1975
Es war ein Tag im Juni. Ich wartete an der Bushaltestelle auf ein Paket aus der Stadt, da stieg sie aus – langer Rock, langes Haar und lange Beine.
Sie schaute sich verwundert um, als wäre sie zufällig ausgerechnet hier ausgestiegen. Ich stand rauchend da und dachte, einen so schönen Menschen hatte ich noch nie gesehen, aber für einen wie mich käme es auf keinen Fall infrage, sie anzusprechen. Als dann sie mich ansprach, erwies sich, dass sie, verträumt, an der falschen Station ausgestiegen war, hier an der Stelle, wo der Fjord am tiefsten, der Hang besonders steil war und die Straße sich bergan schwang, in das Tal, an dessen Ende mein Hof lag.
Es war einer dieser bebend dunstigen Tage, Berge und Fjord von fast derselben dunkelblauen Farbe, dazwischen alles üppig grün, und auf den Gipfeln noch weiße Schneeflecken, ja, alles zeigte sich von der besten Seite. Und es war lange hin bis zum nächsten Bus. Also kam sie mit auf meinen Hof, und ich vergaß alles, was ich an dem Nachmittag noch hatte tun wollen, die Tiere versorgen, einen Zaun bauen, Gras mähen.
Agnes nahm an diesem Tag keinen Bus mehr, und am nächsten auch nicht.
Sie zog bei mir ein, all ihre Habseligkeiten hatten in ihrem Rucksack Platz, ein paar Röcke, ein paar Blusen, Sandalen, Haarbürste. Meine Eltern waren tot, Haus und Hof gehörten mir, ich musste niemanden fragen, ob sie bleiben durfte. Auch untereinander besprachen wir es nicht weiter.
Sie blieb einfach da.
Wie sich zeigte, waren ihre Beine unter dem Rock erstaunlich braun. Am Abend schlief sie in meinen Armen ein. Oft lagen wir derart lange so da, dass mein Arm am nächsten Morgen steif und taub war, aber das erwähnte ich nie. Manchmal wachte ich nachts davon auf, dass sie nackt neben mir im Bett kniete und ihre langen hellen Haare über mein Gesicht streifen ließ.
In meiner Erinnerung ist das ein Sommer, in dem die Vögel unablässig sangen und immer die Sonne schien. Mild erschien Agnes mir, das war mein erster Eindruck, sie war so durchsichtig, so daunenleicht und lebendig. Außerdem hatte sie so etwas Staunendes an sich. Allerdings war das nicht ihr einziger Charakterzug, wie ich bald feststellte. Dazu kam noch ein ziemlich starker Wille. Auch das gefiel mir.
Und nur ein Jahr nachdem sie am Fjord aus dem Bus gestiegen war, brachte Agnes in dem Krankenhaus der kleinen Stadt eineinhalb Stunden Fahrt von uns entfernt ein Kind zur Welt, wir wurden Eltern.
Es war ein Mädchen, sie musste per Kaiserschnitt geholt werden. Deshalb hielt ich sie in den ersten Stunden im Arm. Sie war so klein, ihr Kopf verschwand fast in meiner Hand.
Ich war fest entschlossen, dass sie Klara heißen sollte, wie meine Mutter. Aus irgendeinem Grund bestand Agnes auf Clara. Ich wollte dagegen protestieren, aber es nützte nichts. Also nannten wir sie Clara, obwohl ich immer noch fand, das sehe eigenartig und fremd aus. Clara mit C, so sagte Agnes immer.
In der ersten Zeit nach der Geburt war Agnes sehr schwach, alles in ihr schien sich ein wenig zu verändern, auch zwischen uns, es war nicht leicht zu erklären.
»Ich kann sie nehmen, wenn du schlafen möchtest«, sagte ich und nickte zu dem Baby hin. Das nahm Agnes gern an. Sie stillte sie und schlief, stillte sie und schlief, aber es war nicht einfach, ihre Brustwarzen waren wund, bis sie bluteten, die ganze Brust spannte und schmerzte, wie bei Kühen mit Euterentzündung, nur noch schlimmer.
Wenn Clara nicht gerade bei ihrer Mutter trank, saß ich entweder im Schaukelstuhl am Fenster und blickte über den Fjord, das Baby an meiner Schulter, oder ich hatte sie bei der Arbeit auf dem Hof dabei, die sich ja nicht von selber machte. Bei den Kühen musste ausgemistet und gefüttert, das Dach abgedichtet werden, die Korn- und Heuernte standen bevor, ich musste die Schafe zusammentreiben und scheren, alles Mögliche musste gerichtet und versorgt werden. Und Clara hatte ich bei allem dabei.
Nachts kam ich kaum zum Schlafen, tagsüber schon gar nicht, aber ich war nicht erschöpft, im Gegenteil, ich lächelte unablässig und konnte mich gar nicht an ihr sattsehen, wie sie da in ihrer Wiege lag und schlief.
Die beiden gehörten zu mir, Clara und ihre Mutter. Meine kleine Familie. Auf die ich immer aufpassen würde.
Dennoch beunruhigte es mich ein wenig, dass Agnes die Kleine kaum wahrzunehmen schien. Manchmal kniete sie vor ihr, brabbelte ein wenig und schnitt Grimassen. Dann leuchtete das kleine Gesichtchen auf. Nur wurde es der Mutter gleich wieder zu viel, sie machte sozusagen dicht, sonderte sich ab, saß dann stumm und verdrossen da. Dann zappelte Clara, warf sich hin und her, fuchtelte mit den Armen und stieß leise Schreie aus.
Meist führte das dazu, dass ich sie hochnahm, mit ihr Flugzeug spielte, dann lachte und jauchzte sie, alles war die reine Freude. Aber natürlich fragte ich mich, wie es ging, wenn ich nicht in der Nähe war. Mit der Zeit fiel mir auch auf, dass Agnes Clara immer seltener ansprach. Die Kleine saß in ihrem Kinderstühlchen, wiegte sich vor und zurück, während ihre Mutter versponnen in ihrer eigenen Welt versunken war.
Immer häufiger nahm ich Clara mit mir. Anfangs noch auf meinen Schultern, bald wuselte sie aber auf ihren eigenen Beinchen um mich herum, auf dem Hofplatz, an den Hängen, im Kuhstall. Wohin ich auch ging, sie blieb mir dicht auf den Fersen, in Latzhose und Turnschuhen, auf dem Kopf eine Kappe, ganz ähnlich meiner eigenen aus der Einkaufsgenossenschaft.
Lange, bevor sie selber sprechen konnte, unterhielt ich mich mit ihr, beschrieb ihr alles, was ich machte, und auch, warum ich es tat. Und später fragte sie dann von sich aus. Nach den Bäumen am Hang, nach dem Wasser im Bach, nach den Ameisen, nach Sternen und Wolken und allem, was es gab. So vergingen die Tage wie ein ununterbrochenes Gespräch zwischen uns. Und eines Tages konnte ich ihr erzählen, dass sie bald ein Geschwisterchen bekommen würde.
Im Bauch von ihrer Mama war ein Baby und würde immer größer werden und irgendwann zur Welt kommen, ein winziges Menschlein, ein neuer Teil unserer kleinen Familie.
Und das Baby kam, es hatte Finger und Zehen und Augenlider und winzig kleine Wimpern. Der Kleine war stiller, als Clara es gewesen war, tagsüber schlief er viel. Seine Mutter auch. Ich war es, der ihn wickelte und anzog, ich hatte ihn im Auto dabei, wenn ich Clara in den Kindergarten ins Dorf runterbrachte. Agnes und ich fanden beide, dass es für Clara gut wäre, mit anderen Kindern zusammen zu sein, auch wenn wir Erwachsenen den ganzen Tag zu Hause waren.
Sie brachte Zeichnungen und Knetfiguren und jede Menge Geschichten mit nach Hause. Ich war erleichtert, denn ich hatte befürchtet, sie könnte so eigen werden wie ihre Mutter, aber jetzt sah ich, wie offen sie der Welt begegnete, wie sie alles in sich aufsog.
Oft blieb Agnes bis zur Mittagszeit im Bett, zur Wand gedreht, die Bettdecke zwischen den Beinen, und schaute sich nur kurz zu mir um, wenn ich mit Lars auf den Armen zu ihr kam.
Irgendwann war Lars alt genug, dass ich auch ihn morgens im Kindergarten abgeben konnte. Da standen sie dann beide nebeneinander in der Tür ihres Gruppenhauses und winkten mir nach.
Clara mit ihrem hellen, lockigen Haar, das ich morgens zu zwei strammen, an den Seiten abstehenden Zöpfchen geflochten hatte.
Lars mit seinen wilden Strubbelhaaren.
Irgendwann fing Agnes an, wieder aufzustehen, sie machte einen Fernkurs, wollte eine Ausbildung absolvieren, sagte sie. Es kam sogar vor, dass sie mir bei der Arbeit half.
Wir hatten ein gutes Leben.
Es stimmt schon, ich hatte viel Verantwortung zu tragen, aber jeden Abend, wenn ich mich endlich in meinen neuen Ledersessel setzte, dachte ich, was für ein Glück ich doch hatte, dass diese kleinen warmen Wesen zu mir gehörten.