In der Begegnung mit dem Flüchtling wird der demokratische Territorial- und Verfassungsstaat sich selbst zur Paradoxie. Ihm gegenüber stößt die demokratische Legitimation von Herrschaft buchstäblich an ihre Grenze. Der Flüchtling ist das verkörperte Außen im Innen, er steht auf fremdem Boden einer fremden Staatsmacht gegenüber, Inhaber von Menschenrechten, aber nicht von Bürgerrechten, und das nicht nur vorübergehend, nicht nur zu Besuch als Angehöriger eines anderen Staates, der ihn schützt und mit Rechten ausstattet, sondern vor diesem auf der Flucht. Der demokratische Verfassungsstaat muss irgendwie mit ihm umgehen und weiß nicht wie, ohne sich selber fremd zu werden. So verkörpert der Flüchtling wie kaum sonst jemand für den Demos des Verfassungsstaats die Gefahr, sich ins Unheimliche zu verlieren.1
In der Begegnung mit dem Unheimlichen, dieses Phänomen ist vermutlich so alt wie die Menschheit, erzählt man sich Geschichten. Das paradoxe Gegenüber wird in ein Nacheinander aufgelöst, in eine Abfolge erzählbarer Begebenheiten. Also, hört zu, wird erzählt, das mit den Flüchtlingen, das kam so: Einst lebten wir, das Volk der Deutschen, sicher und frei in unseren Grenzen, unser selbst gewiss und mit uns selbst identisch und vor der gefährlichen und instabilen Welt dort draußen abgeschirmt durch einen Kordon sicherer Drittstaaten. Doch dann kam mit einem Mal aus dem Osten und Süden mit katastrophischer Gewalt hunderttausendfach verkörperte Unordnung über uns. Heerscharen von Unbegreifbaren tauchten am Horizont auf, und ihr Ziel waren – wir. Sie kamen immer näher, so wird erzählt, wir drinnen, sie draußen. Und dann waren sie drinnen. Sie schwappten über die Grenze, als sei sie gar nicht da. Diese Menschen sind Rechtsbrüchige: Sie reisen illegal ein. Und obendrein sind sie lauter »junge Männer aus einem fremden Kulturkreis« und somit mutmaßliche Terroristen, Vergewaltiger und Sozialbetrüger, zumindest in Potenz. Und jetzt sind sie hunderttausendfach mitten unter uns. Wie kam das? Das kam so, wird erzählt, dass sie jemand hereingelassen hat. Dass jemand die uns umschließenden und sicher bergenden Grenzen geöffnet hat wie der Verräter die Pforte in der Mauer der belagerten Burg. Wer war das? Das, so wird erzählt, war niemand anders als die Kanzlerin(85) Angela Merkel. Sie hat ihren Innenminister(50) gezwungen, per Geheimerlass den Unheimlichen die Grenzen aufzutun, und sie obendrein mittels Selfie-Fotos und »Wir schaffen das« geradezu herbeigerufen. Warum tat sie das? Aus Angst vor hässlichen Bildern, so wird erzählt, aus sentimentaler, humanistischer Gesinnungsethik, jedenfalls aber aus Schwäche. Dabei ist sie von dämonischer, geradezu diktatorischer Machtfülle, unsere Kanzlerin – aber gleichzeitig ist sie schwach. Und diese starke Schwäche, diese Diktatur des Verrats, dieser Widerspruch löst sich auf, wenn man erkennt, dass dahinter dunkle Mächte wirken, von George Soros(1) und anderen wurzellosen Kosmopoliten verkörpert, die uns, das Volk der Deutschen, durch ein anderes, willfährigeres Volk von eingewanderten Zombie-Sklaven zu ersetzen und auszutauschen trachten. Ja, so wird erzählt. So kam das.
Die Kraft dieser Erzählung reicht aus, um einen erheblichen Teil der deutschen Bevölkerung zum Glauben an sie zu bekehren und das politische Klima in Deutschland auf irreversible Weise zu verändern. Dass sie mit dem, was sich zugetragen hat, wenig zu tun hat, dass Deutschland niemals dieses abgeschirmte Idyll hinter den sieben Bergen gewesen war und niemand irgendwelche Pforten in irgendwelchen Mauern geöffnet hat und schon gar nicht irgendwelche dunklen Mächte am Austausch des deutschen Volkes arbeiten – all das ist aus der Perspektive derer, die an sie glauben, nicht nur zweifelhaft und umstritten, sondern regelrecht irrelevant. Das interessiert sie nicht. Wichtig ist, dass die Rechtsbruch-Erzählung in sich hinreichend stimmig ist und dass sie funktioniert.
Der Schlüssel dazu, dass sie funktioniert, ist die Kennzeichnung der Flüchtlinge als Rechtsbrüchige per se: So können wir sie begreifen. So werden sie mit einem Mal sinnfällig in all ihrer verkörpert vor uns stehenden Nichtzugehörigkeit: Sie sind nicht so sehr unheimlich und unvertraut, sondern schlicht und einfach kriminell. Wir wüssten mit ihnen als Rechtsbrüchige eigentlich auch fertig zu werden. Jedenfalls solange Recht und Ordnung herrschen. Und doch laufen sie frei unter uns herum, als gehörten sie ganz normal zu uns. Die Herrschaft des Rechts kann es nicht sein, die das zulässt. Das ist die Herrschaft des Unrechts! Und auch die hat ihre Verkörperung. In der Kanzlerin(86) nämlich, der Frau aus dem Osten, deren Herrschaft uns immer schon ein Ärgernis wider die natürliche Ordnung der Dinge war. So ergibt das ganze Grauen plötzlich Sinn.
Die Rechtsbruch-Erzählung bedient sich des Codes des Rechts: Sie markiert die Gegenwart der Flüchtlinge auf deutschem Territorium als Unrecht. Im Funktionssystem des Rechts wäre dieser Befund gegebenenfalls der Endpunkt, die stringente Schlussfolgerung aus normativen Prämissen, gerechtfertigt mit guten Argumenten, warum das so sein soll. Für die Rechtsbruch-Erzählung ist dieser Befund dagegen der Ausgangspunkt: Dass die Gegenwart der Flüchtlinge auf deutschem Territorium das Recht bricht, ist die Prämisse. Das muss von vorneherein so sein, damit die Erzählung funktioniert und dem Unheimlichen Sinn verleiht. Der Verurteilte ist schon verurteilt, bevor der Prozess beginnt. Die Sprache, Methoden und Verfahren des Rechts finden zwar Verwendung, aber vielfach in rein ritueller Funktion, als handle es sich um Monstranzen, Litaneien und Bekreuzigungsgesten, die den Rechtgläubigen dazu dienen, die Ihren zu erkennen und von den Spöttern, Ketzern und Pharisäern zu scheiden (und von den Neonazis). Und bei aller Observanz des Rituals wird peinlich darauf geachtet, dass es nie so weit kommt, tatsächlich zu tun, was Recht tut, nämlich fallbezogen und verfahrensmäßig Recht und Unrecht voneinander zu scheiden. Ihre Rechtsgutachten sind dann doch nur als abstrakte Was-wäre-wenn-Szenarien gemeint. Ihre Klagen werden dann doch lieber nicht eingereicht. Oder wenn doch, sind sie unzulässig, sodass es zu einer Verhandlung gar nicht erst kommt und auch zu keinem Urteil über ihre Begründetheit. So waschen sich die Gläubigen der Erzählung vom Rechtsbruch jeden Tag aufs Neue ihren Juristenpelz und werden doch niemals nass.
Den Schaden davon hat das Recht. Das Recht, wie alle Funktionssysteme der modernen Gesellschaft, unterscheidet. Es arrangiert das Gegenüber von drinnen und draußen ganz nüchtern und funktionell als Dies und nicht Das: Dies ist rechtens, und zwar im Unterschied zu Dem. Die Unterscheidung von Recht und Unrecht eignet sich einerseits hervorragend zum Ausschließen und Draußenhalten, sorgt aber andererseits auch auf charakteristische Weise für eine Öffnung: Entschieden wird am Ausgang eines Verfahrens. Es wird eine Weile formell im Ungewissen gehalten, auf welcher Seite der Unterscheidung ein bestimmter Fall am Ende zu liegen kommt.2 Das Recht arbeitet somit auf ganz andere Weise mit der Zeit als die Erzählung – nicht als im Präteritum erzähltes »So kam das«, sondern als ins Futur prozessierendes »Das werden wir sehen«: Ob Recht oder Unrecht, darüber wird erst im Ausgang eines rechtsförmigen Verfahrens entschieden, und solange dieses nicht beendet ist, steht noch nichts fest. So hält das Recht eine Zeitspanne der Ungewissheit offen, während derer sich möglichst alle Betroffenen äußern können und sollen. Die Betroffenen werden zu Beteiligten: Dadurch wird nicht nur wahrscheinlicher, dass man nichts Entscheidendes übersieht, sondern auch und vor allem kann man von den Beteiligten erwarten, das Verfahren als legitim zu akzeptieren, auch wenn es für sie negativ ausgeht. Der verlorene Prozess ist auch Recht. Das Recht kann einen ins Unrecht setzen, ohne sich selbst damit durchzustreichen. Auch wenn es nicht befolgt wird, bleibt erwartbar, dass es befolgt wird. Die Rechtsverletzung, so sie eine war, bleibt damit prozessierbar und wird nicht gleich zur Krise des Rechts, geschweige denn zur Herrschaft des Unrechts.
Das ist der Unterschied zwischen einer Geflüchteten, die ohne Verfahren zurückgewiesen und dorthin zurückgeschickt wird, woher sie kommt, und einer, die ein Verfahren bekommt (und sei es auch nur zur Feststellung, wer für ihr Verfahren zuständig ist): Von letzterer kann man etwas erwarten. Sie wird angehört. Sie kann ihren Fall und ihre Beweismittel und ihre Argumente vortragen und Gründe verlangen dafür, wie über sie entschieden wird. Sie kann ihre Menschenrechte geltend machen, die kein Verfahren, das als legitim akzeptiert werden will, aufs Spiel setzen darf. Sie wird zur Beteiligten. Sie wird ein Stück weit zugehörig. Sie ist nicht mehr ganz draußen, sie wird zum Rechtssubjekt, sie hat Anteil. Entsprechend wird erwartbar, dass sie sich dafür in die Pflicht nehmen lässt – wenn schon nicht faktisch, so doch normativ. So löst das Recht die Paradoxie demokratischer Herrschaft über die Nichtzugehörige immer weiter auf, indem es sie Verfahren für Verfahren und Recht für Recht zu einer immer Zugehörigeren macht3 und dafür erwartbarer macht, dass sie sich rechtstreu verhält. Die Herrschaft über Nicht-mehr-nicht-Zugehörige ist die Herrschaft des Rechts.
Hier steckt der wahre Kern der Behauptung, dass in der »Flüchtlingskrise« 2015/16 das Unrecht geherrscht habe: Ein Staat nach dem anderen hatte unter dem Druck der Krise aufgehört, den Flüchtlingen ein Verfahren, Rechte und Zugehörigkeit zu geben und sie stattdessen in schlammverkrusteten Zeltlagern sich selbst überlassen bzw. busweise nach Westen weitergewunken, wo auf Verfahren, Rechte und Zugehörigkeit noch zu hoffen war. Wie Dominosteine war die Herrschaft des Rechts in einem Staat nach dem anderen entlang der Balkanroute umgefallen. Der vorläufig letzte Stein in der Reihe, Deutschland, wankte und schwankte ebenfalls, blieb aber am Ende doch stehen und stoppte diesen Kollaps der Herrschaft des Rechts (wofür sich Deutschland freilich nicht allzu sehr auf die eigene Schulter klopfen sollte nach allem, was es zuvor zur Instabilität und Unausgewogenheit der Verantwortungsverteilung in Europa und somit zu den Ursachen des Kollapses beigetragen hatte).
Wem um das Recht und seine Herrschaft zu tun ist, der sollte daher weniger Geschichten erzählen und stattdessen mehr Mühe investieren, über den Sinn, die Funktionsweise und den Gerechtigkeitsgehalt des Europarechts aufzuklären. Hier hat sich über die vergangenen dreieinhalb Jahre, von einer Handvoll unerschrockener Europa- und Migrationsrechtler abgesehen,4 kaum jemand mit Ruhm bekleckert. Die Bundesregierung hatte viel zu lange geglaubt, das Problem vernebeln und sich alle Optionen offenhalten zu können, anstatt öffentlich aufzuklären darüber, auf welche rechtlichen Vorgaben sie ihr Tun und Unterlassen gründet. Die Rechtswissenschaft war zu sehr in ihre eigenen Binnenkonflikte und ihre Ambivalenzen gegenüber dem Europarecht verstrickt, um bei der Klärung der Rechtslage eine große Hilfe zu sein. Die Medien waren teils viel zu fasziniert von der Kraft der Erzählung von der angeblichen Herrschaft des Unrechts, teils zu rechercheschwach und desinteressiert an den Komplexitäten des Europarechts, um sich dieser Erzählung entziehen, geschweige denn ihr effektiv entgegentreten zu können.
Dieses Desinteresse an juristischer Aufklärung ist nicht erst seit 2015/16 zu beobachten. Im Bundestag gibt es kaum noch profilierte Rechts- und Verfassungspolitikerinnen und -politiker, die der Regierung mit eigener juristischer Expertise Kontra zu geben verstünden. In der Wissenschaft vom öffentlichen Recht wird die Forschung zu klassischen Verfassungsfragen wie Wahl-, Parlaments- und Parteienrecht immer mehr von ökonomisch nachgefragten Boomfächern wie Medien- und Energierecht an den Rand gedrängt. Auch das Asyl- und Migrationsrecht galt bis vor kurzem als ein eher abgelegenes juristisches Betätigungsfeld, auf dem hauptsächlich Menschenrechtsanwälte und -aktivistinnen ihr karges Brot verdienten. In den Medien gibt es immer weniger Redakteurinnen und Korrespondenten mit eigener juristischer Fachkenntnis, die den von ihnen interviewten Autoritäten kritisch auf den Zahn fühlen können.
2019 feiert das Grundgesetz seinen 70. Jahrestag. Zu diesem Anlass liegt an allen Kiosken der Republik ein Hochglanzmagazin aus, in dem in schickem Layout und bunten Farben der komplette Text der Verfassung von Artikel 1 bis 146 abgedruckt ist. Das ist eine schöne Sache und sieht sehr hübsch aus, und wer es kauft, kann sich mitsamt dem Heft das angenehme Gefühl in die Tasche stecken, eine gute Verfassungspatriotin zu sein. Doch gemessen daran, was in der heutigen Zeit verfassungspolitisch auf dem Spiel steht, wirken solche frommen Gesten der Textverehrung eigentümlich regressiv. Als ob die Verfassung ein heiliger Text wäre, ewig und unveränderlich und von höherer Stelle herabgereicht. Und nicht ein Stück Recht, für das wir alle Verantwortung tragen, die wir dem deutschen Recht unterworfen sind, mit und ohne deutschen Pass, mit und ohne deutsche Ahnen, mit und ohne »deutsche Kultur«. Ein Stück Recht, das wir alle jeden Tag gestalten und entwickeln und bestätigen und mit Leben füllen in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten.5 Ein Stück Recht, das durch und durch von Europarecht durchwirkt ist und sich ohne Kenntnis des europäischen Rechtskontexts gar nicht mehr sinnvoll lesen und verstehen lässt (auch wenn das manche Juraprofessoren immer noch nicht wahrhaben wollen).
Die Verfassungsordnung, der wir unseren Frieden und unseren Wohlstand verdanken, verlangt nach einer kompetenten und kritischen juristischen Öffentlichkeit, die sich von niemandem etwas auf die Nase binden lässt. Wie wenig diese entwickelt ist, wurde in den vergangenen dreieinhalb Jahren schmerzhaft offenbar. Insoweit tragen wir alle Verantwortung dafür, dass sich die Rechtsbruch-Erzählung so sehr verbreiten und verfestigen konnte: So wie wir es uns bis zur Krise 2015/16 jahrelang als vermeintlich vor Flüchtlingsmigration sicheres Binnenland in der Mitte Europas bequem gemacht hatten, haben wir seither die juristische Auseinandersetzung um ihre Bewältigung in viel zu großem Ausmaß den Geschichtenerzählern überlassen. Beides kam uns teuer zu stehen.