5 – Haavard

»Ja bitte?« Claras Stimme klingt belegt, wahrscheinlich ist sie über ihrem Mac eingenickt, das passiert ihr öfter.

Es ist 21 Uhr 40. Die morgendliche Missstimmung dürfte jetzt verflogen sein, obwohl sie ein Elefantengedächtnis hat.

»Clara, könntest du mal nachschauen, ob die Jungs gut schlafen?«

»Wie meinst du das?«

Sie klingt nicht mehr sauer. Nur müde und etwas traurig.

»Nur kurz mal nachschauen. Ob alles in Ordnung ist …«

»Also wirklich, ich sitze hier nebenan im Wohnzimmer, seit ich sie ins Bett gebracht habe. Und sie haben deinen Schlaf, die würden nicht mal aufwachen, wenn über dem Haus ein Flugzeug die Schallmauer durchbricht. Was hast du denn?«

Ich schlucke.

»Ist was passiert?«

Ich stehe allein in einem dunklen Waschraum unserer Abteilung. Und jetzt bricht es aus mir heraus.

»Dieser verfluchte Mistkerl mit seinem Chelsea-Sweatshirt, voll auf Anabolika …«

»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.«

»Kommt mit seinem Vierjährigen hier reingerannt. Angeblich ist der Junge vom Baum gefallen. Wir untersuchen ihn, überall Hämatome, Abschürfungen und Brandwunden … Das CT zeigt eine massive Hirnblutung. Jetzt liegt er hier, hirntot, wir warten nur noch darauf, die Geräte abzustellen.«

»Oh mein Gott«, flüstert Clara ins Telefon.

»Und damit nicht genug, der Mann schlägt hier die ganze Zeit Krach. Als ob wir schuld wären! Eben gerade hat er Zugang zum Gebetsraum verlangt. Zum Beten! Schlägt seinen kleinen Sohn tot und will dann beten! Was ist das für eine Welt. Du hättest den Jungen mal sehen sollen, Clara, er hat mich so an unsere Jungs in dem Alter erinnert. Hatte sogar die gleichen Sneaker an wie Andreas.«

Ein paar Sekunden lang herrscht Stille, ich höre leise Geräusche, sie scheint sich zu bewegen. Dann flüstert sie, wahrscheinlich steht sie in der Tür des Kinderzimmers:

»Die Jungs schlafen.«

»Danke«, erwidere ich, ebenso flüsternd, und mir ist es sehr ernst damit.


Um zehn gehe ich ins Freie. Ich brauche unbedingt eine Pause, um den Rest des Nachtdienstes durchzuhalten. Wenn ich nachher wieder drin bin, darf ich nicht vergessen, die Polizei anzurufen. Das ist in diesem Fall Standard.

Im Foyer des Krankenhauses steht ein Seeräuberschiff mit schwarzer Totenkopfflagge, eigentlich ziemlich unpassend an diesem Ort.

Ich drehe draußen eine kleine Runde und will eben wieder reingehen, da sehe ich eine Gestalt im Gebüsch dicht am Gebäude, die sich vornübergebeugt erbricht.

»Sabiya«, sage ich. »Alles in Ordnung?«

»Nein.« Sie legt sich die Finger auf die Augen und zieht sie straff zur Seite, haut gegen die Wand, krümmt sich wieder und schlägt sich die Hand vor die Stirn, als wollte sie sich selbst bestrafen.

Sabiya ist von uns allen die Professionellste und besonders beherrscht, aber jetzt wirkt sie völlig außer sich.

»Ich verstehe …«, setze ich an.

»Nichts verstehst du.« Ein wilder Ausdruck tritt in ihre Augen. »Mukhtar Ahmad ist ganz in meiner Nähe aufgewachsen. Er ist zwei Jahre jünger als ich. Unsere Väter haben zusammen bei der Straßenbahn gearbeitet.«

»Wer?«

»Der Kindesmisshandler. Wir haben uns damals schon alle vor ihm gefürchtet. Ich habe mit seinem kleinen Bruder gespielt, als der so alt war wie sein Sohn jetzt. Du hast ja keine Ahnung, was …«

Ihr Gesicht verzieht sich zu einer Grimasse, und die Tränen fließen.

»Entschuldige«, sagt sie. Ich streichele ihr über die Wange.

»Du brauchst dich für nichts zu entschuldigen.« Ich tätschele ihr den Kopf wie meinen Jungen. »Das macht gar nichts. Wein ruhig.«

Sie lehnt sich an meine Brust, aber nur kurz. Dann erstarrt sie, richtet sich auf und schlägt mir mit der Faust gegen die Schulter, mehrmals.

»Du lieber Gott, Haavard. Und wir stehen einfach nur da.«

»Ja.« Ich erwidere ihren Blick.

Sie schaut mich an, wendet sich nicht ab.

»Verflucht noch mal. Wir müssen was tun.«