Ich fahre über Brücken. Durch Tunnel. Durch noch mehr Tunnel. Je näher ich meinem Heimatdorf komme, desto häufiger ist die Straße so schmal, dass nur ein Auto darauf Platz hat; die ganze Zeit muss man darauf gefasst sein, einen Entgegenkommenden vorbeizulassen oder schlimmstenfalls zurücksetzen zu müssen.
Das Autoradio habe ich mit meinem Handy verbunden und höre eine Playlist von Autofahrmusik. Ein Hit nach dem anderen. Gerade läuft Nenas 99 Luftballons , davor kamen Kate Bushs Cloudbusting , Tanita Tikarams Twist in My Sobriety und Blondie mit Heart of Glass und One Way or Another.
Blondie höre ich besonders gern.
Ich hänge immer noch bei der Musik aus meiner Teenagerzeit fest, seitdem hatte ich irgendwie keine Zeit mehr, Neueres kennenzulernen. Abgesehen davon habe ich nicht nur Frauen, sondern auch Tom Petty, Dire Straits, Bruce Springsteen, lauter alte Helden, die Vater ebenfalls verehrt.
Ich höre gern Musik beim Fahren, sonst nur selten, und beim Laufen nie.
Jetzt kommt Roxy Music. More than this.
It was for a while. There was no way of knowing …
Ich singe mit, drücke etwas mehr aufs Gas.
Maybe I’m learning. Why the sea on the side. Has no way of turning.
Zu meiner Linken fallen die Abhänge steil ins Wasser ab. Und dann der Fjord, mit dieser grünlichen Farbe, die bei mir immer ein Ziehen im Bauch verursacht.
Ich fahre an der Stelle vorbei, sehe wie stets nicht hin. Hinter den Leitplanken, die mittlerweile hier montiert wurden, gähnt die Leere. Sonst sind die Straßenränder bunt, Waldstorchenschnabel, Vergissmeinnicht, Löwenzahn, Traubenkirsche. Und jede Menge Grün.
Früh im Sommer wie jetzt kommt man hier noch gut durch, aber gegen Mittsommer verstopfen die Wohnmobile alles. Mit den Jahrzehnten sind es mehr und mehr geworden, aber die Straßen sind so schmal wie eh und je.
Und dann, als ich fast da bin, nur noch zehn Kilometer zu fahren: die Fähre.
Ihre Klappe öffnet sich. Der gerillte Boden des Schiffs unter meinen Reifen. Handbremse.
Ich steige aus, um mich in den Wind zu stellen, blicke über die weißgestrichene Reling in den Fjord, genieße die frische Luft, die Tropfen im Gesicht, sehe das grüne Wasser um die Fähre herum aufschäumen, es wirbelt in einem eisig nassen Crescendo, während wir ablegen.
Hinter mir das laute Tuckern der Schiffsmotoren, dazu der Dieselgeruch. Die Crew läuft in ihren Overalls herum, tagaus und tagein, jahraus und jahrein.
Ins Café unter Deck gehe ich nie, vom Geruch nach Kaffee, Würstchen und Frittierfett wird mir in dem engen Raum unwohl. Ich habe nie verstanden, warum die Leute so ein nostalgisches Verhältnis zu den Cafeterias auf den Fähren haben, zu Waffeln mit braunem Käse.
Trotzdem gibt es in mir etwas, das in Oslo erloschen ist und erst hier, zwischen den Bergen, am Fjord wieder lebendig wird.
Etwas öffnet sich, genauso, wie die Klappe der Fähre nach zwanzig Minuten tuckernder Fahrt aufgeht und die Autos rauslässt, so, wie der Fjord sich öffnet. An seiner breitesten Stelle kann man die Straße zu unserem Hof sehen, er liegt ein Stück weiter oben am Hang, in einer Senke mit Aussicht übers Wasser.
Aber dort will ich jetzt noch nicht hin.
Ich biege auf den Parkplatz unterhalb des im Nachbarort gelegenen Krankenhauses ein, das ständig von Schließung bedroht ist, für dessen Erhalt ständig demonstriert wird.
Ich parke den Wagen, warte ein paar Sekunden, steige aus. Beim Aufbruch war das Auto frisch gewaschen, jetzt ist es von einer dünnen Schicht Straßenstaub bedeckt.
Vater sitzt in seinem Zimmer auf einem Entspannungssessel und sieht fern, offenbar eine Dokumentation oder Ähnliches aus den USA, aber der Ton ist abgestellt. Seine Beine liegen auf einem Hocker, die Füße gekreuzt. Ein Buch im Schoß, die Kaffeetasse auf einem kleinen Tisch neben sich. Die Brille auf der Nasenspitze. T-Shirt, Jeans.
Er schaut mich überrascht an.
»Ach, Clara, du? Du bist hier?« Er greift sich mit der Hand ins Gesicht.
Hat er feuchte Augen bekommen? Ein Schlaganfall soll die Leute oft etwas rührselig machen. Ansonsten wirkt er wie immer. Er legt die Fernbedienung und das Buch von Clive Cussler beiseite, stützt sich auf den Armlehnen ab, versucht aufzustehen.
Und jetzt kann ich sehen, dass er Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht hat, er steht halb aufgerichtet, seine Beine zittern.
Ich fasse ihn beim Ellbogen, helfe ihm auf, schiebe den Hocker beiseite, damit er mehr Platz hat, umarme ihn und nehme den vertrauten Papageruch war. Shampoo, Eutersalbe, Nivea, oder was auch immer er sich ins Gesicht schmiert, den Wollpullover und den Nikotinkaugummi, mit dem er sich herumquält, seit er das Rauchen aufgegeben hat.
»Setz dich lieber wieder«, sage ich und versuche, ihn wieder zu dem Sessel zu führen.
Papa. Zimmer 27. Ein Krankenhausbett mit Klingelschnur und Nachttisch, darauf Trauben und Zeitung und das Steuergerät für das Bett, rollstuhlgeeignetes Bad, Neonröhren, am Boden Linoleum.
»Fahren wir heute schon nach Hause?«, will er wissen.
»Immer langsam.« Ich nehme seine Hände in meine. Sie sind überraschend kalt, außerdem kleiner, als ich sie in Erinnerung habe. Früher hatte er zu jeder Jahreszeit braune, kräftige Arbeitshände. Jetzt fühlen sie sich ganz schwach an. Und er hat Leberflecken bekommen, wie ein alter Mann.
»Jetzt lass mich erst mal allein nach Hause fahren, einkaufen und nachschauen, ob alles bereit ist, und dann hole ich dich morgen, ja? Das wird auch deinen Ärzten lieber sein.«
Er denkt kurz nach, nickt, setzt sich behutsam wieder hin.
»Bleibst du eine Zeit lang hier?«
»Ich muss noch schauen, ob das geht«, sage ich, obwohl ich kaum länger als drei Nächte fortbleiben kann. Danach hat Haavard eine Fortbildung in Lysebu. Ich habe ein paar Tage Familienurlaub genommen, das ist noch nie vorgekommen, auch kaum mal ein Tag wegen Krankheit.
Eigentlich sollte ich Vater schon jetzt mit nach Hause nehmen, um möglichst viel Zeit mit ihm zu haben, aber ich brauche einen Abend für mich. In Ruhe dasitzen und über den Fjord schauen, über Munchs verrückten Vorschlag nachdenken, darüber, was ich in Zukunft tun will.
»Ich hab im Fernsehen etwas von einem Mord im Krankenhaus Ullevål gesehen?«, erkundigt er sich.
Er scheint doch ganz gut beieinander zu sein.
»Ja, das Opfer war der Vater von einem von Haavards Patienten. Das hat ihn natürlich ganz schön beschäftigt«, sage ich und bereue es sofort. Haavard hat es mir gegenüber mit der ärztlichen Schweigepflicht nie allzu ernst genommen, aber ich habe immer darauf geachtet, nichts davon verlauten zu lassen. »Ich schau mal, ob ich draußen jemanden vom Personal finde. Ich bin gleich wieder da, okay?«
Er nickt.
»Clara.« Er streckt die Hand nach mir aus. »Du hättest nicht wegen mir die lange Fahrt machen sollen. Aber schön, dass du hier bist.«
Ich gehe nicht darauf ein und umarme ihn kurz.
»Wir gehören doch zusammen, Papa.«
»Ja«, lächelt er, dann gleitet ein Schatten über sein Gesicht. Er lässt meine Hand nicht los, als ob er mich festhalten wollte. »Weißt du, Clara, eine Sache …«
»Ja?« Ihm ist anzuhören, dass er nicht gerne damit herauswill.
»Am Tag, bevor das hier passiert ist, habe ich einen Anruf aus Kleivhøgda bekommen …«
Mich durchzuckt es.
Was hat das zu bedeuten? Ein Anruf aus dem Pflegeheim? Ist meine Mutter endlich tot?
»Ja, es ist wegen Agnes …« Er zögert, atmet tief ein, nimmt innerlich Anlauf. »Sie hat angefangen zu reden. Kann sich offenbar an so einiges erinnern.«
Eine Sekunde vergeht. Dann noch eine.
Plötzliche Übelkeit. Zitternde Hände.
Und dann bin ich da.
Das Auto rast über den Straßenrand weg, schlägt krachend auf dem Wasser auf. Mein Kopf wird heftig nach vorn geschleudert, dann zurück. Das Wasser strömt rein.
Alles fängt von vorn an. Immer wieder und wieder.