1 – Haavard

Was auch passiert, lass dich nicht scheiden.

Diesen Rat hatte mir ein geschiedener Freund am Abend davor gegeben, beim Bier, im Hintergrund lief die Premier League. Eine Scheidung ist so scheißteuer, sagte er. Du wirst ausgeplündert. Mal dir ein finanzielles Worst-Case-Szenario aus und multipliziere es mit zwei. Nein, mit drei! So teuer ist eine Scheidung.

Okay, ich halte aus, ich stehe es durch.

Die Terrassentür fällt laut zu, das ist Claras passiv-aggressive Art, mich zu wecken. Durch die wehenden weißen Gardinen zeichnet sich ihre hochgewachsene, schmale Gestalt auf der Terrasse vor dem Schlafzimmer ab.

Clara ist ein Gewohnheitstier. Sie steht morgens gern ein paar Minuten so da, in derselben Titanic-Positur, wie auf der Fähre, wenn wir nach Westnorwegen fahren.

Die letzten Tage über hat eine fast brutal drückende, flirrende Hitze in der Luft gelegen, ganz ungewohnt nach dem langen, strengen Winter und dem mehr oder weniger ausgefallenen Frühling. In der Schule der Jungs, auf der Straße, in den Geschäften, überall reden die Leute darüber, dass eben noch Winter war, dass es keinen Frühling gegeben hat, und jetzt diese plötzliche afrikanische Hitze.

Ich selbst genieße sie. Wenn Clara endlich ihren Gesetzesvorschlag durchbringt, können wir vielleicht einen Ausflug nach Kilsund machen. Meine Eltern werden nicht jünger, und wir müssen die Hütte für die Saison klarmachen.

»Du musst aufstehen«, sagt Clara, als sie wieder reinkommt. »Sonst schafft ihr es nicht rechtzeitig zur Schule.«

Wir sind diese Woche an der Reihe, eine Gruppe von Schülern zu begleiten, und ich habe versprochen, das heute zu übernehmen.

Mir ist etwas übel, ich habe eine Fahne. Das waren gestern ein paar Bier zu viel, oder ich vertrage weniger als früher.

Die Augen lasse ich zu, tue so, als würde ich noch schlafen. Es hat Clara immer irritiert, dass ich kein Morgenmensch bin wie sie. Aber das bedeutet nicht, dass ich es nicht aus dem Bett schaffe, um die Kinder zur Schule zu begleiten, denn das mache meistens ich.

»Haavard?« Sie stupst mir mit dem Knie ans Bein. Es tut weh.

»He, was soll das?«, frage ich verärgert. »Tust du mir mit Absicht weh?«

Sie seufzt.

»Ich habe um acht eine wichtige Besprechung und muss gleich aus dem Haus.«

»Und ich habe bis morgen früh durchgehend Dienst«, murmele ich.

»Du bist nicht der Einzige, der Leben retten muss«, sagt sie.

Ich schwinge die Beine aus dem Bett, setze mich auf die Bettkante und gähne.

»Haben die Kinder gefrühstückt?«

»Sind gerade dabei.«

Jetzt steuert sie das Bad an, das sie als ihr privates Reich ansieht, um dort ihr Ministeriumsgesicht aufzusetzen. Mich packt der Übermut, ich springe auf und spurte an ihr vorbei. Ohne die Tür zu schließen, mache ich den Klodeckel auf und pinkele im Stehen, dass es nur so spritzt.

Sie steht draußen, kein Wort.

Warum muss sie ums Verrecken noch hier stehen und rummaulen, dass sie keine Zeit hat und ich mich beeilen soll, wo sie längst hätte fahren können? Was kontrolliert sie mich und treibt mich an, als wäre ich nicht daran gewöhnt, mit den Kindern allein zu sein, sie ist doch kaum zu Hause?

Seit sie an dem Gesetzesvorschlag arbeitet, ruft sie an, um Bescheid zu sagen, dass sie zum Abendessen nach Hause kommt, nicht wie sonst, wenn sie es nicht schafft.

Pfeifend spaziere ich aus dem Badezimmer.

Ohne einen Blick geht sie rein, schließt die Tür ab.

Ich ziehe mich an und gehe runter.

Die Jungs sitzen am Esstisch. Ihr Anblick in den Pyjamas lässt mich innerlich immer ganz weich werden. Die schmalen Hälse, Nikolais vom Schlaf verstrubbeltes Haar, die Locken in Andreas’ Nacken.

Doch dann sehe ich, dass sie Schokopops essen. Noch dazu jeder mit seinem iPad vor der Nase.

Ich deute auf das Paket mit den Schokopops. »Die sind nur am Wochenende erlaubt! Das wisst ihr genau. In dem Zeug sind nicht mehr Nährstoffe als in der Verpackung.«

»Mama hat gesagt, wir dürfen«, rufen sie im Duett.

Im Schrank finde ich eine Packung Paracetamol und schlucke eine mit Milch, die ich direkt aus dem Karton trinke.

»Und was sagt eure Oma übers iPad?«

Noch mal im Duett: »Unfug!«

»Nein. Sie sagt, ihr kriegt noch viereckige Augen.«

Die Jungs schlürfen die Schokokissen und die Milch auf, die jetzt hellbraun geworden ist, während sie sich wegen irgendeines Fortnite-Spiels zanken, das sie in ihrem Alter noch gar nicht haben dürften.

Jetzt kommt auch Clara runter.

»Schokopops?« Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Im Ernst?«

»Sie haben sich geweigert, was anderes zu essen. Du warst ja nicht hier, irgendwas müssen sie ja frühstücken.«

»Herrgott noch mal«, murmele ich.

Plötzlich springen die Jungs auf und laufen zur Gartentür hinaus.

»He!«, rufe ich. »Wo wollt ihr hin? Kommt zurück! Sofort!«

Kurz darauf sind sie wieder da, jeder hat zwei Äste Flieder in der Hand. Eigentlich will ich schimpfen, weil sie ohne Erlaubnis aufgestanden sind, und wegen der abgerissenen Zweige, aber ich verkneife es mir, sie sind so süß und stolz.

»Einer für Mama und einer für Papa«, sagt Nikolai. Andreas lächelt sein zeitloses Lächeln. »Bitte nicht mehr streiten.«

»Nein«, sage ich. »Und vielen Dank, das ist lieb von euch.«

Ich suche eins meiner Skalpelle von der Arbeit im Durcheinander der Schublade, um die Zweige anzuschneiden. Beim zweiten rutscht das Messerchen aus irgendeinem Grund ab, mir direkt in die Kuppe des Mittelfingers.

»Verdammte Scheiße!«, rufe ich.

»Die Skalpelle sollten auch wirklich nicht überall rumfliegen, das habe ich dir schon x-mal gesagt«, sagt Clara.

»Danke«, fauche ich. Es blutet stark.

»Was ist passiert, Papa?«, fragt Nikolai.

»Zum Teufel noch mal«, sage ich, dann reiße ich mich zusammen. »Ich habe mir in den Finger geschnitten.«

»Tut es weh?«

»Ein bisschen. Zum Glück bin ich Arzt, da kann ich es selbst nähen«, sage ich, es soll aufmunternd klingen. Nicht sehr überzeugend.

»Es kann doch nicht so schwer sein, ein bisschen aufzupassen?«, sagt Clara, ach so empathisch. Jedes Mal, wenn die Kinder oder ich uns wehtun, reagiert sie genervt. Sie scheint es als ein Zeichen der Schwäche anzusehen.

Ich untersuche den Finger, reiße ein Blatt Küchenpapier ab und wickele es darum, versuche, wieder der coole Papa zu sein.

»Fluchen ist aber verboten, Papa«, sagt Andreas.

»Tut es sehr weh?«, fragt Nikolai.

»Tschüss dann.« Mit raschen Schritten geht Clara durch Küche und Flur. Erst als die Haustür ins Schloss fällt, lockere ich die Schultern und lächele die Kinder richtig an.

So geht es also bei uns zu. So weit ist es gekommen.