Anhang
Consensus Proposed Criteria for Developmental Trauma Disorder
Ziel der Einführung der Diagnose »Entwicklungsbezogene Traumafolgestörung« (Developmental Trauma Disorder) ist, die Realität der klinischen Erscheinungsbilder von Kindern und Jugendlichen, die einer chronischen interpersonalen Traumatisierung ausgesetzt waren, zu erfassen und Klinikern dadurch zu helfen, wirksame Interventionen zu entwickeln und zu nutzen, und Forschern Anhaltspunkte für die Erforschung der Neurobiologie und der Übermittlung chronischer interpersonaler Gewalt zu geben. Ungeachtet dessen, ob sich PTBS -Symptome zeigen oder nicht, sind Kinder, die in einer Situation chronischer Gefährdung und Misshandlung sowie in unzulänglichen Betreuungssystemen aufgewachsen sind, mit dem heutigen Diagnosesystem aus verschiedenen Gründen schlecht bedient. Oft kommt es entweder zu gar keiner Diagnose oder aber zu mehreren nicht aufeinander bezogenen Diagnosen. Dies führt zu einer Ausrichtung der Behandlung auf die Verhaltenskontrolle, ohne dass ein interpersonales Trauma oder unzureichende Sicherheit als Ätiologie der Symptome anerkannt wird. Die Folge ist, dass Möglichkeiten, die den Symptomen zugrunde liegende Entwicklungsstörung zu behandeln, zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Der Vorschlag für Kriterien einer entwicklungsbezogenen Traumafolgestörung (Consensus Proposed Criteria for Developmental Trauma Disorder) wurde im Februar 2009 von einer von Bessel A. van der Kolk, MD , und Robert S. Pynoos, MD , geleiteten und mit dem National Child Traumatic Stress Network (NCTSN ) verbundenen Task Force entwickelt und vorgelegt, der außerdem Dante Cicchetti, PhD, Marylene Cloitre, PhD, Wendy D’Andrea, PhD, Julian D. Ford, PhD, Alicia F. Lieberman, PhD, Frank W. Putnam, MD , Glenn Saxe, MD , Joseph Spinazzola, PhD, Bradley C. Stolbach, PhD, und Martin Teicher, MD , PhD, angehörten. Die für die Diagnose einer entwicklungsbezogenen Traumafolgestörung empfohlenen Kriterien basieren auf einer umfassenden Auswertung der empirischen Literatur sowie auf den klinischen Erkenntnissen von Experten, auf wissenschaftlichen Studien der dem NCTSN angehörenden Kliniker und auf der vorläufigen Analyse der Daten von Tausenden von Kindern in zahlreichen Betreuungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche, darunter Behandlungszentren des NCTSN , psychiatrische Institutionen und Jugendstrafanstalten. Weil Validität, Prävalenz, Symptomschwellen oder klinischer Nutzen noch mithilfe einer prospektiven Datensammlung oder Datenanalyse untersucht werden müssen, sind die hier vorgestellten Kriterien nicht als formelle diagnostische Kategorie zu verstehen, die in der hier vorgelegten Beschreibung in das DSM übernommen werden sollte. Es geht vielmehr um die Beschreibung der klinisch signifikantesten Symptome, so wie sie bei vielen Kindern und Jugendlichen nach dem Erleben eines komplexen Traumas beobachtet wurden. An den vorgeschlagenen Kriterien orientieren sich die seit 2009 bis heute stattfindenden Felduntersuchungen zur entwicklungsbezogenen Traumafolgestörung.
Consensus Proposed Criteria for Developmental Trauma Disorder*
A. Exposition. Das Kind oder der Jugendliche hat mehrfach oder über längere Zeit selbst oder als Zeuge schädliche Ereignisse erlebt, und zwar mindestens über ein Jahr, beginnend in der Kindheit oder zu Anfang der Adoleszenz. Dazu können zählen:
A.1. das direkte eigene Erleben oder Miterleben (als Zeuge) wiederholter und schwerwiegender Episoden interpersonaler Gewalt und
A.2. signifikante Beeinträchtigungen beschützender Betreuung infolge wiederholter Wechsel der primären Betreuer, wiederholte Trennung vom primären Betreuer oder Erleben schwerwiegender und anhaltender emotionaler Misshandlung.
* B. A. van der Kolk, »Developmental Trauma Disorder: Toward A Rational Diagnosis For Children With Complex Trauma Histories«, Psychiatric Annals, 35, no. 5 (2005): 401–408.
B. Affektive und physiologische Dysregulation. Beim Kind sind Beeinträchtigungen wichtiger grundlegender Kompetenzen zu erkennen, beispielsweise hinsichtlich der Erregungssteuerung. Dabei müssen mindestens zwei der folgenden Bedingungen erfüllt sein:
B.1. Unfähigkeit, extreme affektive Zustände (z. B. Furcht, Wut, Scham) zu modulieren, zu tolerieren und aufzulösen, einschließlich langwieriger und extremer Wutanfälle oder Erstarrungszustände.
B.2. Störungen der Fähigkeit, Körperfunktionen zu regulieren (z. B. anhaltende Störungen des Schlafs, der Nahrungsaufnahme und der Ausscheidung); übermäßig starke und ungewöhnlich schwache Reaktion auf Berührungen und Geräusche; Desorganisation bei regelmäßig vorkommenden Situationswechseln.
B.3. Verringertes Gewahrsein oder Dissoziation von Empfindungen, Emotionen und Körperzuständen.
B.4. Beeinträchtigung der Fähigkeit, Emotionen oder Körperzustände zu beschreiben.
C. Aufmerksamkeits- und Verhaltensdysregulation. Beim Kind ist eine Beeinträchtigung der normalen Entwicklung bestimmter Grundkompetenzen zu erkennen, die längere Aufmerksamkeit, die Lernfähigkeit sowie die Fähigkeit der Stressbewältigung betreffen, wobei mindestens drei der folgenden Kriterien erfüllt sein müssen:
C.1. Ständige Beschäftigung mit Bedrohungen oder Beeinträchtigung der Fähigkeit, Gefahren zu erkennen, was die Unfähigkeit, Anzeichen für Sicherheit und Gefahr richtig zu deuten, einschließt.
C.2. Beeinträchtigung der Fähigkeit, sich selbst zu schützen, was die Neigung, sich in gefährliche Situationen zu begeben, einschließt.
C.3. Dysfunktionale Versuche der Selbstberuhigung (z. B. Schaukelbewegungen oder andere rhythmische Bewegungen, zwanghaftes Masturbieren).
C.4. Gewohnheitsmäßige (absichtliche oder automatische) Selbstschädigung.
C.5. Unfähigkeit, zielgerichtetes Verhalten zu initiieren oder aufrechtzuerhalten.
D. Dysregulation bezüglich der eigenen Person oder in Beziehungen. Beim Kind ist eine Störung der normalen Entwicklung bestimmter Grundkompetenzen zu erkennen, welche die persönliche Identität und das Sicheinlassen auf Beziehungen betreffen, wobei mindestens drei der folgenden Faktoren gegeben sein müssen:
D.1. Starke Fixierung auf die Sicherheit der primären Bezugsperson oder anderer geliebter Menschen (einschließlich frühreifer Fürsorge) oder Schwierigkeiten, nach einer Trennung das Wiederzusammensein mit ihnen zu ertragen.
D.2. Anhaltende negative Selbstsicht, einschließlich Selbstekel, Hilflosigkeit, Wertlosigkeit, Ineffektivität oder Unzulänglichkeit.
D.3. Extremes und anhaltendes Misstrauen, Trotz oder Mangel an Gegenseitigkeit (reziprokem Verhalten) in engen Beziehungen zu Erwachsenen oder Gleichaltrigen.
D.4. Aggressive körperliche oder verbale Reaktionen gegenüber Gleichaltrigen, Bezugspersonen oder anderen Erwachsenen.
D.5. Inadäquate (exzessive oder promiskuitive) Versuche, intime Kontakte herzustellen (was sexuelle oder körperliche Intimität einschließen kann, aber nicht muss), oder exzessives Zufluchtnehmen bei Gleichaltrigen oder Erwachsenen mit dem Ziel, von ihnen geschützt und bestätigt zu werden.
D.6. Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Regulierung mitfühlenden Arousals, als Ausdruck eines Mangels an Empathie oder einer Form von Intoleranz oder übertrieben starker Reaktionen gegenüber dem Ausdruck von Leiden anderer.
E. Symptome des posttraumatischen Spektrums. Das Kind lässt mindestens ein Symptom in mindestens zwei der drei PTBS -Symptom-Cluster B, C & D erkennen.
F. Dauer der Störung (Symptome siehe »die entwicklungsbezogene Traumafolgestörung« [ETS ], Kriterien B, C, D und E). Mindestens 6 Monate.
G. Funktionelle Beeinträchtigung. Die Störung verursacht klinisch signifikantes Leiden oder entsprechende Beeinträchtigungen in mindestens zwei der folgenden Funktionsbereiche:
Schule
Familie
Peergroup
Gesetz und Recht
Gesundheit
Beruf (für den betroffenen Jugendlichen, der eine Arbeit sucht oder angeboten bekommt oder der Freiwilligenarbeit macht oder eine Berufsausbildung absolviert).