14 – Haavard

Genau das, was ich im Leben nicht erwartet hätte.

Aber jetzt fühlt es sich natürlich an. Und richtig.

In der Station Frognerseteren gehe ich den Pfad unterhalb der Gleise runter. Er gehört zu unserer festen Strava-Strecke. Abseits der begangenen Wege. Auf einer Anhöhe kreuzen sich zwei Wege, das ist unser Treffpunkt. Ich setze mich auf einen Stein am Wegrand, nehme das Telefon.

In drei Minuten ist ihre Bahn da.

Drei Minuten braucht sie hierher.

Also noch sechs Minuten. Und dann gehen wir eine Minute einen schmalen Pfad weiter, den nur ich kenne.

Die Trainings App ist genial, ein wasserdichtes Kommunikationsmittel.

Sollte Clara entgegen aller Wahrscheinlichkeit über DoctorH stolpern, wird sie dennoch MrsSplendid nicht finden. Natürlich folgen wir einander nicht. Manchmal geben wir uns gegenseitig ein »Gefällt mir« unter Postings oder kommentieren sie. In einer absolut harmlos wirkenden kodierten Sprache.

Das Geniale ist ja, dass Clara weder DoctorHs noch MrsSplendids Identität kennt. Beide rufen einander nie an. Es gibt keine SMS von einem gefakten männlichen Anrufer, nichts, was uns verraten könnte. Wir sind nicht mal bei Facebook befreundet, haben allerdings erwogen, es zu tun, weil alles andere geradezu Verdacht wecken könnte.

All diese Vorsichtsmaßnahmen sollen natürlich vor allem sie schützen, aber mich auch.

Ich schaue ungeduldig zur Bahn hinauf, sehne mich danach, sie zu sehen, sie in den Armen zu halten. Endlich über alles reden zu können, was passiert ist. Die Zeit, in der wir hinterher daliegen und reden, ist das Beste an dem Ganzen.

Vor bald einem Jahr hat es angefangen, leise und behutsam, ganz anders als meine Frauengeschichten in den letzten Jahren sonst, Quickies oder ein Abend in der Stadt, weil ich es verdiene, nachdem ich es all die Jahre mit einer immer frigideren Frau ausgehalten habe.

Das Problem mit Quickies ist nur, sie sind nie besonders befriedigend. Nur im Film haben die Leute fantastischen Sex mit Fremden an einer Wand auf der Toilette. In Wahrheit ist das vor allem Gefummel und Verrenkungen. Die meisten Frauen habe ich nur ein einziges Mal getroffen.

Als Clara und ich uns kennenlernten, mochte sie Sex. Sie war unerfahren, aber neugierig, offen für neue Erfahrungen. Wie lang das jetzt her zu sein scheint. Bei jeder anderen würde ich vermuten, sie hat sich einen Liebhaber zugelegt oder ist lesbisch geworden. Aber ich denke einfach, sie interessiert sich für niemanden, weder für mich noch für sonst wen, weder erotisch noch anders.

Die Frau, auf die ich jetzt warte, kannte ich schon lange vor Clara.

Wir saßen im Hörsaal immer nebeneinander, in der ersten Reihe, schrieben unsere Hausarbeiten gemeinsam, verbrachten die Pausen miteinander. Ich traute mich nie, irgendeinen Vorstoß zu unternehmen, nicht weil ich in Sachen Frauen gehemmt gewesen wäre, damals ließ ich möglichst nichts anbrennen, es war fast eine Art Sport. Aber wie die meisten gleichaltrigen Jungs aus Oslo empfand ich eine Art Respekt vor pakistanischen Mädchen. Sie waren verbotene Früchte.

Marokkanische Mädchen, kein Problem, türkische oder indische ebenso wenig.

Aber keinesfalls ein pakistanisches.

Im letzten Semester heiratete sie einen Kerl aus Karachi, den ihre Eltern ihr ausgesucht hatten und als modernen Mann aus der Großstadt verkauften. Sie fand das natürlich grässlich.

Zehn Jahre nach der Abschlussfeier im Audimax begegneten wir uns unerwartet in unserer Abteilung im Krankenhaus und fielen uns vor lauter Wiedersehensfreude um den Hals. Wenigstens durfte sie arbeiten.

Jetzt sind wir schon seit zwei Jahren in derselben Abteilung.

Erst war sie nur eine hübsche, fröhliche Kollegin. Munter und schnell. Flink mit dem Mundwerk. Ich konnte sie gut leiden, aber das war es auch schon. Bis wir eines Tages gemeinsam Schicht hatten und über irgendetwas kicherten, das eine nervende Mutter gesagt hatte. Wir standen da, übernächtigt und schlapp, und auf einmal stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste mich.

»Wow«, sagte ich.

Wow – so was Bescheuertes. Als wäre ich einer meiner Söhne, nicht meines Vaters Sohn.

Aber sie lachte nur, und dieses Lachen macht seit einem Jahr mein Leben heller.

Im Gegensatz zu Clara ist sie warm, liebevoll und an mir interessiert. Ich verdiene es, dass jemand mich versteht, sich um mich sorgt. Allerdings frage ich mich in der jüngsten Zeit, ob ich möglicherweise gegen alle Vernunft und Vorsätze dabei bin, mich zu verlieben. Das war nie der Plan gewesen.

Allen Frauen, mit denen ich in den letzten Jahren was hatte, war eines gemeinsam. Sie wollten mehr von mir als ich von ihnen. Nur Sex, keine Gefühle, das war immer meine Devise. Das hier ist anders.

Endlich kommt sie den Weg runter.

Immer näher.

Sich so umzustellen, ist immer etwas Besonderes, erst noch Kollegen, gleich Liebende, es dauert aber immer nur ein paar Minuten. Gut so, wir haben nicht übermäßig lange, müssen immer bald auf Nebenwegen zur Station Sognsvann kommen und zurück ins Krankenhaus fahren. Trotzdem, eine halbe Stunde im Heidekraut können wir immer noch daliegen, an der Anhöhe, wo nur die Sonne uns findet.

Mein Schwanz wird immer härter. Und da steht sie vor mir, in Adidas Sneakern, Jeanshose und -jacke. Das hier ist nicht die abendliche Joggingrunde von MrsSplendid, sie ist weit von zu Hause entfernt, Sportsachen sind nicht nötig. Aber wir speichern trotzdem unsere wöchentlichen Treffen auf Strava als Sport. Falls es Fragen geben sollte, waren wir eben beim während der Arbeitszeit zulässigen Training. Das war ihre Idee gewesen. Sie ist schlau. Das sagt schon ihr Name.

Sabiya. Die Glänzende.


»Ich fahre für ein paar Tage nach Hause«, sagt Clara an dem Abend.

»Nach Hause? Nach Westnorwegen?«, frage ich, und sie nickt.

Clara sagt immer »nach Hause«, wenn sie zu ihrem Vater fährt, obwohl ich sie schon darauf hingewiesen habe, dass das Zuhause da ist, wo Mann und Kinder sind, wo man wohnt und arbeitet.

»Vater geht es irgendwie nicht gut.«

Clara und ihr Vater haben ein fast symbiotisches Verhältnis zueinander. Das gibt es wohl öfter, wenn die Mutter nicht mehr da ist. Ich kann Leif gut leiden, aber er ist nicht so tough wie seine Tochter. Hättest du ihn mal früher gekannt, sagt Clara immer. Vor dem Libanon. Aber ich denke, wenn Leif so stark wäre wie Clara, hätte er auch den Libanon überstanden.

»Wie, es geht ihm nicht gut?«, frage ich.

»Ich weiß auch nicht genau.« Sie verschwindet auf die Terrasse.

»Okay«, sage ich hinter ihr her. »Wir kommen schon zurecht. Wo du derart freundlich fragst.«

Keine Antwort. Wie immer.

Eigentlich ist es nicht weiter schwierig, ein paar Tage ohne Clara auszukommen. Wir kennen das ja. Ich kann Mutter anrufen. Und ich habe einiges vor.


Mein Arbeitszimmer liegt im Obergeschoss, Wand an Wand mit dem Schlafzimmer, gegenüber vom Zimmer der Jungs.

Die maßgefertigten eichenen Einbauregale stehen hier schon, seit das Vaters Arbeitszimmer war und ich als Dreikäsehoch unter seinem Schreibtisch lag, darum bemüht, so leise zu sein, dass er nicht auf die Idee kam, mich rauszuschicken.

In diesen Regalen stehen meine Helden. Hamsun, Bjørneboe, Hemingway, neben den guilty pleasures meiner Jugendzeit wie Forsyth oder Follett.

Ein schwerer Schreibtisch, mitten im Zimmer. Ein Geschirrschrank, ein Sofa und ein Lehnsessel, alle original vom verstorbenen Fredrik Kayser hergestellt. Der lebte seinerzeit hier in Vinderen und wurde mit der Möblierung zahlreicher Häuser in der Nachbarschaft beauftragt. Kayser baute hochelegante schlichte Möbel. Nur schade, dass er früh gestorben ist. Mittlerweile bauen verschiedene Produzenten seine Modelle nach, aber er ist trotzdem noch nicht so Mainstream wie Wegner, Jacobsen oder andere bekannte Namen.

Ich setze mich an den Tisch, schalte die grüne Kontorlampe an und klappe meinen Job-PC auf. Logge mich ordentlich ein, öffne ein neues Dokument.

Am Anfang steht Faisal Ahmad, der kleine Junge.

Durch Kopfschuss zu sterben, schnell und schmerzlos, ist eigentlich ein gnädigeres Schicksal, als Mukhtar Ahmad es verdient hätte. Einen wie den müsste man langsam zu Tode foltern, ihn und seinesgleichen in Stadt und Land.

Natürlich kann ich allein nicht unbedingt viel ausrichten.

Aber ich kann und werde meinen Beitrag leisten und dar­auf hinweisen, dass unser System versagt hat.

Ich werde Beweise dafür sammeln, dass immer wieder Kinder aus denselben Familien zu uns kommen, Kinder, deren Fälle wir bereits beim Jugendamt gemeldet hatten.

Wir haben viele solche Wiedergänger. Nur die Götter wissen, wie viele es tatsächlich sind. Das muss konkret benannt werden. Schwarz auf weiß. Möglichst genau dokumentiert.

Hier, ein Eintrag zu Faisal Ahmad. Und einer zu seiner sechs Jahre alten Schwester, die vor einem Jahr bei uns war.

Heute ist ein weiterer Fall dazugekommen, eine Frau namens Susanne Stenersen. Sie kam mit ihrer Älteren: Armbruch, ausgekugelte Schulter und andere ihr angeblich unerklärliche Verletzungen. Der jüngere Bruder war zuvor mit Kopfverletzungen und Verbrühungen hier gewesen, wahrscheinlich von zu heißem Badewasser. Außerdem besteht der Verdacht, dass die Mutter rauschgiftabhängig ist und die Kinder zu Hause sich selbst überlässt.

Geschlagene vier Mal waren die beiden schon bei uns, trotzdem leben sie immer noch bei der Mutter. Es ist nicht zu fassen.

Auch einen weiteren Namen auf der Liste kenne ich schon von einer anderen Gelegenheit.

Melika Omid Carter, eine Art Party-VIP, ich kann mich von früher an sie erinnern. Sie war zwei Mal in unserer Abteilung, das erste Mal bereits vor zwölf Jahren mit ihrer Neugeborenen, Verdacht auf Shaken-baby-Syndrom.

Ich schaue auf Vaters Bücherregale.

Als ich ungefähr so alt war wie die Jungs jetzt, arbeitete er gefühlt jahrelang an dem Nachweis, dass einer seiner Mandanten unschuldig wegen Mordes verurteilt worden war.

Und es gelang ihm, gegen alle Widrigkeiten. Natürlich war ich stolz auf ihn.

Am besten erinnere ich mich aber an eine Bemerkung hinterher.

»Vergiss nie, die Welt da draußen ist brutal, du wirst sie nie ganz begreifen.«

Wie klein und unbedeutend ich mir da vorkam. Er war immer groß und wichtig gewesen. Anders als ich.

Jetzt aber kann ich selbst etwas bewirken, endlich.

Das hier Askildsen vorzulegen oder seinen Vorgesetzten, hätte keinen Sinn. Sie wissen schon, dass es so ist, aber sie haben ihren Frieden damit gemacht.

Nein, das muss an die Medien gehen. Das ist am effektivsten.

Die Leute denken ja, die Boulevardjournalisten kämen durch eigene Recherche auf solche Enthüllungen. Dass dem nicht so ist, weiß ich von Axels Exfrau. Die beiden sind die Einzigen, die wir all die Jahre regelmäßig getroffen haben, Clara ist nicht besonders gern unter Leuten. Jetzt sehen wir nur noch Axel, aber von Caro, der Journalistin, weiß ich, dass die Polizei etwas hat durchsickern lassen, wenn in den Boulevardblättern von Pädophilen die Rede ist.

Ziemlich alles kommt irgendwoher. Weil jemand etwas ans Licht des Tages zerrt, Aufmerksamkeit dafür erringen will.

Ich muss Clara davon erzählen, immerhin arbeitet sie an dem Thema. Vielleicht kann das ja eine Art gemeinsames Projekt für uns werden. Mir fehlen unsere Abendgespräche. Der Abend nach dem Mord war eine seltene Ausnahme, leider auch nur halb geglückt.

Dass Sabiya mein Engagement zu schätzen wissen wird, da bin ich mir sicher.

Nur selten sind die Motive, aus denen jemand etwas tut, ganz eindeutig. Unsere Handlungen werden von dem Wunsch bewegt, etwas Gutes zu tun, die Welt ein wenig zu verbessern, aber auch von dem Wunsch, dass wir selbst etwas davon haben.