Prolog – Clara

1988

Der Wagen krachte mit einem so fürchterlichen Knall aufs Wasser, dass ich richtig überrascht war, als ich die Augen wieder aufmachte und wir trotzdem noch am Leben waren. Ich bin noch nie geflogen, aber ich denke, so fühlt sich ein Flugzeugabsturz an. Ein paar Sekunden danach war es auf einmal ganz still, ich hab gedacht, alles ist noch mal gut gegangen, wir treiben mit dem Auto im Wasser wie in einem Boot, bis uns jemand rettet. Aber dann ist das Wasser zu den Lüftungsöffnungen und überall reingeschossen, und mir wurde klar, dass niemand uns retten konnte.

Oh, Entschuldigung, ich sollte wohl besser von vorn anfangen … Also, es war ein Mittwoch, unser Heimatkundelehrer war krank, darum hatten wir früher schulfrei als sonst. Ich hätte zu Papa nach Hause gehen können, ich wohne bei ihm. Aber Magne, mein Stiefvater, hatte gesagt, wir könnten mal zusammen Mama im Krankenhaus besuchen, wenn ich wollte. Sie war wegen irgendwelchen Frauensachen operiert worden. Jetzt passt es gut, wegen der ausgefallenen Schulstunde, dachte ich. Also bin ich zu dem Hof hochgegangen, wo Magne und Mama wohnten. Er schien sich zu freuen, als er mich sah. Wir setzten uns ins Auto, fuhren den steilen Kiesweg vom Hof runter zur Hauptstraße und bogen in Richtung Krankenhaus ab. Als wir auf die weite Kurve zufuhren, blendete uns die sehr helle Sonne.

Ja, und dann ging alles so schnell, ich erinnere mich nicht genau.

In der einen Sekunde fuhren wir in die Kurve rein, in der nächsten sind wir auf meiner Seite aus der Kurve rausgeflogen. Wir waren wohl zu schnell. Ich konnte eigentlich nur noch schreien, dann sind wir auf dem Wasser aufgeschlagen. Magne hat meinen Sicherheitsgurt aufgemacht und gerufen, ich soll das Fenster runterlassen und da aussteigen. Natürlich habe ich gedacht, er tut dasselbe, aber dann habe ich mich umgedreht und gesehen, dass er immer noch auf dem Fahrersitz saß, steif und schlank, ich begriff nicht, ­warum. Ich versuchte, meine Tür von außen zu öffnen, aber es ging nicht, sie war wie abgeschlossen. Dann wollte ich um das Auto rumschwimmen, es hat eine Weile gedauert. Der Wagen ist immer schneller gesunken, ich rüttelte an der Fahrertür, aber auch sie saß felsenfest. Ich schlug ans Fenster, versuchte, zu Magne Kontakt aufzunehmen, aber er hat einfach nur dagesessen. Dann musste ich zur Oberfläche schwimmen.

Das Wasser war viel kälter, als ich gedacht hätte, meine Glieder wurden steif, und ich habe es mit letzter Kraft ans Ufer geschafft. Dann habe ich zitternd und weinend auf einem Stein gesessen. Ich glaube ja eigentlich nicht an Gott, ganz sicher kann man aber auch nicht sein, nicht wahr, also habe ich ein bisschen gebetet. Aber Magne ist nicht aufgetaucht, und irgendwann wurde mir klar, dass er das nie mehr tun würde, dass ich ihn nie mehr wiedersehen
würde.

Entschuldigung, ich will eigentlich nicht weinen, aber es ist so ein schrecklicher Gedanke, dass er mir geholfen hat und ich ihn einfach untergehen ließ. Mama tut mir so leid, und Magne auch.

»Danke, Clara«, sagt der Polizist und nickt zu der Solo-Limonade und der Puddingschnecke auf dem Tisch hin, ich soll mich bedienen, aber mir wird schon beim Anblick des gelben Puddings übel.

Der Polizist scheint ganz in Ordnung zu sein, ich frage mich trotzdem, ob er einer von denen ist, die nicht verstehen, nicht verstehen wollen.

Durch das Fenster sehe ich Leute parken, die zu der Arztpraxis neben dem Gemeindehaus wollen, in dem wir sitzen.

Auf der anderen Straßenseite sehe ich den Laden. Die Schule. Und das Altersheim. Ringsherum liegen die Berge, behüten uns. Oder sperren uns ein.

Dahinter liegt der Fjord.