Ich setze mich auf Vaters abgewetzten hellbraunen Ledersessel und schaue aus dem Fenster.
Letzte Schneereste kleben an den Felsen, sie sehen aus wie weiße Kühe. Auf den grünen Wiesen Schafe und Lämmer. Die Lämmer sind in dieser Zeit besonders niedlich, noch ganz klein, aber neugierig und lebhaft. Bis hierher kann ich sie blöken hören, und ihre Glocken bimmeln. Sie rufen nach ihren Müttern. Und die Mütter antworten.
Weiter unten an den Hängen ein Streifen grünspangrüner Laubwald.
Und ganz unten der Fjord. Von hier aus wirkt er eher wie eine Art grauer Teppich, aber ich weiß, wie er in der Abendsonne glitzert und funkelt.
Nie weißt du, wie tief er ist, hier zehn Meter, und da hundert oder sogar tausend Meter. Der Fjord, mit all den großen Fischen und Schweinswalen und Autowracks und Gott weiß was noch darin.
Der Fjord ist sein eigener Herr, niemand kann ihn überwinden, wenn er es nicht will. Heutzutage wird Grubenschlamm in die Fjorde eingeleitet, in allen Buchten treibt Plastik, trotzdem denke ich immer noch, dass der Fjord am mächtigsten ist. Und am gefährlichsten.
Der Fjord gehört mir, alles hier gehört mir. Ist sicher. Und zugleich nicht.
»Ach du lieber Himmel.« Das war das Einzige, was ich herausbekam, als Vater mir vorhin von meiner Mutter erzählte.
Gedächtnisverlust nach Elektroschockbehandlungen wie bei ihr vor vielen Jahren ist eine recht übliche Nebenwirkung. Ich habe mich in das Thema eingelesen, die Entwicklung in jüngerer Zeit ist eigentlich ziemlich überraschend.
Offenbar wird immer häufiger zur Elektroschocktherapie gegriffen, oft auch ohne Einverständnis der Betroffenen. In der Zeitung war von einem Fünfzigjährigen zu lesen, der nach kurzer Depression wegen einer Midlife-Crisis Elektroschocks bekommen hatte und sich danach nicht mehr an die letzten fünfundzwanzig Jahre erinnern konnte, einschließlich Frau und Kinder. Natürlich war er zutiefst verzweifelt darüber, dass er sein ganzes Leben, seine Geschichte verloren hatte.
Vielleicht ging es meiner Mutter ähnlich. Vielleicht war es ihr gleichgültig. Ich habe keine Ahnung, eigentlich habe ich sie nie gekannt.
Seit achtunddreißig Jahren habe ich sie nicht mehr gesehen.
»Die Frau sagte am Telefon, wir sollten Agnes besuchen, sie denkt, das könnte ihr guttun«, hatte Vater noch gesagt.
»Ach du lieber Himmel.«
»Ja, es muss ja nicht sofort sein.«
»Nein«, sagte ich. »Bist du überhaupt jemals dort gewesen?«
»In dem Pflegeheim? Nein. Du?«
Sein Gesicht. Gefurcht wie uralter Fels.
»Nein, ich auch nicht. Glaubst du, dir ist es wegen dem Anruf auf einmal so schlecht gegangen?«
»Nein.« Er lächelte schwach. »Das wäre ohne das sicher auch gekommen. Aber Clara … Versprich mir, dass du nicht hinfährst, ja.«
Und ich hatte es versprochen.
Jetzt überlege ich trotzdem, ob ich Agnes nicht morgen besuchen sollte. Dass ihr Gedächtnis wiederkommt, verändert alles. Dennoch, es wäre immer noch ein gewaltig großer Schritt, nach all den Jahren, in denen es mir unvorstellbar war.
Ich ziehe mir einen dicken Wollpullover über, greife ein Lammfell und ziehe auf den Balkon um. Bella, Vaters fette alte Katze, springt mir auf den Schoß und rollt sich zu einem Ball zusammen. Für gewöhnlich hasst sie mich, aber jetzt scheine ich ihr gut genug zu sein.
Während es langsam dämmert, stecke ich mir einen Joint an.
Die erste Tüte meines Lebens hatte Haavard mir angeboten, in dem Sommer, als wir uns kennenlernten. Für ihn war das ein Partyvergnügen, für mich aber die wohltuende Entdeckung, dass Hasch mir eine gewisse Betäubung verschaffte. Alle Emotionen, all das Dunkle in mir wurde gedämpft, ich konnte mir selbst für eine Weile entkommen.
Haavard hat damit natürlich längst aufgehört. Er als Frohnatur braucht so was nicht. Es gibt nichts, das ihn heimsucht. Weder meine Mutter noch Lars. Das Leben ist für ihn immer leicht gewesen.
Ich schaue mir Großmutter Klaras Garten an. Sie hatte wohl einen grünen Daumen. Seitdem ist es mit dem Garten ziemlich bergab gegangen. Als ich klein war, arbeitete Mutter darin, wenn sie eine gute Phase hatte, dann stand sie in Gummistiefeln und leichtem Rock über die Beete gebeugt wie eine Figur auf den Bildern von Nikolai Astrup, die unweit von hier entstanden sind.
Damals ähnelte sie Joni Mitchell, war nur noch schöner und zerbrechlicher.
Ich stelle mir vor, wie sie heute aussieht. Fett und hässlich, in fleckigem Jogginganzug, mit strähnigem Haar und langen Borsten am Kinn. Schwere Lider. Ein aufgetriebenes Gesicht, nicht wiederzuerkennen.
Ihr Interesse für den Garten schwand bald, genau wie für alles andere. Loslegen wie ein Bär, aber bald daliegen wie der leere Pelz. Und Vater hatte zu viele andere Pflichten. Heute mäht er den Rasen mit der Sense, und nur noch die widerstandsfähigsten Stauden und Sträucher sind übrig.
Ein Goldregen, angeblich der größte vom ganzen Dorf. Helllila, dunkellila, weißer Flieder. Jasmin. Zwei Geißblattsträucher, beide so hell, zart, altweiß, jeder mit seinem eigenen ausgeprägten Duft. Und die Stechpalme, mein Liebling. Die schönen Blüten früh im Jahr, die roten Beeren im Herbst. Und der Name, Ilex.
Jetzt füllen allmählich Schatten den Garten, es wird dunkel. Das Rauschen des Flusses, die Vögel, die Glocken der Schafe, alles wird leiser jetzt, da es bald Nacht wird.
Wie immer hätte ich Lust auf noch einen Joint, lasse es aber bleiben. Immer mit Maßen, nicht die Kontrolle verlieren, nur nicht übertreiben. Ich gehe rein, lege mich der Länge nach auf den Boden und mache ein paar von meinen Atemübungen. Die absolvierte ich schon lange, bevor ich zu rauchen angefangen hatte, lange, bevor ich wusste, dass es so etwas wie Pranayama gibt, ich wusste nicht mal, dass etwas wie Atemtechnik existiert.
Die eigentlichen Übungen habe ich selbst entwickelt, durch Ausprobieren. Jeden Morgen nach dem Aufwachen machte ich sie, beim Fernsehen auch. Und im Sommer lag ich in einer Mulde im Fluss im Wasser und machte Atemübungen.
Erst ging es mir darum, so lange die Luft anzuhalten wie möglich.
Der Weltrekord lag damals für Männer bei acht, für Frauen bei sechs Minuten. Vielleicht, so dachte ich, könnte ich das ja eines Tages übertreffen.
Das habe ich natürlich nicht geschafft. Aber ich übe immer noch jeden Tag.
Die beste Übung besteht darin, eine bestimmte Anzahl Atemzüge lang beim Ausatmen den Bauch einzuziehen und ihn beim Einatmen rauszudrücken, dann tief einzuatmen und die Luft anzuhalten, dazu Kehlverschluss, Jalandhara Bandha , und Wurzelverschluss, Mula Bandha , solange es geht. Dann atmet man ruhig wieder aus.
Meist mache ich drei Runden, jede zwanzig bis fünfunddreißig Atemzüge lang.
Wenn ich Zeit habe, gibt es noch die Extremvariante, zehn Runden, jede mit hundert Atemzügen.
Danach habe ich einen klaren Kopf und bin voller Energie, bin deutlich leistungsfähiger als sonst. Bei der Vorbereitung des Gesetzesvorschlags hat mir das sehr geholfen. Jetzt brauche ich es als Vorbereitung für morgen.
Ich bin nicht mehr allein in diesem Haus gewesen, seit Vater im Libanon war. Auch jetzt ist es kein gutes Gefühl. Aber es würde wohl kaum etwas ändern, wenn er hier wäre, denn mich beschäftigt nur eins, die Frage, ob ich Agnes besuchen soll oder nicht.
Ich schicke Haavard eine Textnachricht: Könnte ich vielleicht ein paar Tage länger hierbleiben ?
Für meine Verhältnisse ist das eine regelrecht demütige Anfrage. Es wäre einfach gut, hier noch etwas mehr Zeit zu haben.
Im Obergeschoss sind die Zimmerdecken niedrig, die Blockbohlenwände gelb gestrichen. Am Boden grüne Flickenteppiche, von Großmutter gewebt. Unter der Dachschräge alte Kisten.
Zuerst gehe ich in Lars’ Zimmer. Alles ist hier unverändert geblieben. Vater und ich finden das beide richtig so, aber ich glaube nicht, dass er jemals hier reinkommt. Wenn Gäste im Haus sind, wird das Zimmer abgesperrt. Ich setze mich aufs Bett, nehme Lars’ Stoffbären, Teddy Colargol, drücke ihn fest an mich und singe. Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein’n Fuß, hat ’nen Zettel im Schnabel, von der Mutter ein’n Gruß …
Das Lied habe ich ihm immer vorgesungen, jeden Abend um acht.
Sein Spielzeug. Die Lego Feuerwache. Das Schaukelpferd. Die Federmappe auf dem Pult, bereit für den Schulbeginn. Die Plakate mit den Vogelarten. Ich schnuppere an dem Teddybären, halte die Nase dicht über das Kissen. Ein alter, staubiger Geruch. Jetzt bereue ich, dass ich hier reingegangen bin. Ich lege den Teddy wieder hin und gehe in mein Zimmer rüber, wo ich das Fenster aufmache und die frische Abendluft reinlasse.
Dann ziehe ich die oberste knarrende Kommodenschublade auf und nehme das Lederband mit dem Nagel daran raus, halte es mir an den Hals und betrachte mich in dem kleinen Spiegel über der Kommode, der so alt ist, dass mein Gesicht ganz verzerrt erscheint.
Mein Telefon piept.
Muss zum Kurs nach Lysebu, hab niemanden, der einspringen kann. Verlasse mich drauf, dass du zurückkommst wie verabredet.
Ich lege das Telefon beiseite, ohne zu antworten.
Draußen ist jetzt alles still, sogar die Schafe. Das Rauschen des Flusses ist das einzige Geräusch, besonders laut in diesem Jahr wegen der raschen Schneeschmelze in den Bergen.
Ich ziehe mich aus und nehme die gehäkelte Tagesdecke vom Bett. Darunter liegt die blaue Bettdecke mit den weißen Wolken darauf, die hatte ich früher am liebsten.
Clara im Himmel, sagte Vater immer, wenn er mich damit zudeckte. Schlaf süß, sagte er dann noch und küsste mich auf die Stirn.
Ich schlief immer fest, bis seine Schreie mich weckten.
Aber heute Nacht werde ich nicht schlafen.