Ich sehe sie, als ich rauskomme.
Haavard und Sabiya.
Sie stehen unter den Bäumen in der Nähe des Eingangs und unterhalten sich. Oder streiten sie? Sie wedelt mit den Armen, gestikuliert, er schüttelt den Kopf, umarmt sie.
Was machen zwei diensthabende Ärzte jetzt draußen? Ich betrachte sie ein paar Sekunden, dann gehe ich weiter.
Es ist 22 Uhr 05, mein Dienst dauert noch mindestens eine halbe Stunde, aber ich muss Ahmad finden, ihm klarmachen, was er getan hat, es ihm begreiflich machen.
In diesem Moment verdient er es absolut nicht, auf einem Gebetsteppich zu liegen und sich heilig zu fühlen.
Sabiya und Haavard und alle anderen rennen aufgescheucht durch die Gegend, und ein Kindesmörder läuft frei herum.
Als sie sich vorhin um den Jungen gekümmert haben, wusste ich sofort, es war hoffnungslos. Ich habe viele Stunden mehr als jeder Arzt vor den Monitoren gesessen, aber uns vom Pflegepersonal bemerken die ja kaum. Hol dies, hol das, mach dies, mach das. Sonst reden die ja nicht mit mir, wenn sie nicht müssen, geschweige denn, dass sie mich um Rat fragen, dabei hab ich auf allen Posten gearbeitet, habe Tausende Babys auf die Welt gebracht, Neugeborene in der Geburtsabteilung versorgt und Frühchen auf der Frühgeborenen-Intensivstation, ich habe Väter getröstet und Müttern die Hand gehalten.
Aber die sehen nur einen Pfleger, jemanden, der unter ihnen steht.
Askildsen, der Stationspfleger, sagt, es hätte Klagen gegeben, mein Aftershave riecht angeblich zu stark. Stell dir vor! Nicht Patienten oder Angehörige hätten sich beschwert, nein, es muss einer von den Ärzten sein. Vornerum ist bei denen alles so toll, vier Kinder, dicker Volvo und Hund und Hütte in den Bergen, Urlaub in Italien und Familienfotos auf Facebook, aber hinter der Fassade stinkt es gewaltig.
Haavard hat Sabiya getätschelt wie einen Hundewelpen. Der Mann ist attraktiv, ja, auf so eine etwas struppige Westend-Art, aber ich kann ihn nicht leiden. Er ist zu easy, bleibt irgendwie immer an der Oberfläche, als ob ihn nichts wirklich berühren könnte, typisch für so Leute, die in einem großkotzigen Haus mit Riesengarten aufgewachsen sind. Jovial und gradlinig, das schon, aber trotzdem ein Oberklasse-Pisser aus Vinderen.
Und Sabiya?
Mag schon sein, dass sie die anderen täuschen kann mit ihrem Brave-Mädchen-Look, mit Perlenohrsteckern und dezentem Lipgloss. Aber ich bin in Linderud aufgewachsen, auch so einem Viertel: Ich weiß genau, man kriegt die Frau aus dem Getto raus, aber nicht das Getto aus der Frau.
Ahmad und Sabiya sind vom selben Schlag. Der Unterschied ist nur, dass sie sich angepasst hat.
Ich wohne im Viertel Rosenhoff. Die Leute finden immer, das klingt idiotisch, mitten in Oslo, aber ich kann den Fjord ein bisschen sehen, ich habe meine Musik, meine Serien und meine Freunde, und ich habe Mama. Ich besuche sie jeden Tag, sitze neben ihr und halte ihr die Hand und rede mit ihr. Einen Lover hab ich nicht, auch keine Kinder, aber ich versuche, den Kindern bei uns im Krankenhaus all meine Liebe und Fürsorge zu geben.
Der Junge heute gehört zum Schönsten, was ich je gesehen habe. Wie unschuldig er in den Armen seines Vaters gelegen hat. Wie kann jemand seinem Kind bloß so was antun?
Nachdem ich den ganzen Abend in der Abteilung rumgerannt bin, ist mir heiß, ich bin verschwitzt, meine Achseln sind nass. Wenn ich nach Hause komme, nehme ich eine lange kalte Dusche, dann lege ich mich in frisch gewaschenes Bettzeug.
Zum Glück ist die Abendluft etwas erfrischend, sie legt sich wie ein kühler Mantel über meine erhitzte Haut.
Aber genau in dem Augenblick sehe ich ihn, den Mann, der seinem eigenen Sohn die Zukunft gestohlen hat. Er geht direkt vor mir.
Ich folge ihm, geräuschlos und vorsichtig wie der rosarote Panther, und gleich ist mir wieder heiß.
Außer uns ist niemand unterwegs, und der Typ scheint ziellos rumzulaufen. War das mit dem Beten nur ein Bluff? Oder hat er nicht verstanden, wo der Gebetsraum liegt?
Ich gehe nur zehn Meter hinter ihm, aber er hat Kopfhörer in den Ohren, wirklich unglaublich, und kümmert sich nicht um mich.
Irgendwann bleibt er stehen, geht eine Metalltreppe rauf und fasst an den Griff einer blauen Stahltür. Hier kommen sie also zum Beten hin, die Muslime mit ihrer Doppelmoral, die dafür verantwortlich sind, dass die Haushaltshilfe nicht die Lebensmittel einkauft, die die Hilfsbedürftigen haben wollen, dass ethnisch norwegische Kinder in der Schule gemobbt werden, in der Stadt Leute zusammengeschlagen werden, wenn sie mit ihrem Liebsten Hand in Hand gehen, nur weil er vom selben Geschlecht ist.
Alles an diesem Kerl macht mich rasend wütend, der Stiernacken, das kurz geschnittene Haar, das Basecap und das blaue Chelsea-Sweatshirt mit der Samsung-Reklame auf der Brust.
Ich verspüre eine irrsinnige Lust, ihm die Fresse zu polieren, seinen Kopf gegen eine Wand zu knallen, irgendwas zu tun.