Ich habe die ganze Nacht über gegrübelt. Um fünf Uhr morgens stehe ich auf. Entschlossen.
Zu Agnes sind es eineinhalb Stunden Fahrt.
Zuerst wieder mit der Fähre über den Fjord. Dasselbe Schiff, derselbe Kartenverkäufer. Er grüßt mich freundlich. Ich sage so wenig wie möglich. Überlege, ob ich gleich im Auto sitzen bleiben soll, aber es ist doch ein Ritual, während der Fahrt ins Wasser zu schauen. Also steige ich aus und stelle mich an die Reling.
Beim Pflegeheim angekommen, bleibe ich noch eine Weile im Auto sitzen, mache längere Zeit Atemübungen. Dann steige ich aus und blicke auf den steil aufragenden schwarzen Berg direkt hinter dem Heim. Der Himmel darüber ist knallblau. Ein Flugzeug hinterlässt einen weißen Kondensstreifen, mir fällt ein, wie ich als Kind immer darüber fantasierte, wo die Flugzeuge herkamen, wo sie hinwollten, wer darin saß.
Ich habe wirklich keine Lust reinzugehen.
Mein ganzer Körper ist verspannt, will sich weigern.
Und ich habe Vater versprochen, es nicht zu tun.
Trotzdem, ich muss. Und zwar jetzt , ich muss es hinter mich bringen.
»Clara! Du lieber Himmel! Das ist aber lange her«, sagt die Frau am Empfang, ganz offenbar kennt sie mich.
Ich schiele auf das Namensschild an ihrer Brust.
Bodil heißt sie, hat kurzes dunkles Haar, es ist grell und auffällig gefärbt, asymmetrisch geschnitten. An jedem Ohr mehrere goldene Kreolen. Künstliche Bräune aus dem Solarstudio, dreißig, vierzig Kilo Übergewicht. Fette Schenkel in der weißen Hose. Ein paar verblasste graublaue Tattoos auf den braunen Unterarmen.
Sind wir vielleicht zusammen zur Schule gegangen? Aufs Gymnasium?
Sie sieht aus wie eine Oma von bald sechzig Jahren, aber das gilt für viele Frauen um die vierzig hier. Ich habe mich schon oft gefragt, woran es liegen mag, dass die Hiesigen so viel älter wirken als die meisten Gleichaltrigen in Oslo. Aber wenn Haavard das erwähnt, protestiere ich immer.
»Sage mal, ich glaube fast, du bist noch nie hier gewesen, oder?« Sie schaut auf ihren Block.
»Nein.« Ich habe nicht vor, dieser Frau irgendwelche Erklärungen zu liefern.
»Agnes wohnt in einem separaten Gebäude für Langzeitpatienten. Gleich nebenan. Komm, ich bringe dich hin.« Sie geht energisch los, in weißen Joggingschuhen. »Deine Mutter ist nicht unbedingt an Besuch gewöhnt. Sie steht unter ziemlich starken Medikamenten, ist meistens ruhig, um nicht zu sagen apathisch. Wahrscheinlich wird sie nicht besonders viel sagen. Aber immerhin, sie redet wieder, das ist ganz unglaublich, keiner hier hätte gedacht, dass das jemals passiert …«
Ich erwidere nichts, und auch Bodil verstummt.
Der Flur riecht nach Arznei und Putzmitteln, ich sehne mich nach dem Balkon zu Hause, nach den Glocken
der Schafe, Vogelzwitschern und dem Rauschen des Flusses.
Aber jetzt muss ich da rein. Ein bisschen bleiben. Wieder fahren.
Bodil zieht ihre Karte durch das Lesegerät an der Tür zum Nebengebäude. Hier riecht es frisch gestrichen, und prompt steigt in mir die Übelkeit hoch.
Als ich klein war, kochte Agnes einmal Lamm mit Kohl und strich gleichzeitig die Küche. Das muss in einer manischen Phase gewesen sein. Der Topf mit dem Gericht stand tagelang da, bis er stank, und der Kohlgeruch mischte sich mit den Ausdünstungen der Ölfarbe. Seitdem ist mir beides unerträglich.
»Wir müssen in den ersten Stock.« Bodil geht die Treppe rauf. Oben öffnet sie eine Tür, an der mein Nachname steht, und geht hinein.
Nichts von dem stimmt, was ich mir vorgestellt hatte.
Die fette Frau gibt es nicht.
Vielleicht habe ich nur versucht, Agnes weniger gefährlich zu machen, sich selber weniger ähnlich, damit ich sie wenigstens ansehen kann.
Aber die Frau, die da von ihrem Stuhl aufsteht, hat sich in diesen dreißig Jahren nicht viel verändert. Ihr Haar ist matter, ein feines Netz aus Fältchen liegt wie eine Art fotografischer Filter über ihrem Gesicht, das trotzdem immer noch verblüffend glatt ist. Die Augen haben ihren Glanz verloren, aber sie ist genauso schlank, fast mager wie früher und genauso aufrecht. Ihr Haar fällt immer noch weit auf dem Rücken hinab. Ein langer geblümter Rock und eine weiße Bluse, heute wie damals.
Ob das noch dieselben Kleidungsstücke sind? Oder haben sie genauso welche für sie nachgekauft?
Wie auch immer, es ist, als hätte sie die letzten dreißig Jahre im Schlaf verbracht wie Dornröschen.
Ich bringe kein Wort heraus. Irgendwann sagt sie etwas.
»Ach, du?« Sie setzt eine Art Lächeln auf, sieht mich zwar direkt an, schaut aber durch mich hindurch.
Mir stellen sich die Härchen an den Unterarmen auf. Ich blicke kurz zu Bodil hin.
»Also, ich gehe dann«, sagt die. »Ruft mich an, wenn etwas ist.«
Und sie schließt die Tür hinter sich.
»Ja«, sage ich. »Sollen wir uns hinsetzen?« Ich nicke zu dem kleinen runden Tisch aus Birkenholz hin, der beim Fenster steht, daneben zwei passende Sessel. Und tatsächlich, sie setzt sich hin, ganz vorn auf die Kante. Jetzt glaube ich, etwas wie Hass in ihren blassen Augen lesen zu können.
»Ja, es ist lange her«, setze ich an, während ich mich hinsetze.
Und dann weiß ich nicht weiter.
Ich hatte genau geplant, was ich sagen wollte. Hatte es immer wieder im Kopf wiederholt, in der Nacht, heute früh, während der Fahrt.
Aber jetzt, da ich ihr nach all den Jahren gegenübersitze, bin ich gelähmt.
»Dreißig Jahre, zwei Wochen und drei Tage«, sagt sie, und vor mir tut sich ein Abgrund auf. Ich falte die Hände im Schoß, beuge mich etwas vor, mir ist schwindelig. »Du bist aus Oslo gekommen?« Sie streicht sich das Haar mit der mageren Hand hinters Ohr.
Ich nicke.
»Deine Zwillinge, wie alt sind die jetzt?«, fährt sie fort. »Acht, glaube ich? Immer noch die reine Unschuld …«
Oslo? Zwillinge? Woher hat sie das alles?
Ich räuspere mich, muss versuchen, sie davon abzubringen. »Ich weiß nicht, woran du dich erinnerst …«
»An alles«, sagt sie mit strahlendem Lächeln. »Ich erinnere mich an alles.«
Es verschlägt mir den Atem. Mir ist, als würde ich durch eine Kellerluke tief auf steinharten Boden stürzen. Ich kann nichts sagen, will aufstehen, auch das bringe ich nicht fertig.
Dann schaut sie mich auf einmal erschrocken an.
»Clara …« Sie fingert an dem Alarmknopf herum, der an einem Band um ihren Hals hängt. »Clara mit C.«
Dann sinkt ihr Kinn auf die Brust. Von einer Sekunde auf die andere ist sie wieder diejenige, die sie in den letzten Jahrzehnten war.
»Agnes? Agnes?«, frage ich. Und dann endlich, zögernd: »Mama?«
Es ist mir noch nie natürlich vorgekommen, sie so zu nennen. Mir ist, als hätte ich eine faule Kartoffel im Mund. Agnes schaut mich mit einem verschleierten Blick an.
Ich sitze zehn Sekunden da, zwanzig Sekunden.
Dann stehe ich auf und gehe, ohne sie noch einmal anzusehen.
Im Flur passiert es. Übelkeit. Zittern. Alles kommt hoch. Ich muss stehen bleiben, ich lehne mich an die Wand.
»Alles in Ordnung?«, fragt eine vorbeikommende Pflegerin.
»Ja, natürlich.« Ich richte mich lächelnd wieder auf, gehe weiter, sie soll mich bloß nicht für eine neue Patientin halten.
Aber jetzt bin ich dort. In dem Auto, das über die Straße hinausrast. Wieder und wieder.