3 – Haavard

Kaum habe ich den weissen Kittel angezogen und die Abteilung betreten, wird mir klar, dieser Dienst wird ein Marathon. Bei dem schönen Wetter war die ganze Stadt auf den Beinen. Und uns wird jetzt das Fallobst geliefert, in Form von Verletzungen und Krankheiten. Die Patienten kommen Schlag auf Schlag. 15 Uhr 35: ein kleines Mädchen im diabetischen Koma. 16 Uhr 21: ein asthmakranker Junge mit allergischem Schock. 16 Uhr 53: ein Geschwisterpaar nach einer Massenkarambolage. 17 Uhr 20: ein lebensgefährlich dehydrierter Sechsjähriger.

Und dann, um 18 Uhr 53, kommt eine ganze Familie.

Der Mann, Mitte dreißig, trägt einen ungefähr vierjährigen Jungen in den Armen. Wahrscheinlich in Norwegen lebende Pakistaner, vielleicht auch Afghanen. Der Junge hat eine blaue kurze Hose und ein rotes T-Shirt an. Am rechten Zeigefinger ein Star-Wars-Pflaster. Dreck unter den Fingernägeln. Ein Armband aus kleinen Kugeln mit Buchstaben darauf. Der kleine Kopf, blauschwarzes Haar.

Leblos hängt er in den Armen seines Vaters.

»Muss mit Arzt sprechen!«, ruft der Vater. Er trägt ein blaues Chelsea-Sweatshirt und ein Basecap. Sein Gesicht ist voller Aknenarben.

Direkt hinter ihm kommt Roger angerannt, und mit ihm eine Wolke von Aftershave. Ein süßlicher Duft, aus der Mode gekommen, vielleicht aus einer dieser Flaschen, die wie ein männlicher Torso oder eine Matrosenuniform oder so aussehen.

Natürlich habe ich weder gegen Schwule noch gegen Krankenpfleger etwas. Und Roger ist fachlich ganz ausgezeichnet, einsatzfreudig, erfahren, warmherzig und fürsorglich. Einer mit vielen Qualitäten. Nur übertreibt er es leider immer mit dem Duft.

»Ich habe versucht, ihm klarzumachen, dass ich ihn aufnehme«, sagt er jetzt. »Eigentlich müssten sie in die Notaufnahme. Aber er ist mit dem Jungen sofort weitergelaufen. Und jetzt schicken wir sie doch nicht wieder weg, oder?«

»Nein, natürlich nicht.«

Hier im Krankenhaus Ullevål haben wir die besten Notfallteams, andere Krankenhäuser schicken uns ihre schwersten Fälle, meist mit dem Krankenwagen zur zentralen Aufnahme. Aber manchmal bringt jemand sein Kind selbst. Wer weiß, wo die Kinderstation ist, kommt direkt hierher.

So diplomatisch wie möglich sage ich zu dem Vater: »Ich bin der diensthabende Arzt. Was ist deinem Jungen passiert?«

»Bist du blind, Arzt?« Der Vater baut sich dicht vor mir auf, in den Augen Angst und Wut zugleich. Erinnert mich an die Stadtstreicher, die in dem Viertel, wo ich aufgewachsen bin, auf den Schulhof kamen.

»Siehst du nicht, er ist ohnmächtig, Arzt! Er wacht nicht auf!«

Die Mutter trägt einen Hijab, Jogginghosen schauen unter dem Salwar Kamiz hervor. Sie fuchtelt beim Reden mit den Händen. Der Mann sagt etwas in einer mir unverständlichen Sprache, sie verstummt.

Der Junge ist so klein und dünn, schmale Hüften und ein Hals wie ein Vögelchen, dieselben blauen und orangen Sneaker wie Andreas sie hat, nur dass diese schmutzig und abgetragen sind, mit einem Loch am großen Zeh.

»Wie alt ist er?«, frage ich, nehme dem Mann den Jungen aus den Armen und lege ihn auf den Untersuchungstisch.

Vier Finger. Die Mutter schaut mich flehend an, ringt die Hände, ihre Knöchel sind weiß.

»Was ist passiert?«

»Er ist gefallen. Von Baum. Und eingeschlafen. Jetzt will er nicht mehr aufwachen! Tu was, Arzt!«

Ich gebe Roger ein Zeichen, dass er Kollegen hinzurufen soll. »Er braucht ein CT«, sage ich halblaut.

Die Mutter fängt an zu weinen, der Mann herrscht sie an. Ich stehe kurz still. Muss mich besinnen, ein paar Sekunden lang. Der Junge ist bewusstlos. Draußen vor dem Fenster singen die Vögel. Ich wäre auch gern im Freien.

Denn ich spüre dieses besondere kribbelnde Gefühl, so wie wenn du erkennst, dass das Kopfweh an einem Hirntumor liegt, dass der Ausschlag durch Leukämie ausgelöst wird, dass du bald jemandem eine Nachricht überbringen musst, die er lieber nicht hören würde.

Das Gefühl umgibt mich wie kalte Luft.

Ich beuge mich über den Jungen. Er riecht säuerlich nach Erbrochenem. Aber auch nach Staub und Sonne und etwas anderem, Kaugummi, Zahncreme, Shampoo und einem schwachen Duft von Ingwer, Knoblauch und Curry.

»Gehen Sie ein bisschen spazieren«, sage ich zu den Eltern. »Ich kümmere mich um Ihren Sohn.«

Sie wirken skeptisch, verlassen aber den Behandlungsraum. Kurz darauf kommt Sabiya herein.

»Was ist los?« Sie ist außer Atem.

Sabiya ist kaum größer als 1,55, und wegen ihres leichten, lautlosen Gangs sieht es aus, als würde sie durch die Flure schweben. Ihr schulterlanges Haar glänzt immer, sie hält es mit einer Spange zusammen. Weder Schmuck an den Fingern noch Nagellack, ganz nach Vorschrift. Ihre Bewegungen sind effizient, aber graziös.

»Weiß nicht«, antworte ich. »Bestenfalls schwere Gehirnerschütterung. Vom Baum gefallen.«

Sie steht still da und mustert den Jungen mit einem seltsamen Gesichtsausdruck.

»Aha«, meint sie schließlich und fängt an, den Jungen auszuziehen, während sie Roger und Bente, eine Krankenschwester, herumkommandiert.

Hinter ihrem Rücken zwinkere ich Bente zu, die wie üblich rot wird.

Ausziehen und Nachprüfen ist eines von Sabiyas Steckenpferden. Vor ein paar Wochen hat sie in der Morgenrunde einen kurzen Vortrag gehalten, mitsamt einer Powerpoint-Präsentation, Fotos von Rücken mit den Spuren von Peitschenhieben oder Mündern voller Wunden, Röntgenbilder von gebrochenen Knochen. Wir bekommen das im Studium beigebracht. Aber wenn man im Krankenhaus anfängt, muss es immer so schnell gehen, da sind die Zeichen leicht zu übersehen. Da müssen wir besonders aufpassen, uns die wenigen Sekunden Zeit nehmen, auch dann nachzuschauen, wenn das Kind eigentlich wegen etwas anderem eingeliefert wurde. Alle nickten etwas schuldbewusst, als sie das sagte.

Jetzt bückt sie sich und rollt den Ärmel des roten Pullovers hoch.

»Verdammt«, sage ich, als ich die Flecken auf der Innenseite des Armes sehe. Kleidung ist trügerisch, mit ihr sieht alles ganz normal aus. Sabiya greift eine Schere, schneidet die Sachen des Jungen auf.

Überall Hämatome. Auf den Schultern, an den Beinen.

Ich hole tief Luft. »Verdammte Scheiße.«

»Ja, da gibt es keinen Zweifel«, sagt Sabiya, immer noch beeindruckend professionell. Gemeinsam mit Roger heben wir den Jungen in ein Bett, dann schieben wir es eilig durch die Flure zur Notaufnahme, wo das CT gemacht werden soll. In solchen Situationen möchte ich Roger nicht im Wege sein. Niemand von uns hat mehr Erste-Hilfe-Erfahrung als er, niemand hat mehr Verletzte und Kranke in Krankenwagen hinein- oder aus ihnen herausgehoben.

19 Uhr 40. Das CT ist fertig. Sabiya und ich warten auf die Bilder. Ein paar Kollegen kommen dazu, Kardiologen und Anästhesisten.

Da hören wir hinter uns schwere Schritte und gehetzte Atemzüge. Der Vater des Jungen stürmt herein.

»Zutritt verboten«, sage ich bestimmt und gehe ihm entgegen. Er steht unerschütterlich da.

»Was hast du gesagt, Arzt?«

»Sie müssen draußen warten.«

»Scheißrassist«, sagt er.

»Die Regeln gelten für alle«, sagt Roger barsch.

Widerwillig entfernt sich der Mann, läuft aber im Flur unruhig auf und ab wie ein zorniger Ochse.

Als ich mich wieder umdrehe, steht Sabiya da und blickt mich mit einem merkwürdigen Ausdruck an.

»Kennst du ihn?«, frage ich.

Sie nickt, sagt aber nichts weiter, und da kommen die Röntgenbilder. Es ist wohl das allererste Mal, dass ich Sabiya fluchen höre. Ich sehe ihr über die Schulter, sehe den großen Schatten auf dem Bild.

Wie ein unheilvoller Tintenfleck.

»Traumatische Hirnblutung. Er muss sofort operiert werden«, sage ich.

Sabiya nickt nur kurz, sie hat feuchte Augen und ist blass um die Nase.

Wir schieben das Bett mit dem Jungen zurück in unsere Abteilung. Der Vater bleibt uns dicht auf den Fersen.

Die Anästhesisten kontrollieren auf dem Monitor Blutdruck und Puls, Sauerstoffsättigung und Herzschlag. Die Kollegen bereiten Narkose und Intubation vor, schließen das Beatmungsgerät an.

Die Eltern kommen herein. Die Mutter weint, der Vater brüllt etwas wie, wir sollen gefälligst aufpassen, unseren Job tun. Jemand schiebt ihn wieder hinaus. Roger folgt ihm auf den Flur und versucht, ihn zu beruhigen.

Sabiya geht zu dem Jungen, streichelt ihm vorsichtig die Wange, auf der staubigen Haut sind Tränenspuren. Dann nimmt sie die kleine Hand mit dem Star-Wars-Pflaster und redet leise und ruhig auf Panjabi mit ihm. Der Junge ist so klein und blass, kann nichts erklären oder verstehen. Aber es muss einfach gut gehen, bald wird er die Augen wieder aufmachen, sich langsam erholen. In den nächsten Tagen werde ich regelmäßig nach ihm schauen, werde mir genug Zeit nehmen, um mit ihm zu reden und zu scherzen, ich werde sehen, wie er auflebt und fröhlicher, sicherer wird.

Noch während ich das denke, fallen Puls und Sauerstoffsättigung plötzlich schnell ab.

Verflucht, denke ich. Verflucht, verflucht, verflucht. Verzweiflung befällt mich. Wir dürfen ihn nicht verlieren.

Der Anästhesist legt sofort einen venösen Zugang am Arm des Jungen, um Adrenalin zu spritzen.

»Besorg Notfallblut«, sage ich zu Roger.

Wir legen dem Jungen schnell eine Infusion und geben ihm weitere Mittel, um den Blutdruck zu stabilisieren. Er wird zum OP gebracht. Wir eilen hinterher. Vor dem OP übernimmt der Anästhesist, wir müssen zurückbleiben.

Es ist 21 Uhr 10. Keiner sagt etwas. Sabiya wandert ruhelos auf und ab. Ich gehe zum Fenster. Draußen rumpelt die Straßenbahn vorbei. Autos warten an der roten Ampel. Während die Leute ringsum auf den Restaurantterrassen ihre Gläser auf den Sommer erheben, während die Welt sich weiterdreht wie üblich, wird der kleine Junge wieder aus dem OP geschoben.

Der Neurochirurg, einer unserer erfahrensten, schüttelt den Kopf.

»Die Blutung ist zu groß, nicht mit dem Leben vereinbar.«

Am liebsten würde ich mich auf den Boden setzen und weinen.

Vier Jahre lang hat er leben dürfen. Vier Jahre lang mit blauen Flecken.

Er wird zu seinem Zimmer zurückgeschoben.

»Wir müssen die Angehörigen informieren«, sage ich. »Und die Mutter versteht kein Norwegisch.«

Ich höre mir selbst zu und begreife, wie feige und pathetisch es von mir ist, Sabiya diese Aufgabe zuzuschieben.

Ohne ein Wort nimmt sie die Eltern beiseite.

Der Vater schlägt mit der Faust auf die Wand ein. Die Mutter sinkt zusammen. Sabiya streichelt ihr den Rücken. Wir anderen stehen ratlos da. Später muss ein weiteres CT gemacht werden, zur Bestätigung, dass die Blutversorgung des Gehirns unterbrochen ist und der Junge für tot erklärt werden kann. All das dauert seine Zeit, es wird wahrscheinlich nicht vor morgen passieren. Dann müssen wir die Eltern auch nach einer Organspende fragen. Wir versuchen, den Angehörigen Zeit für ihre Entscheidung zu lassen, allzu lange warten können wir aber auch nicht.

In unserer Gruppe herrscht eine andere Wärme als sonst. Wir stehen das hier gemeinsam durch. Es tut weh. Aber wir haben auch andere Patienten, kranke Kinder warten auf uns, um die wir uns nicht kümmern konnten, während wir dieses eine zu retten versuchten. Der Ausnahmezustand darf nicht zu lange dauern.

Da kommt der Vater gerannt. Bente möchte ihm die Hand auf die Schulter legen, er wischt sie weg.

»Es tut mir sehr leid«, sage ich.

»Wo ist der Gebetsraum?«

Ich sage nicht, was ich denke: Ein Vater, der seinen Sohn zu Tode prügelt, hat im Gebetsraum nichts verloren. Was er getan hat, ist unverzeihlich. Ich drehe mich nur halb weg.

»Bente«, murmele ich. »Zeigst du ihm, wo das ist?«

Während sein Rücken durch die Glastür verschwindet, lege ich beide Hände flach an die Wand, lasse den Kopf dazwischen sinken, atme tief durch.

Einmal, zweimal, dreimal.