18 – Haavard

Ich sitze mit der Zeitung und einem Cortado vor dem Café Java im Ullevålsvei auf einer Bank, den Rücken an die verputzte Wand gelehnt. Mein Rad habe ich an einem Laternenmast angeschlossen, fröhliche Leute in Sommerkleidung führen ihre neuen Sonnenbrillen aus. Es ist wie früher, am Übergang zwischen Jugend und Erwachsensein. Ein paar Jahre haben Clara und ich hier ganz in der Nähe gewohnt, in einem der englischen Häuser im Geitmyrsvei.

Es ist zwei Uhr nachmittags, die Besprechung in unserer Abteilung ist seit einer halben Stunde zu Ende. Bis ich die Jungs von der Schule abholen muss, ist es noch ein paar Stunden hin, aber ich habe mir für den Rest des Tages freigenommen und bin fest entschlossen, nicht ins Büro zurückzugehen. Ich will den Kopf freikriegen, mir eine Strategie zurechtlegen, wie ich künftig mit Meldungen von verletzten Kindern umgehen will.

In den Nachrichten im Netz ist die Sache mit Mukhtar Ahmad noch weiter nach unten gerückt.

Die Polizei habe zwischen den Gebetsteppichen eine Patronenhülse entdeckt, heißt es, anhand derer sie zusammen mit den Kugeln aus Ahmads Körper möglicherweise auf den benutzten Waffentypus schließen könne.

Der Zeitpunkt des Todes ist auf das Intervall zwischen 22 Uhr 15 und 22 Uhr 20 festgesetzt worden, das ergibt sich teils aus der Erklärung des Wachmanns, teils aus der von den Gerichtsmedizinern gemessenen Körpertemperatur.

Dass jemand Ahmad folgte und einen Schalldämpfer bei dem Mord verwendete, deute einerseits auf eine geplante Tat hin, die möglicherweise mit den Kreisen zu tun hat, in denen er sich bewegte. Andererseits konnte niemand wissen, dass er an dem Abend den Gebetsraum der Klinik benutzen würde. Niemand außer uns. War der Mord doch im Affekt geschehen? Es sei zu früh, um sichere Aussagen darüber zu treffen, heißt es.

Ich brauche noch einen Kaffee, fühle mich plötzlich benommen und matt. Gerade will ich aufstehen, um drinnen zu bestellen, da erscheint in der Tür des Cafés im Nebenhaus ein vertrautes Gesicht.

Sabiya.

In den Händen trägt sie ein Tablett mit zwei Kaffee und einer Papiertüte mit der Aufschrift Pascal , sie hält die Tür mit dem Ellbogen auf.

Warum ist sie nicht bei der Arbeit, jetzt mitten am Tag?

Gerade will ich ihr zuwinken – unter Kollegen kann man das ja tun –, da tritt ein Mann, der offenbar draußen auf sie gewartet hat, auf sie zu.

Er küsst sie, nimmt einen der beiden Kaffeebecher.

Ein Pakistaner, in meinem Alter oder etwas jünger. Schlank, fast schockierend gut aussehend, dunkler Anzug, weißes Hemd. Sabiya trägt enge, anthrazitfarbene Jeans, hohe Absätze, eine weiße Anzugjacke.

Was für ein schönes Paar.

Ich erkenne ihn von dem Familienfoto auf ihrem Schreibtisch. Aber seine Augen sind nicht hart und falsch, wie ich dachte. Im Gegenteil, sie sind lebhaft, warm, humorvoll.

Mir ist, als hätte mich jemand geschlagen. Ich ducke mich auf der Bank, spüre den rauen Putz durch mein dünnes Hemd.

Sabiya wirft das Papptablett in einen Mülleimer vor dem Café, sie hätte es gar nicht gebraucht. Dann gehen sie schräg über die Straße, jeder seinen Kaffeebecher in der Hand. Der Typ legt ihr den Arm um die Schultern, sie blickt zu ihm auf, sie lachen.

In mir dreht sich alles um. Am liebsten würde ich sie packen, sie fragen, was sie da treibt, warum sie mir ihren Mann als eine Art Monster hingestellt hat, und jetzt sehen sie beide einfach nur rundum glücklich aus?

Aber ich bleibe still sitzen.

Sie setzen sich in einen weißen Tesla, eine fette, glänzende Schildkröte von Auto, es steht auf der Straßenseite, auf der auch der Park liegt. Sie hinters Steuer, er geht um den Wagen zur Beifahrertür. Und dann blinkt sie und rollt los, auf den Ullevålsvei. Sie verschwinden lautlos bergan.

Ich sitze da und muss an eine Situation im Winter denken. An die Pistole, die sie mir damals gezeigt hat; sie bewahrte sie in einer abgeschlossenen Schublade im Büro auf. Und erzählte zur Erklärung etwas über ihren verrückten, wahnsinnig eifersüchtigen Mann. Das hatte mich so mitgenommen, dass ich sogar Clara davon erzählte, als ich nach Hause kam.

Natürlich hatte ich verlangt, dass Sabiya die Glock aus unserem Büro entfernte.

Aber kontrolliert hatte ich es nicht.

Eine Möwe kommt die Straße heruntergeflogen, aus der Richtung, wo sich früher vor einer Art kleinem Teich ein Zeitungslädchen und eine Taxihaltestelle befanden. Die Möwe kreischt wie irre, dreht ein paar Kreise über der Straße bis über den Bürgersteig vor mir, kackt einen langen weißen Spritzer auf meinen Fahrradsattel und fliegt wieder von dannen, immer noch mit schrillen Schreien.

Sabiya verbirgt etwas vor mir. Es gibt einen Teil von ihrem Leben, von dem ich nichts weiß und der nicht mit dem Bild von der um ihr Leben fürchtenden, unterdrückten Hausfrau zusammenpasst, die kaum allein vor die Tür darf.

Wenn sie hier lügt, wo lügt sie dann noch?

Immer noch habe ich über zwei Stunden, bis ich die Jungs abholen muss. Da kann ich genauso gut ins Büro fahren und herauszufinden versuchen, warum Sabiya heute nicht dort ist. Aber als Erstes muss ich mir eine Serviette besorgen und meinen Sattel abwischen.


Das Licht in meinem Büro ist aus. Ich schalte den PC an, rufe Sabiyas Kalender auf. Da steht nur »Besprechung« von 12 Uhr 30 bis 15 Uhr. Ich müsste an meinem Artikel arbeiten oder an der Meldung über Faisals Fall, bin aber innerlich zu unruhig. Mein Arbeitstag ist bald vorbei, ich fange besser morgen mit frischem Kopf neu an.

Vor dem Espresso House treffe ich Bente, fröhlich und energiegeladen wie immer, sie setzt sich gerade hin, einen Cappuccino mit Herz darauf vor sich.

Ich habe eine Idee. Eine schamlose Idee.

»Hallo!« Ich breite die Arme aus. »Bente! Dich habe ich gerade gesucht.«

Sie wird rot.

»Hast du schon eine Verabredung oder hast du Zeit, dass ich mich ein bisschen zu dir setze?«

»Dazu kann ich ja kaum Nein sagen«, meint sie, kokett wie ein junges Mädchen.

Ein romantischer Ort ist das hier nicht unbedingt. Im Gegenteil, das Espresso House auf dem Krankenhausgelände ist ziemlich beklemmend. Hier sitzen Frauen, denen die Haare ausgefallen sind, und genießen einen kurzen Moment der Normalität.

Kaffee. Milchschaum. Musik. Heizpilze und Fleece­decken. Stimmengewirr. Das wirkliche Leben, sozusagen.

Noch mehr Kaffee geht heute nicht, ich bestelle mir einen grünen Smoothie. Bente schlürft vorsichtig den Milchschaum von ihrem Cappuccino. Ihre Augen sind hinter einer großen Ray Ban verborgen, aber darunter lächelt sie verschmitzt flirtend. Als frühere Handballspielerin ist sie immer noch durchtrainiert, schlagfertig, sie hat Sommersprossen und von der Sonne gebleichtes halblanges Haar.

Wirklich hübsch ist sie. Sehr natürlich. Ganz anders als meine beiden Frauen. Es wäre wahrscheinlich ziemlich unkompliziert, mit ihr zusammen zu sein, und sie dürfte Überraschungen zu bieten haben, eine Tigerin im Bett, zupackend wie auf dem Handballfeld.

»Besonders viel Zeit habe ich leider nicht«, sagt Bente. »Ich habe die Kinder zu Hause. Es ist nicht ideal. Ich sollte eher in einer Arztpraxis arbeiten, aber das bringe ich nicht über mich, so was von monoton …«

Ich nicke verständnisvoll.

»Clara ist in Westnorwegen, ich bin ein paar Tage alleine mit meinen Jungs, das reicht mir völlig. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du das hinkriegst.«

Ein paar Tage allein mit den Kindern, mehr braucht es nicht, um bei den Frauen Eindruck zu schinden.

»Ich weiß es auch nicht.« Sie lacht kurz.

»Hör mal«, fange ich an, »an sich hätte ich etwas mit Sabiya besprechen wollen, aber sie ist nicht im Büro. Hast du sie gesehen?«

»Nope. Die junge Frau geht sowieso gern ihre eigenen Wege, weißt du«, sagt sie mit einem etwas schiefen Lächeln.

»Wie meinst du das?«

»Wir sind in Grünerløkka zusammen zur Schule gegangen. Habe ich das nicht erzählt?«

Ich schüttele den Kopf.

»Und Sabiya auch nicht?«

»Nicht, dass ich wüsste«, sage ich, obwohl sie beide schon darüber geredet haben. Mehrmals.

»Okay.« Bente wirkt ein wenig enttäuscht. »Ist ja auch egal, wir waren jedenfalls so gut wie Nachbarinnen. Aber nie befreundet. Ehrlich gesagt, hab ich den Mund kaum wieder zugekriegt, als sie hier als Ärztin aufgetaucht ist …«

»Warum? Werden die wohlgeratenen Pakistanerinnen nicht mehr oder weniger alle Ärztinnen?«

»Ja, schon.« Sie lacht, nimmt einen Schluck Kaffee, schabt mit dem Löffel den Rest Schaum vom Rand der Tasse. »Aber damals hat keiner von uns Sabiya als besonders wohlgeraten angesehen. Superschlau, das schon, immer gut in der Schule. Aber sie stand irgendwie auf der anderen Seite, ist immer mit Typen von so einer Gang rumgehangen, verstehst du?«

»Nicht so ganz«, sage ich lächelnd. »Wir hatten zwei Kinder von Immigranten in der Klasse. Den Sohn des portugiesi­schen Botschafters, der Vater von dem anderen, ein Engländer, war der Chef der Hauptstadtniederlassung von Statoil.«

»Ja, also, in der Mittelschule lief Sabiya immer mit Baggy Pants und Hoodies rum, die so weit waren, als wollte sie darin ertrinken. Hat immer mit den schlimmsten Typen zusammengesteckt. Wir braven Mädchen hatten ziemlich Angst vor ihr.«

»Angst vor einer, die nur 1,55 groß ist?«, lache ich.

»Ja, natürlich. Die sind immer im Zentrum rumgehangen, in der Arkade oder vor Oslo City. An den üblichen Orten eben. Einmal hatte eine gambische Freundin von mir mit einem Marokkaner rumgeknutscht, mit dem Sabiya was laufen hatte. Meine Freundin, Jeannette, war mindestens eins achtzig groß und sah aus, als ob sie direkt vom Olympiafinale über hundert Meter kommen würde. Aber das netteste Mädchen der Welt. Wir waren ja Handballfreundinnen. Übrigens ist sie jetzt bei uns Krankenschwester. Egal, nach der Schule ist Sabiya bei ihr aufgekreuzt. Um sie zur Rede zu stellen, dachte Jeannette.«

»Und?«

»Stattdessen hat Sabiya sie einfach angesprungen und mit einem Kopfstoß zu Boden geschickt.«

»Wahnsinn!«

»Die Frau war schon immer so aufbrausend, wahrscheinlich kann sie es heute nur besser verbergen. Mir gegenüber war sie ziemlich kühl, als sie hier anfing, vielleicht empfand sie es als Bedrohung, dass ich sie von früher her kannte. Eigentlich frage ich mich, ob der Typ, der gestern hier erschossen wurde, nicht aus denselben Kreisen stammte.«

Sie blickt kurz auf ihre Uhr. »Shit, ich muss los, wenn ich pünktlich im Kindergarten sein will, ich muss bis raus nach Oppsal, weißt du.«

»Geht mir ähnlich, ich muss die Jungs bald aus der Aktivitätsschule abholen, sie kommen gern etwas früher nach Hause. Wir können ja bald wieder einen Kaffee zusammen trinken«, schlage ich vor, als sie aufsteht.

»Oh, gern.« Sie strahlt.

Ich stehe ebenfalls auf, als ob ich sie umarmen wollte, halte sie bei beiden Schultern und küsse sie auf die Wange.

»Na, also wirklich.« Sie lächelt kokett, verschwindet dann mit raschen Krankenschwesternschritten die Treppe hinauf.

Nach zwanzig Metern dreht sie sich um, winkt mir zu. Ich winke zurück.