen der Hamburger Professor für Makroökonomie Bernd Lucke(1) den unweigerlichen Niedergang der europäischen Gemeinschaftswährung prognostizierte. In Empörung fanden sie zusammen, als der künftige Parteivorsitzende verkündete: »Wir haben eine Regierung, die sich nicht an Recht und Gesetz hält.«3 Auch dem promovierten Literaturwissenschaftler und ehemaligen FAZ-Feuilletonredakteur Konrad Adam(1) ging es um mehr als eine währungspolitische Kehrtwende: »Unsere Forderung ist die Auflösung des Euro und die Herrschaft von Gesetz und Recht«, forderte Adam.4 Als einen Monat später, Mitte April 2013, der offizielle Gründungskongress der AfD in Berlin stattfand, geißelte Parteigründer Lucke den europäischen Währungsmechanismus als »institutionalisierten Rechtsbruch«, der deutschem und europäischem Recht zuwiderlaufe.5 Konrad Adam, der Feuilletonist in der AfD-Spitze, ahnte auch bald, dass der Vorwurf des Rechtsbruchs zu einem Dauerbrenner für die Partei werden könnte: »Wie soll man keine Angst vor der Zukunft haben, wenn sie von solchen Leuten gestaltet wird? Wenn der Vertragsbruch zur Regel wird und die Verantwortlichen es nicht einmal für nötig halten, diesen Vertragsbruch zu erklären.«6
Das war genau der Ton, an den die AfD zwei Jahre später wieder anschließen konnte. Ihr Hauptthema, die Eurokrise, war ihr in der Zwischenzeit weitgehend abhanden gekommen. Im Sommer 2015 war der akute Kollaps der Gemeinschaftswährung abgewendet. Die ersten der südlichen Krisenländer hatten die wirtschaftliche Wende geschafft. Die gefährlichsten Krisensymptome hatten dadurch an politischem Nährwert für die AfD verloren. Der Partei drohte das Schicksal früherer rechtspopulistischer Bewegungen. Nach kurzen Höhenflügen waren sie meist bald zu marginalen Randgrößen außerhalb der parlamentarischen Bühnen geschrumpft.
2013 hatte die AfD ein halbes Jahr nach ihrer Gründung den Einzug in den Bundestag um 0,3 Prozentpunkte nur knapp verpasst. Danach hatte sie sich in den Meinungsumfragen zunächst stabil über der Fünf-Prozent-Schwelle gehalten, war im Frühjahr 2014 mit 7,1 Prozent ins Europaparlament eingezogen und in den Meinungsumfragen bis in den zweistelligen Bereich gestiegen. Parallel zum Anstieg der Flüchtlingszahlen ab Ende 2014 aber sanken die Zustimmungswerte der AfD wieder. CDU und CSU dagegen lagen im August 2015 bei den großen Meinungsforschungsinstituten stabil und deutlich über der 40-Prozent-Marke. In der SPD wurde laut darüber nachgedacht, ob es sich bei der nächsten Bundestagswahl überhaupt lohnen werde, einen Kanzlerkandidaten gegen Angela Merkel(72) ins Rennen zu schicken. Die AfD erreichte derweil in den Erhebungen der Forschungsgruppe Wahlen und von Forsa gerade noch drei Prozent Zustimmung, obwohl die Flucht- und Migrationskrise bereits sichtbar ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt war.
Der laut vernehmbare Protest gegen die Aufnahme von Flüchtlingen kam zunächst von noch weiter rechts, von der islamfeindlichen Pegida-Bewegung. Seit Oktober 2014 zog sie erst in Dresden, dann auch in anderen deutschen Städten auf die Straßen. Mit Pegida hatte sich rechts von der AfD ein neues Sammelbecken für den islamfeindlichen Protest gebildet. Vor allem in Ostdeutschland kam bei den Demonstrationen ein zornig-verunsichertes Wutbürgertum zusammen, das sich trotzig in die Tradition der friedlichen Freiheitsdemonstrationen von 1989 stellte. Der Ruf »Wir sind das Volk«, der damals Freiheit und demokratische Teilhabe an der Macht eingefordert hatte, wandelte sich nun zu einer völkisch-nationalistischen Ausgrenzungsparole. Er richtete sich gegen all diejenigen, die nicht zum Volk dazugehören sollten: Flüchtlinge, Migranten, Muslime.7 Die Veranstaltungen wurden zu einer Bühne für vorbestrafte Rechtsextremisten, die ethno-nationalistische Avantgarde der identitären Bewegung, sogenannte »Vordenker der neuen Rechten« wie Götz Kubitschek(1)8 und wirre Schreihälse wie den Autor Akif Pirinçci(1).
Die Pegida-Märsche versetzten nicht nur Politiker bis hin zum Bundespräsidenten in Sorge. Unter Druck geriet auch die im Niedergang kriselnde AfD, deren Expansion in das bürgerlich konservative Wählermilieu an ein Ende gekommen zu sein schien. Von den Pegida-Organisatoren hatte sich die AfD zunächst mit einem Unvereinbarkeitsbeschluss abgegrenzt. Die Frage aber, ob die Bewegung nicht auch eine neue, dringend nötige Kraftquelle für sie sein könnte, trieb die Partei 2015 in eine Identitätskrise und einen offenen Machtkampf.
Auf dem Essener Parteitag im Juli setzte sich der nationalkonservative Flügel gegen Parteigründer Bernd Lucke(2) durch und wählte Frauke Petry(1) zur Vorsitzenden. Lucke und große Teile des wirtschaftsliberalen Flügels verließen die AfD. Auch Petry sollte nur eine Übergangsfigur auf dem Weg in eine weitere Radikalisierung bleiben. Doch während das äußere Erscheinungsbild der Partei nun ganz von ihren nationalkonservativen, islamophoben und geschichtsrevisionistischen Wortführern wie Alexander Gauland(1), Jörg Meuthen(1), Alice Weidel(1) und Björn Höcke(1) geprägt wurde, hatte sich auch nach dem liberalen Aderlass vom Sommer 2015 ein bürgerlich-situierter Kern erhalten.
Man trifft den Typus des im Habitus weltläufigen und akademisch gebildeten AfD-Politikers bis heute zum Beispiel in Gestalt von Roland Hartwig(1). Der promovierte Wirtschaftsjurist ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der AfD im Deutschen Bundestag und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. In der breiteren Öffentlichkeit tritt er wenig in Erscheinung. Nach innen aber ist er eine Art »Consigliere«, ein wichtiger Berater der Fraktions- und Parteispitze, wenn es um knifflige Rechtsfragen geht. Als die Diskussion um eine mögliche Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz laut wurde und einzelne Landesbehörden Teilgliederungen der Partei ins Visier nahmen, wurde Hartwig mit der Leitung einer internen Untersuchungskommission beauftragt. Unter wütenden Beschimpfungen von Parteifreunden (»Großinquisitor«, »Gesinnungspolizei«, »Stasi«) sollte die Arbeitsgruppe aufzeigen, bis zu welcher Grenze man sich verbal bewegen könne, ohne dem Verfassungsschutz zu viele Argumente für eine Überwachung in die Hände zu spielen.9 Hartwig arbeitete dabei mit jenem Freiburger Emeritus Dietrich Murswiek(4) zusammen, den die AfD bereits wegen seines national-konservativen Verfassungsverständnisses zu schätzen gelernt hatte. Sein Extremismus-Gutachten diente der Partei nun als Feldhandbuch für die rhetorische Bewegung am Rande der offenen Verfassungswidrigkeit.
In der AfD finden soignierte Staatsrechtsprofessoren wie Murswiek(5) mit Juristen wie Roland Hartwig(2) nach wie vor Ansprechpartner, mit denen sie ein gepflegtes Fachgespräch führen können, ohne in die plump-erregte Anklagerhetorik zu verfallen, mit der die Frontleute der Partei in der Öffentlichkeit Stimmung machen. Hartwig hat immerhin selbst eine eindrucksvolle Juristenkarriere hinter sich: Während der Promotion arbeitete er Anfang der 80er Jahre am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg. Dann stieg er in der Rechtsabteilung der Bayer AG zum Chefsyndikus auf und betreute 17 Jahre lang weltweit die Patent- und Rechtsangelegenheiten des Chemie- und Pharmakonzerns. Als die Eurokrise kam, war er überzeugt, dass Europa mit seiner mangelhaft konstruierten Gemeinschaftswährung keine Chance haben würde, im globalen Wettbewerb der Zukunft zu bestehen. Als oberster Bayer-Jurist hatte er besonders den Aufstieg Chinas mit einer Mischung aus Schaudern und Bewunderung verfolgt. In der Eurokrise gab Europa in seinen Augen das auf, was es auszeichnete: die Bindung ans Recht. Die Regierungen hätten die europäischen Verträge gebrochen, die Karlsruher Richter die Grenzen des gerade noch Erlaubten immer weiter verschoben. Dadurch sei das Rechtsverständnis der Bürger erodiert. Das ist die Argumentationslinie des klassischen Euroskeptizimus, die am Anfang der AfD stand.
Hartwig(3) war ein Mann jener ersten Stunde und Anhänger des Parteigründers Lucke(3). Warum aber blieb einer wie dieser gebildete und leise auftretende Jurist in der Partei, nachdem der entmachtete (4)Lucke mit einem großen Teil seiner bildungsbürgerlichen Gefolgsleute die AfD verlassen hatte?
»Weil ich im Sommer 2015 wieder sah, wie der Staat das Recht brach«, erklärt Hartwig(4) lächelnd. Bei Kaffee und Keksgebäck in seinem Abgeordnetenbüro weiß er das Gespräch über die Entscheidungen der Bundesregierung in jenen Wochen bis in feine Verästelungen der Dublin- und Schengen-Regeln zu führen. Der ursprüngliche Rechtsbrecher bleibt in seiner Argumentation stets der Flüchtling, der sich mit jedem Grenzübertritt im Schengen-Raum tiefer in Illegalität verstricke. In Deutschland kamen nach dieser Logik im Sommer 2015 nicht Schutzsuchende an, die sich auf Rechte beriefen, sondern Gesetzesbrecher: Fälle für den Staatsanwalt, nicht für die Asylprüfer des BAMF. Die Dublin-Regeln, die den EU-Staaten das Recht einräumen, Asylverfahren an sich zu ziehen, rechtfertigen in Hartwigs Augen bestenfalls Ausnahmen in wenigen Fällen, nicht aber den massenhaften »Selbsteintritt«, auf den sich die Bundesregierung berief. Was in den Augen der Regierung eine humanitäre Geste und Ausdruck europäischer Solidarität im Rechtsrahmen der Dublin-Regeln war, ist in der Logik Hartwigs eine staatliche Kapitulation vor Massen von Kriminellen. Dass der Europäische Gerichtshof die Sache anders sieht und der Bundesregierung in seiner Jafari(5)(5)-Entscheidung bescheinigte, dass auch ein massenhafter Selbsteintritt im Sinne des Dublin-Systems ist, fügt sich aus Hartwigs Sicht nur weiter in das Bild des institutionalisierten Rechtsbruchs: Die Luxemburger Richter verstünden sich eben mehr als Motoren der politischen Integrationsdynamik denn als Hüter des Rechts. Das Gespräch mit dem ehemaligen Bayer-Justitiar endet im Dissens über das grundsätzliche Staats- und Europaverständnis: Hartwig wünscht sich eine Europäische Union, so wie sie einmal war, zurück: als Wirtschaftsgemeinschaft. Mehr nicht. Mehr traut er Europa nicht zu.
In seiner Partei ist Hartwig(5) vor allem ein Akteur hinter den Kulissen. Die Partei hat sich zwar den Vorsitz des Rechtsausschusses gesichert, dort aber einen für seine rüde Rhetorik berüchtigten Exponenten des ganz rechten Flügels installiert: Stephan Brandner(7), einen Vertrauten von Björn Höcke(2), der sich selbst als »Pöbler aus dem [thüringischen] Landtag« bezeichnet und seiner zahllosen Ordnungsrufe rühmt.10 Roland Hartwig ging in den Auswärtigen Ausschuss, wo man nicht die offenen Feldschlachten der Innenpolitik schlagen muss. An den vorderen Frontlinien lässt er andere agieren. Sie prägen den Ton der Partei. Beide Seiten aber – die feinen Herrschaften hinter der Kulisse und die Lautsprecher davor – gehören nach wie vor zum Doppelgesicht der AfD. Es drückt sich auch in ihrem Selbstverständnis als Rechtsstaatspartei aus: Juristen wie Roland Hartwig, die sich als Verfechter eines rational begründeten Rechts verstehen, integrieren nach innen die bürgerliche Klientel. Tatsächlich aber ist die AfD die Partei des gefühlten Rechts, das als politisches Aufputschmittel im Kampf gegen Ausländer, Migranten und die »Altparteien« eingesetzt wird. Damit macht sie ihr politisches Geschäft.
Als sich die nach den innerparteilichen Machtkämpfen neu aufgestellte Partei im Sommer 2015 wieder dem wirklichen Leben zuwandte, war die Flüchtlingskrise für die AfD ein so unverhofftes wie willkommenes Thema, aus dem sie überlebensnotwendige politische Lebenskraft schöpfen konnte. »Grenzenloser Rechtsbruch«, twitterte die neue Vorsitzende Frauke Petry(2) Mitte August entrüstet.11 »Man kann diese Krise ein Geschenk für uns nennen«, bilanzierte Alexander Gauland(2) am Jahresende im SPIEGEL: »Sie war sehr hilfreich«.12 Gemeinsam mit seiner Co-Vorsitzenden hatte er zuvor die »Herbstoffensive« lanciert, mit der die AfD signalisierte: »Wir sind wieder da.«13 Filigrane Diskussionen über die Auslegung der Dublin-Verordnung oder grundsätzliche Erörterungen über das Nationalstaatsverständnis im vereinten Europa versprachen dafür wenig Gewinn. Es musste gröberes Geschütz her. Am 9. Oktober 2015 verkündeten Petry und Gauland auf einer Pressekonferenz in Berlin, dass sie Strafanzeige gegen die Kanzlerin(73) gestellt hatten. Angela Merkel sollte als Schleuserin gemäß § 96 Absatz 1 Aufenthaltsgesetz bestraft werden. Die Regierungschefin hatte nach Ansicht der AfD den verschärfenden Tatbestand erfüllt, »wiederholt oder zugunsten mehrerer Ausländer« gehandelt zu haben. Bis zu fünf Jahre Haft sieht das Gesetz dafür vor.
Nahezu zeitgleich zur Berliner AfD-Pressekonferenz hatte der Passauer Strafrechtsprofessor Holm Putzke(2) auf seiner Homepage einen kurzen Beitrag unter der Überschrift: »Ist Angela Merkel(74) eine Schleuserin? – Eine strafrechtliche Betrachtung« veröffentlicht.14 Putzke argumentierte zugespitzt, als habe die Bundeskanzlerin höchstpersönlich Zehntausende Menschen mit ihrem Dienstwagen über die Grenzen kutschiert. Die Regierungschefin sollte danach kaum anders strafbar sein als ein professioneller Menschenschlepper, der Flüchtlinge illegal über die deutsche Grenze brachte. Selbst Lokführer, die im Sommer 2015 Züge über die deutsch-österreichische Grenze gefahren hatten, seien als Schleuser straffällig geworden, resümierte (3)Putzke.
Tatsächlich hatten Polizei und Strafverfolgungsbehörden in Zehntausenden Fällen Strafanzeigen gegen Flüchtlinge und angebliche Schleuser gestellt und Ermittlungsverfahren wegen illegalen Grenzübertritts sowie der Unterstützung dabei eingeleitet. Knapp 3000 Ermittlungsakten stapelten sich deswegen Ende 2015 in den bayerischen Gerichten.15 Allein in der ersten Jahreshälfte hatten die Sicherheitsbehörden etwa 600 Menschen unter dem Vorwurf der Schleuserei in Untersuchungshaft genommen. Die Gefängnisse in Rosenheim und Passau waren deswegen an die Grenzen ihrer Kapazitäten gekommen. Mutmaßliche Schleuser und Menschenschlepper mussten auf Haftanstalten in ganz Bayern verteilt werden.16 In Schnellverfahren wurden Ungarn, Rumänen, Bulgaren, Iraker und andere im Halbstundentakt wegen Schleuserei an den Grenzen abgeurteilt.17
Unter den Inhaftierten waren keineswegs nur Mitglieder von professionellen Schleuserorganisationen, die Asylsuchende gegen horrende Summen in den dicht verschlossenen Laderäumen ihrer Lieferwagen über die Grenzen gefahren hatten. Auch arglose Mitarbeiter von privaten Hilfsorganisationen, die auf dem Heimweg von Einsätzen an der österreichisch-ungarischen Grenze Flüchtlingen eine Mitfahrgelegenheit im Auto angeboten hatten, fanden sich in Arrestzellen der Polizei und bayerischen Untersuchungsgefängnissen wieder.18 Selbst ein Vater, der seine 14-jährige Tochter mit dem Auto aus Salzburg zu sich nach Deutschland geholt hatte, wurde von zwei Instanzen bayerischer Gerichte als Schleuser verurteilt.19
Der Passauer Strafrechtsprofessor Holm Putzke(4) erklärte in seinem Artikel, dass es ihm allein darum gehe, »auf die widersprüchliche Anwendung des Rechts hinzuweisen«. Einerseits Flüchtlinge mit regierungsamtlichem Segen über die Grenzen zu transportieren, andererseits Menschen hinter Gitter zu bringen, die gleiches auf eigene Faust taten: Das war ein Widerspruch, auf den Putzke hinweisen wollte.
Andere Strafrechtler taten sich nicht schwer damit, das Dilemma fachlich zu lösen. Die Strafvorschrift stellte schließlich darauf ab, dass eine Einreise »unerlaubt« erfolgt sei. Wenn aber eine Regierung sich entscheidet, Menschen aus humanitären Gründen oder mit Blick auf völkerrechtliche Verpflichtungen aufzunehmen und dabei auf die Pass- oder Visumspflicht zu verzichten, lag es auf der Hand, dass die Einreise nicht nachträglich kriminalisiert werden konnte. § 22 Aufenthaltsgesetz bestimmt ausdrücklich, dass eine Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen ist, wenn die Bundesregierung »die Aufnahme erklärt« hat. Zumindest für die Menschen, die im Spätsommer 2015 im Rahmen der Absprachen mit Österreich nach Deutschland gelassen wurden, traf das zu. Entsprechend stellte auch die Staatsanwaltschaft das von der AfD beantragte Strafverfahren nach wenigen Wochen ein.20 Sie wendete dabei genau jenes Argument gegen die AfD, das die Regierungskritiker selbst ansonsten gerne gegen die Kanzlerin(75) richteten: Der Exekutive obliege ein »staatliches Hausrecht«. Wer forderte, die Regierung müsse ein Recht haben, Menschen nicht ins Land zu lassen, konnte dem Staat schwerlich das Recht absprechen, Menschen die Einreise zu erlauben, wenn er das für notwendig hielt.
Auch Holm Putzke(5) plädierte nicht ernsthaft dafür, die Bundeskanzlerin(76) vor den Kadi zu ziehen. Der Strafrechtler stellte in seinem Artikel ein kapriziöses Gedankenspiel an und lenkte mit einer schrillen Überschrift die Aufmerksamkeit darauf. Konsequenzen sollte das nicht haben. »Von Strafanzeigen gegen die Bundeskanzlerin oder Zugführer halte ich gar nichts«, gestand Putzke am Ende seines Artikels. Tatsächlich aber hatte er der AfD mit seinen Spekulationen die strafrechtliche Munition für ihre politische »Herbstoffensive« geliefert und ihre öffentlichkeitswirksame Strafanzeige wissenschaftlich veredelt. Dass es sich rein juristisch betrachtet um eine Platzpatrone handelte, war aus Sicht der AfD unerheblich. Der Knall genügte. In den sozialen Netzwerken zog der Vorwurf seine Kreise, Medien berichteten. »Macht sich Merkel strafbar?«, fragte die Frankfurter Allgemeine Zeitung.21 Als die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach wenigen Wochen einstellte, hing der schweflige Geruch des Strafvorwurfs noch in der Luft. Die Behörde gab nicht einmal mehr eine Pressemitteilung heraus. Die Zeitungen, die zuvor von Putzkes spektakulären Thesen und der Anzeige der AfD berichtet hatten, nahmen von der Einstellung des Strafverfahrens keine Notiz mehr.
Die Delegitimierung und Kriminalisierung der Flüchtlingspolitik war das Ergebnis eines Zusammenspiels von publizistischen Zuspitzungen, rhetorischen Eskalationen und schließlich einer offenen Radikalisierung des politischen Diskurses. Mehr oder weniger arglose Juristen kommentierten zunächst eine krisenhafte Lebenswirklichkeit mit gewagten und oft fragwürdigen akademischen Gedankenspielen. Medien griffen sie auf. Politiker instrumentalisierten sie. So entstand das toxische Gemisch aus dem Raunen »besorgter Staatsrechtler«, spektakulären Strafrechtsspekulationen, akademischen Hypothesen und politischen Rechtsgutachten, in dem sich der Rechtsbruch-Vorwurf zu politischem Sprengstoff verdichten ließ.
Am Ende dieser Transformationen stand dann stets eine dankbare AfD, die nur noch einsammeln musste, was ihr andere in die Hände spielten. Ihre nach der Eurokrise leeren Arsenale wurden innerhalb weniger Wochen mit neuem, juristisch angereichertem Argumentationsmaterial gefüllt. Es wurde ihr frei Haus und ohne Bestellung zugeliefert, aber von der Partei umso dankbarer entgegengenommen. Als es der Vorwurf von der »Herrschaft des Unrechts« aus der Feder eines randständigen Juristen über ein Magazin für politische Kultur in das Aschermittwochsinterview des bayerischen Ministerpräsidenten geschafft hatte, brauchte Alexander Gauland(3) nur noch zu erklären: »Was die AfD schon seit langem beklagt, hat nun Seehofer(43) ausgesprochen.« Der bayerische Ministerpräsident habe »erkannt, dass Frau Merkel(77) sich weder um Gesetze, noch um den Wählerwillen schert.«22
Je länger der Vorwurf eines Rechtsbruchs ungeklärt im Raum steht, desto weniger bedarf er einer stichhaltigen Begründung. Er entfaltet seine korrosive Wirkung dann auch als reine Behauptung, selbst als raunend wiederholter Verdacht, der das vage Gefühl nährt, dass da etwas nicht in Ordnung ist. Davon profitieren die Ankläger, die mit dem Rechtsbruch-Verdikt in der politischen Arena operieren. Es geht ihnen nicht um die Befriedung eines Streites, an dessen Beilegung beiden Seiten gelegen wäre. Es geht ihnen darum, die Ordnung des Rechts durch die Dynamik des Rechtsgefühls zu verdrängen.
Wie sich auf diese Weise das politische Klima erhitzen lässt, hat am erfolgreichsten Donald Trump(1) im US-Präsidentschaftswahlkampf bewiesen. Mit dem Schlachtruf »lock her up« – sperrt Hillary Clinton(1) ein – brachte er die Massen auf seinen Wahlkampfveranstaltungen zum Rasen. Der Mann, der selbst bis zum Hals in jeder Art von Skandalen steckte, warf mit juristisch kontaminiertem Schmutz auf seine Mitbewerberin, denn er wusste: Es wird etwas hängen bleiben. Der Verdacht, Hillary Clinton könnte es als US-Außenministerin bei der Nutzung eines privaten Emailaccounts für dienstliche Korrespondenzen mit den Richtlinien der Regierung nicht so genau genommen haben, genügte, um ihre Glaubwürdigkeit als die erfahrenere und kompetentere Kandidatin wirksam zu beschädigen.
Auch in Deutschland prägte der Vorwurf des Rechtsbruchs das politische Klima bis in den Bundestagswahlkampf 2017 hinein und weit darüber hinaus. Lange hatten die Koalitionsparteien zunächst noch geglaubt, einen Wahlkampf führen zu können, in dem die Krise des Jahres 2015 keine entscheidende Rolle mehr spielen würde. Man hatte gehofft, den Blick nach vorne richten zu können: Soziale Themen, die öffentliche Infrastruktur, Fragen der Integration von Migranten sollten im Mittelpunkt der Wahlkampagnen stehen. Die Strategen in den Parteizentralen von Union und SPD setzten darauf, dass die Menschen kein Interesse mehr daran hätten, sich rückwärtsgewandt mit den Weichenstellungen des Jahres 2015 zu beschäftigen.
Bis wenige Wochen vor der Wahl sah es auch so aus, als ginge das Kalkül auf: Noch Anfang August 2017 lag die AfD in den Umfragen der Meinungsforscher deutlich unter zehn und die Union bei knapp 40 Prozent. Erst in den letzten Augustwochen drehte sich die Stimmung.
Als die heiße Phase des Wahlkampfs begann, schlug Angela Merkel(78) vor allem in den ostdeutschen Ländern bei ihren Auftritten auf den Marktplätzen offener Hass entgegen. Bundestagskandidaten meldeten in die Wahlkampfzentralen ihrer Parteien, dass auch an den Ständen in den Fußgängerzonen immer wieder der Sommer 2015 zum Gesprächsthema wurde. Da gärte noch etwas. Auch die Medien änderten ihre Agenden. Anfang September machte vor allem SAT1-Moderator Claus Strunz(1) die Flüchtlingspolitik zum dominierenden Thema des Fernsehduells zwischen Angela Merkel und Martin Schulz(1). Die Werte der AfD stiegen wieder deutlich an. Am Abend des 24. September wuchs der blaue Balken auf den Ergebnisgrafiken der Wahlsendungen schließlich auf über zwölf Prozent.
Der Einzug in den Bundestag war der AfD mit einer Kampagne gelungen, die auf den Überdruss an der Kompromisspolitik der Großen Koalition, Hass auf die Kanzlerin(79), nationale Rhetorik und unverhohlene Islamophobie setzte. Damit begab sich die Partei aber auch in ein fortwährendes Dilemma: Je aggressiver sie den Ton gegen Muslime aufdrehte, je toleranter sie sich gegenüber Björn Höckes Forderungen nach einer »erinnerungspolitischen Wende« zeigte, desto mehr aktivierte sie die Immunabwehr der Gesellschaft gegen extremistische Positionen und drohte, die Anschlussfähigkeit am rechten Rand der bürgerlichen Mitte zu verspielen. Ein halbes Jahr nach der Bundestagswahl zeigte sich, welches Unterstützerpotential die Partei gerade hier noch aufbieten konnte – und als Schlüssel dazu diente einmal mehr der Rechtsbruch-Vorwurf.
Am 15. März 2018, einen Tag nachdem Angela Merkel(80) im Deutschen Bundestag ihren vierten Amtseid als Bundeskanzlerin geschworen hatte, veröffentlichte eine Gruppe von rund 30 Publizisten, Journalisten und Professoren unter dem Titel »Gemeinsame Erklärung« einen Aufruf, mit dem sie gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung protestierten und sich mit Demonstrationen dagegen solidarisierten. Zu den Erstunterzeichnern gehörten die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin und CDU-Bundestagsabgeordnete Vera Lengsfeld(1), der Autor Henryk M. Broder(1), der Dresdner Schriftsteller Uwe Tellkamp(7) und der vom SPD-Politiker zur Galionsfigur des »Man wird doch noch sagen dürfen«-Bürgertums mutierte Thilo Sarrazin(3).
Der Aufruf ging aus einem losen Gesprächskreis hervor, der bereits seit dem Herbst 2015 in Berlin zusammengefunden hatte. Man traf sich mal in der »Bibliothek des Konservatismus« in der Charlottenburger Fasanenstraße, mal in der »Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Kommunismus« im ehemals Ostberliner Nikolaiviertel. Der ZEIT-Autor Martin Machowecz(1) beschrieb die Runde als »interessante Melange aus konvertierten Alt-68ern West und wütenden Alt-89ern Ost«.23 Ein großer Teil von ihnen war lange vorher als Beststellerautoren, in Fernsehtalkshows oder als verantwortliche Redakteure in Zeitungen oder Zeitschriften zu Bekanntheit und Meinungsmacht gelangt. Jetzt fanden sie im Gefühl zusammen, keine Stimme mehr in einem »Medienmainstream« zu haben, der ihnen die lange gewohnte Aufmerksamkeit versage und sie am rechten Rand stigmatisiere. Der Kern der Gruppe machte seit dem Herbst 2015 auf unterschiedlichen Plattformen gegen »Rechtsbruch und Aufhebung von Gewaltenteilung in Deutschland« mobil.24 Vera Lengsfeld(2) hatte schon im vorangegangenen Herbst die »Charta 2017« gegen eine angeblich drohende »Gesinnungsdiktatur« initiiert. »Wir orientieren uns am Widerstand«, verkündete sie auf ihrem Blog und stellte ihren Protest gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung in eine direkte Kontinuität zur friedlichen Revolution von 1989/90: »Wenn sich genügend viele Menschen finden, die den Herrschenden die Legitimation absprechen und die Gefolgschaft verweigern, bricht auch ein bis an die Zähne atomar bewaffnetes System zusammen. Damals verschwand fast über Nacht eine ganze politische Klasse.«25 So wollte man jetzt auch mit einer neuen Allianz das »System Merkel(81)« in die Knie zwingen.
Der Aufruf, den Lengsfeld(3) und ihre Mitstreiter im März 2018 ins Internet stellten, verzichtete auf offenes Revolutionspathos. Damit hätte man wohl genau jene verunsicherten, aber konfliktscheuen Bildungsbürger verschreckt, die man nun ansprechen und für die gemeinsame Sache gewinnen wollte. Auch pauschalisierende Islamkritik und rechtsnationale Umvolkungsrhetorik, die man an anderen Stellen pflegte,26 verkniffen sich die Initiatoren in ihrer »Erklärung 2018«. Es sollte eine Formel gefunden werden, die auch all diejenigen zur Unterstützung ermutigte, die es zumindest in der Öffentlichkeit nicht wagen würden, bei Pegida mitzumarschieren, sich offen zu rassistischen oder nationalistischen Thesen sowie der AfD zu bekennen.
Die Behauptung, sich vor allem um die Geltung des Rechts zu sorgen, sollte wie ein Schutzschild gegen stigmatisierende Kennzeichnungen wirken: Wer sich nur dafür einsetzt, dass Recht und Gesetz beachtet werden, kann schwerlich als rechter Ideologe diskreditiert werden. Wer einen Rechtsbruch an den deutschen Grenzen beklagt, kann sich schließlich auf so honorige Stimmen wie die eines ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten, des bayerischen Ministerpräsidenten und angesehener Staatsrechtslehrer berufen. Das – so suggerierte es die »Erklärung 2018« – wird man doch noch unterschreiben dürfen, ohne sogleich mit den Schmuddelkindern von der AfD in einen Topf geworfen zu werden.
Nur zwei Sätze umfasst der Text, den die Initiatoren der »Erklärung 2018« veröffentlichten: »Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die illegale Masseneinwanderung beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die friedlich dafür demonstrieren, dass die rechtsstaatliche Ordnung an den Grenzen unseres Landes wiederhergestellt wird.«27 Neben Lengsfeld(4), Tellkamp(8), Sarrazin(4) und Broder(2) waren unter den Erstunterzeichnern der ehemalige Kulturchef des SPIEGEL Matthias Mattusek(1), der »Privatgelehrte« Jörg Friedrich(1), der mit seiner 2002 erschienen Anklageschrift gegen den anglo-amerikanischen »Luftterror« im Zweiten Weltkrieg einen neuen deutschen Opferdiskurs inspiriert hatte, der Althistoriker Egon Flaig(1), der sich mit Gastbeiträgen in der FAZ als früher Islamkritiker28 einen Namen gemacht hatte, sowie der Fondsmanager Max Otte(1), ein ehemaliges CDU-Mitglied und mittlerweile Kuratoriumsmitglied der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung.
Wer sich näher mit der Namensliste beschäftigte, konnte indes leicht erkennen, dass der Bogen der Unterzeichner noch deutlich weiter nach rechts gespannt war: Der Historiker Karlheinz Weißmann(1) war darauf zu finden, einer der intellektuellen Vordenker der neuen Rechten, sowie Dieter Stein(1), Chefredakteur der JUNGEN FREIHEIT, des Zentralorgans des neuen Rechtskonservatismus. Das direkte Verbindungsglied zur AfD war Michael Klonovsky(1), ein scharfzüngiger Polemiker und ehemaliger FOCUS-Redakteur, nun Mitarbeiter des AfD-Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland(4).
Als Lengsfeld(5) und Broder(3) einige Wochen nach der Veröffentlichung der »Erklärung 2018« in einer Pressekonferenz ankündigten, den Aufruf auch als förmliche Petition im Deutschen Bundestag einzureichen, saß Klonovsky(2) mit auf dem Podium und machte sich über den Europarechtler Daniel Thym(7) lustig, der kurz zuvor in mehreren Artikeln gegen die Rechtsbruch-These angeschrieben hatte: »Thym wie Thymos«, kicherte Klonovsky selbstzufrieden, aber einsam, weil außer ihm kaum einer der Zuhörer das Wortspiel mit dem philosophisch verbrämten Volkszornjargon der AfD verstand.
Unter den veröffentlichten Namen der Erstunterzeichner der »Erklärung 2018« stand ursprünglich auch der von Ellen Kositza(1). Damit war auch die Verbindung zur Kaderschmiede der neuen Rechten im sachsen-anhaltinischen Schnellroda offenkundig. Kositza widmet sich dort gemeinsam mit ihrem Ehemann Götz Kubitschek(2) in einem öko-nationalistischen Lebens- und Arbeitsprojekt neben der Aufzucht von Ziegen und einer vielköpfigen Kinderschar der publizistischen Wegbereitung der »konservativen Revolution«. Der Name Kositza verschwand indes nach wenigen Tagen wieder aus der Namensliste unter der »Erklärung 2018«. »Wer vermutet, daß sie manchem anderen Erstunterzeichner nicht tragbar schien, liegt richtig«, offenbarte ihr Ehemann in seinem Blog.29
Für Kubitschek(3), einen kühlen Apologeten der gesellschaftlichen Spaltung, war die »Erklärung 2018« Ausdruck einer neuen »Bekenntnislust«. Die Liste der Erstunterzeichner, so war sich Kubitschek sicher, sei nur »die Spitze des Eisbergs. (…) Zigtausend Leute werden den Finger heben und sich namentlich dazu bekennen, AfD zu wählen, oppositionelle Medien zu lesen, demonstriert zu haben und aus alledem keinen Hehl mehr machen zu wollen«, sagte Kubitschek voraus.
In der ersten Phase der Kampagne durften ausschließlich Akademiker ihre Namen und Doktor- oder Professorentitel unter die Erklärung setzen. Nach wenigen Tagen hatten die Initiatoren die selbst gesetzte Marke von 2018 Unterschriften erreicht – Ärzte, Hochschulprofessoren, Lehrer, Rechtsanwälte. Damit war die Hemmschwelle für diejenigen hinreichend gesenkt, die fürchteten, sich mit ihrem Bekenntnis zu der Aktion in anrüchige Gesellschaft zu begeben. In der zweiten Phase fiel die Akademikerbarriere und innerhalb von zwei Wochen standen 70 000 Namen unter dem Aufruf. In der dritten Phase reichten die Initiatoren ihre Erklärung mit leicht verändertem Text als offene Petition beim Deutschen Bundestag ein.
Um die nötige, konkrete Handlungsaufforderung an das Parlament zu formulieren, stellten Lengsfeld(6) und ihre Mitstreiter den beiden Sätzen der Erklärung einen weiteren Satz voran: »Der Bundestag möge beschließen, die Rechtmäßigkeit an den deutschen Grenzen wiederherzustellen.«30 Auf der entsprechenden Website des Parlaments war wiederum innerhalb von zwei Wochen das Quorum von 50 000 Unterschriften erreicht. Damit hatten die Initiatoren ihr Ziel erreicht: eine öffentliche Anhörung.
Im Oktober 2018 durften Vera Lengsfeld(7) und Henryk M. Broder(4) als zugelassener »Beistand« ihre Anklage gegen die Bundesregierung vor dem Ausschuss vortragen. Zum Tribunal, das sich mancher erhofft haben dürfte, taugt das streng regulierte Anhörungsverfahren vor dem Petitionsausschuss nicht. Fünf Minuten lässt es den Petenten, ihr Anliegen zu begründen. Eine knappe Stunde geht es danach mit strikt auf je eine Minute begrenzten Fragen und Antworten hin und her. Lengsfeld und Broder listeten »Messerverbrechen« von Asylbewerbern auf und klagten, die Unterzeichner ihrer Erklärung würden unter einen »rechten Generalverdacht« gestellt.
Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium Günter Krings(1) antwortete für die Bundesregierung. Der CDU-Politiker verwies auf die anhaltenden Kontrollen an den Grenzen und ausgeweitete Maßnahmen zur Schleierfahndung im grenznahen Bereich, Bemühungen zum Schutz der EU-Außengrenzen und die Einrichtung der neuen sogenannten »ANKER-Zentren« in Deutschland, in denen Asylverfahren und Prüfungen nach den Dublin-Regeln beschleunigt würden.
Ein paar Mal versuchte Henryk Broder(5), die nüchterne Stimmung im runden Anhörungssaal anzuheizen. Das Spektakel aber, das die Initiatoren beim Beginn ihrer Unterschriftensammlung versprochen hatten, blieb aus. Entsprechend mager war das Medienecho. Darauf aber kam es für Lengsfeld(8) und ihre Mitstreiter zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr an. Das eigentliche Ziel ihrer Aktion war eine breite Mobilisierung außerhalb des Parlaments gewesen – und immerhin mehr als 160 000 Menschen hatten die »Erklärung« nach Lengsfelds Angaben mittlerweile unterzeichnet.31 Die knappe, nicht weiter begründete Behauptung, an den deutschen Grenzen sei das Recht außer Kraft gesetzt worden, hatte eine neuartige Allianz geformt. Der Rechtsbruch-Vorwurf war der gemeinsame Nenner, auf den sich vom rechtsextremen Nationalrevolutionär bis zur konservativen Bildungsbürgerin ein Spektrum von Menschen einigen konnte, die sonst nicht so leicht zueinander gefunden hätten.
Wie sicher sich die Initiatoren der »Erklärung 2018« in ihrem Urteil über die Rechtslage fühlen zu können glaubten, wurde wenig später offenbar, als der Konstanzer Rechtsprofessor und Migrationsrechtsexperte Daniel Thym(8) im TAGESSPIEGEL einen Gastbeitrag veröffentlichte und darin noch einmal geduldig das »Missverständnis der Dublin-Regeln« aufklärte, das der Rechtsbruch-These zugrunde liege.32 »Professor Unfug legitimiert den Rechtsbruch«, schäumte daraufhin Thilo Sarrazin(5).33 »Professor Thym argumentiert nicht ehrlich und versucht seine arglosen Leser für dumm zu verkaufen, um sie gegen die Unterzeichner der Erklärung 2018 aufzuhetzen.« Als Thym daraufhin nachlegte und auf dem Verfassungsblog seine juristischen Argumente Schritt für Schritt begründete,34 legte Sarrazin offen, was er unter Herrschaft des Rechts versteht: Die Dublin-Verordnung sei ihm unverständlich. Das nationale Asylrecht mit seiner Drittstaatenregelung könne dagegen »jeder verstehen, und aus diesem Verständnis heraus war die Öffnung der Grenzen am 5. September 2015 rechtswidrig. Ganz unabhängig von der Rechtsfrage hat sie schweren Schaden über die Bundesrepublik gebracht ist und war verantwortungsethisch unvertretbar.« So wird der Verständnishorizont des Ökonomen Sarrazin zum Maßstab dessen, was als Recht gilt und was nicht: Die Praxis an der Grenze »nenne ich eine Herrschaft des Unrechts und bleibe dabei.«35
Während im Frühjahr 2018 die Unterschriftenliste unter der »Erklärung 2018« immer länger wurde, bereiteten sich in Bayern die Parteien auf die im Oktober bevorstehende Landtagswahl vor. Vor allem aus Sicht der CSU war die Mobilisierung im bürgerlichen Milieu ein Alarmsignal. Wie ein Rammbock hatte die Unterschriftenaktion die soziale Trennwand zwischen einem in der Mitte integrierten Bürgertum und den politischen Außenseitern der neuen Rechten aufgerissen. Bei der bayerischen Landtagswahl drohte nun ein weiterer Durchbruch der AfD ins Wählerlager der CSU.
Das Mobilisierungspotential, das in der Instrumentalisierung eines verletzten Rechtsgefühls steckt, ist in Bayern eine bekannte Größe in der Politik. Man hat im Freistaat seit jeher ein eigenes Rechtsverständnis gepflegt und eine besondere Rechtsstellung im föderalen Gefüge für sich in Anspruch genommen. Dazu gehört auch die Bereitschaft, den Konflikt zwischen dem Bund und seinen Institutionen zu inszenieren und eskalieren zu lassen.
Legendär ist der Auftritt des damaligen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber(2) bei der Massendemonstration gegen die »Kruzifix«-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im September 1995. 30 000 Menschen hatten sich damals vor der Münchner Feldherrnhalle versammelt, um gegen das »Intoleranzedikt« (Friedrich Kardinal Wetter(1)) aus Karlsruhe zu protestieren. In einer Fünf-zu-drei-Entscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht zuvor die gesetzliche Verpflichtung, in den Klassenzimmern bayerischer Volksschulen Kruzifixe aufzuhängen, für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt.36 »Lebensfremd« sei die Entscheidung der Karlsruher »Fünferbande«, hieß es nun auf den Spruchbändern und Protestplakaten auf dem Münchner Odeonsplatz, »selbständig und christlich« müsse sich der Freistaat Bayern dagegen behaupten.37
Die Demonstration war mehr als nur erregter Widerspruch gegen eine Gerichtsentscheidung. Eine Allianz von Staatsregierung, beiden christlichen Kirchen und empörten Bürgern brachte ein kulturell tradiertes Rechtsempfinden gegen die verfassungsrechtlich normierte Autorität des höchsten Gerichts in Stellung. Es ging um kulturelle Identität, um Autonomie des Freistaats im föderalen Gefüge und um die Akzeptanz von Verfahren, in denen Konflikte im Verfassungsstaat ausgetragen werden.
Dem Gericht, das sich in besonderer Weise dem Schutz von Minderheitenrechten verpflichtet sieht, wurde ein Rechtsverständnis entgegengehalten, das sich aus dem Empfinden einer behaupteten Volksmehrheit begründete. »Freiheit für die Mehrheit« hieß es auf einem der Protestplakate. Edmund Stoiber(3) wendete den Topos in seiner Rede in die Formel: »Auch die Minderheit muss in bestimmten Fällen tolerant sein gegenüber der Mehrheit.«38
Am Ende der Veranstaltung sangen die Teilnehmer die Bayernhymne bis zur letzten, sonst kaum gesungenen dritten Strophe: »Gott mit uns und Gott mit allen, die der Menschen heilig Recht treu beschützen und bewahren, von Geschlechte zu Geschlecht.« Das Recht, dass hier beschworen wurde, war nicht das menschengemachte Recht des Verfassungsstaats und der internationalen Menschenrechte. Wenn Politik sich auf »der Menschen heilig Recht« beruft, begibt sie sich auf das Feld der Glaubenskämpfe und Ideologien.
Als ein gutes Vierteljahrhundert später Markus Söder(1) den innerparteilichen Machtkampf gegen Horst Seehofer(44) gewonnen und das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten angetreten hatte, versuchte er genau jene Stimmungslage zu revitalisieren, die 1995 bei der Kruzifix-Demonstration vor der Feldherrnhalle geherrscht hatte. Der Erlass, mit dem Söder im Frühjahr 2018 die Anbringung von Kruzifixen in den Eingangsbereichen bayerischer Landesbehörden anordnete, war ein Signal, dass der bevorstehende Landtagswahlkampf auch als Kampf um kulturelle Hegemonie geführt werden sollte. Was Ende der 90er Jahre noch eine Auseinandersetzung um landsmännische Identität im föderalen Bundesstaat war, wurde nun in den Kontext der Debatten über die Migrations- und Integrationspolitik im 21. Jahrhundert platziert.
Das entsprach einer politischen Strategie, die darauf abzielte, die Auseinandersetzung mit der AfD auf genau den Themenfeldern auszutragen, auf denen die Rechtspopulisten die Diskurshoheit für sich reklamierten. Es gehe darum, rhetorische Räume zu besetzen, die vor allem von der unter Angela Merkels(82) Führung politisch nach links gerückten CDU preisgegeben worden seien, erklärten führende CSU-Politiker in Hintergrundgesprächen mit Journalisten. Immer wieder wurde öffentlich auch an das von Franz Josef Strauß(9) formulierte Dogma erinnert, nach dem es rechts von der Union keine demokratisch legitimierten Parteien geben dürfe. Entsprechend müssten sie nun ihre »rechte Flanke schließen«, leiteten die Wahlkämpfer der CSU daraus ab.
Das Ziel war es, die sprachlichen Spielräume der rechten Konkurrenz so weit zu besetzen, dass die AfD in einen offenen Rechtsextremismus abgedrängt würde, der sie für die bürgerliche Klientel der Unionsparteien unwählbar machte. Jedes Anzeichen einer weiteren Radikalisierung der AfD erschien in diesem Kalkül als Beleg für den Erfolg dieser Verdrängungsstrategie. Der Preis dafür freilich war es, dass sich die CSU gleichsam an die Rhetorik der AfD kettete. Wer hier wen immer weiter in die Radikalisierung zog oder schob, war kaum noch zu unterscheiden.
Wie weit die Strategen der CSU bereit waren, sich dabei der Rhetorik ihrer rechten Konkurrenten anzuverwandeln, hatte der neue Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag Alexander Dobrindt(1) schon zu Beginn des Landtagswahljahrs 2018 mit einem Gastbeitrag in der Zeitung DIE WELT deutlich gemacht: »Auf die linke Revolution der Eliten folgt eine konservative Revolution der Bürger«,39 kündigte der CSU-Statthalter in Berlin an. Dobrindt machte sich damit einen Zentralbegriff des alten und neuen Rechtsintellektualismus zu eigen.40 Das war der provokante Auftakt zu einer zielstrebigen Eskalation der politischen Rhetorik. Die nächsten Stufen waren polarisierende Attacken gegen eine »aggressive Antiabschiebeindustrie«41 und einen »Asyltourismus in Europa«.42 Um dem beizukommen, sei es »endlich Zeit für klare Regeln auch in Deutschland«, forderte Markus Söder(2). Der neue bayerische Ministerpräsident spielte den Ball damit seinem Vorgänger Seehofer(45) zu.43 Der einst mächtigste Kritiker Angela Merkels(83) saß mittlerweile als Innenminister am Kabinettstisch der Kanzlerin und war qua Amt dafür zuständig, jene Politik zu gestalten, die er einst mit dem Begriff von der »Herrschaft des Unrechts« in Verbindung gesetzt hatte.
Seehofer(46) agierte in seiner neuen Rolle als politischer Augias, ein einsamer Held, der vor der Aufgabe steht, ein verwahrlostes Anwesen in Ordnung zu bringen und dabei immer wieder auf neuen Unrat stößt. »Wo immer ich hinlange, gibt es Bedenken oder Probleme. Aber das ist doch kein Argument für ein ›Weiter so‹. Wir müssen die Dinge anpacken und lösen«, erklärte der Innenminister in einem Interview der Süddeutschen Zeitung.44 Die Journalisten hatten ihn nach den Rechtsgrundlagen gefragt, die für den Umgang mit den im Mittelmeer aus Seenot geretteten Menschen gelten sollten. Der Verweis auf eine rechtliche Ordnung, die für die Politik handlungsleitend sein könnte, wurde als lästige Bedenkenträgerei abgewehrt. Der Innenminister, der zwei Jahre zuvor als Kämpfer gegen die »Herrschaft des Unrechts« angetreten war, postulierte nun das Primat der Tat. Es signalisierte die Entschlossenheit, rechtliche Bindungen und gesetzlich geregelte Verfahren als Hindernisse zu disqualifizieren, die einer Politik im Wege stehen, wo immer sie tatkräftig »hinlangt«, um eine außer Kontrolle geratene Wirklichkeit in Ordnung zu bringen.
Zur nächsten Eskalationsstufe wurde die Diskussion um die Abschiebung von Ausländern, die von den Sicherheitsbehörden als ideologisch motivierte »Gefährder« eingestuft wurden. Wochenlang prangerte die BILD im Frühsommer 2018 den Fall des »Bin-Laden-Leibwächters« Sami A.(1) als Beleg für einen »Abschiebeirrsinn« an.45 Seit mehr als zehn Jahren hatten nordrhein-westfälische Behörden mehrfach erfolglos die Ausweisung des salafistischen Predigers betrieben. Der Fall war vor Gerichten über Jahre hin- und hergegangen.
»Wir müssen erreichen, dass diese Abschiebeverbote durch Gerichte aufhören«, verlangte nun der Bundesinnenminister. »Mein Ziel ist, diese Spirale aus Gerichtsentscheidungen zu durchbrechen«.46 Seehofer(47) versprach, sich der Sache persönlich anzunehmen. Täglich ließ er sich vom Stand der Dinge in Nordrhein-Westfalen unterrichten.47 In aufgeheizter Stimmung war man dort bereit, die Grenzen des Zulässigen auszutesten. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde Sami A.(2) in einem Charterflugzeug nach Tunesien ausgeflogen, obwohl das zuständige Verwaltungsgericht dies am Tag zuvor untersagt hatte. Als das Fax mit dem Abschiebeverbot bei den Behörden einging, war der Flieger bereits auf dem Weg nach Nordafrika in der Luft. Die Richter hatten darauf vertraut, dass vor ihrer Entscheidung keine vollendeten Tatsachen geschaffen würden. In der Exekutive aber hatte sich offenkundig eine Stimmung breitgemacht, in der es opportun oder gar politisch gewollt schien, unpopuläre Regeln des Rechtsstaats als Hindernisse zu betrachten, die es vor allem zu umgehen gelte.
Die maximale Erhitzung erreichte die Diskussion um die Flüchtlingspolitik schließlich im Streit um den »Masterplan« des Bundesinnenministers, der die Koalition im Sommer 2018 an den Rand des Bruches führte. Die CSU hatte im anschwellenden Landtagswahlkampf die Forderung, Flüchtlinge an der deutsch-österreichischen Grenze abzuweisen, zu ihrem zentralen Thema gemacht. Schon kurz nach der Bundestagswahl hatte die CSU vergeblich versucht, die große Schwesterpartei dazu zu bewegen, die einseitige Zurückweisung von Asylsuchenden zu akzeptieren und als gemeinsame Forderung in die bevorstehenden Koalitionsverhandlungen einzubringen. Angela Merkel(84) hatte sich im Oktober 2017 mit ihren Verweisen auf die europäische Rechtslage durchgesetzt. Auch Horst Seehofer(48) bekannte damals nach einem langen Verhandlungsabend mit der Kanzlerin: »Die Zurückweisung an der Grenze ist eine hochkomplizierte, auch juristische Angelegenheit, die eine Reform des Dublin-Verfahrens voraussetzen würde.«48
Ein halbes Jahr später aber sollte das nicht mehr gelten. Der Minister, dessen Partei sich den Kampf für die Durchsetzung von »Recht und Ordnung« an den Grenzen auf die Fahnen geschrieben hatte, zeigte nun die Bereitschaft zur Tat, vor der Thomas de Maizière(26) 2015 auch mit Blick auf die europarechtlichen Bindungen noch zurückgeschreckt war. Horst Seehofer(49) werde nun »an der Grenze durchgreifen«, kündigte CSU-Generalsekretär Markus Blume(1) an, Zurückweisungen von Flüchtlingen seien eine »existentielle Frage«.49
Die Bundesregierung stand damit drei Jahre nach der Krise des Sommers 2015 exakt an dem Punkt, an dem sich schon damals die Geister der Sicherheitsexperten von denen der Juristen sowie der Europa- und Migrationsfachleute im Bundesinnenministerium geschieden hatten. In Krisensitzungen, mit Rücktrittsankündigungen und der Drohung, die Fraktionsgemeinschaft mit der Union zu beenden und damit auch die Regierung zu sprengen, wurde die erneute Auseinandersetzung um die einseitige Zurückweisung von Flüchtlingen auf die Spitze getrieben.
Die Behauptung, im Sommer 2015 habe sich die Regierung über geltendes Recht hinweggesetzt, stand am Anfang dieser Konfliktgeschichte. Und die Regierung brauchte lange, um deren korrosive Wirkung zu erkennen und ernst zu nehmen. »Wir waren zu sehr mit der Bewältigung der politischen Herausforderungen von den Verhandlungen mit der Türkei bis zur Registrierung und Unterbringung der Flüchtlinge in den Bundesländern beschäftigt«, bekennt ein hochrangiger Regierungsvertreter im Rückblick. »Wir haben nicht rechtzeitig erkannt, welche Wucht die Delegitimierung unserer Politik durch die Behauptung des Rechtsbruchs entfalten würde«, ergänzt ein anderer. Der Vorwurf des Rechtsbruchs war dadurch zu einem Topos im politischen Diskurs geworden, der seine Wirkung aus sich selbst zu beziehen schien: Um ein in der Migrationskrise verunsichertes, für nationale Sehnsüchte und islamophobe Ressentiments anfälliges Publikum zu überzeugen, bedurfte er keiner weiteren Referenz oder Beglaubigung mehr.