Als ich von Agnes zurückkomme, fülle ich einen Putzeimer mit brühheißem Wasser, Salmiak und Schmierseife und mache eine gute Stunde lang intensiv und verbissen sauber. Nehme mir die Fettschicht auf den Küchenschränken und dem Ventilator vor, den Staub unter der Sitzbank im Flur und den Sesseln im Wohnzimmer.
Ihr Anblick geht mir nicht aus dem Sinn. Das welke Gesicht. Die mageren Hände. Der bunte Rock, ebenso verblichen und gealtert wie sie selbst.
Alles viel zu gut wiedererkennbar.
Ich ziehe die kurze schwarze Laufhose an, das ärmellose Shirt, Trainingsjacke und Joggingschuhe, laufe zum Fluss und daran hinauf zum Wasserfall. Es ist steil, ich habe nicht genug trainieren können, während ich an dem Gesetzesvorschlag arbeitete, ich spüre es in den Beinen und an meiner Kondition, aber ich gebe alles, was ich habe, den kurvigen Pfad hinauf, zwischen bemoosten Steinen, Fichtenwald und kleinen Birkenhainen hindurch.
Meine Trainingsuhr loggt mich automatisch bei Strava ein. Aber diese Route hier benutze nur ich allein. Im Dorf sind ein paar Strava-Nutzer, eine Handvoll, und die laufen andere Strecken. Hier laufen nur Haavard und ich mit den Jungs lang, ein paarmal jeden Sommer. Wer zur Sommeralm rauf möchte, muss bei uns über den Hof, und das macht niemand. Außerdem wollen viele lieber mit Quads über die Schotterwege fahren als zu Fuß gehen. Haavard ärgert sich immer darüber, ihm tut es um die unberührte Natur leid, die dadurch zerstört wird. Ich verteidige dann immer die Leute von hier, unter anderem mit dem Argument, Schotterwege seien auch nicht unbedingt unberührte Natur – dabei bin ich eigentlich eher seiner Meinung.
Mir ist alles hier zutiefst vertraut, jeder Meter, jeder Felsspalt und jede dicke Wurzel auf dem Weg, jeder Ameisenhügel und jeder Kletterstein. Die Natur hier ist fast mehr ich als ich selbst. Hier und da muss ich über Baumstämme klettern, die auf den Weg gestürzt sind.
Vater kann dieses Jahr noch nicht hier oben gewesen sein. In den Ferien muss ich mal eine Runde mit der Motorsäge machen und den Weg frei räumen, der wuchert ohnehin von Jahr zu Jahr mehr zu.
Als ich gestern ankam, war es mir sofort aufgefallen.
Die geborstenen Dachplatten, der abplatzende Anstrich am Windfang, die gesprungenen, nur mit Karton notdürftig ersetzten Fensterscheiben, der Eimer oben im Flur, in den es durch das undichte Dach tropft.
Viel zu vieles geht kaputt, der Verfall hat sich im Lauf des letzten Jahres beschleunigt.
Ich muss das anpacken. Aber nicht heute.
Der Wasserfall führt enorm viel Wasser, sein Donnern mischt sich mit dem Pochen meines Blutes, das immer rascher durch meinen Körper strömt. Ich verlange mir alles ab. Ein gutes Stück weiter oben bleibe ich stehen, vornübergebeugt und keuchend. Mir ist, als säße die Milchsäure in jeder einzelnen meiner Zellen.
Nach einer Weile richte ich mich wieder auf und laufe am Almsee entlang zu dem kleinen Strand unterhalb der Käsereihütte, dem kleinen, grauen Häuschen etwas weiter oben am Hang, von dem nur kleine Fenster zum Wasser hinausgehen.
Ich habe hier einen bestimmten Stein, auf dem ich immer Rast mache. Oft sitze ich stundenlang da und blicke ins Wasser, ohne dass es mir zu lang würde. Ich kann mich nicht genug wundern, wie still das Wasser hier liegt und wie wild es nur ein Stück weiter ist, wo sich der dahingleitende Strom in den schäumenden, donnernden Wasserfall verwandelt.
Dann kommt der Wind, ich spüre, wie er mich durchweht.
Nur hier an diesem Strand kann ich mit Lars reden, hier ist er am nächsten.
»Lars?«, flüstere ich. »Heute bin ich bei Agnes gewesen … ja, bei Mutter, du weißt doch.«
»Ui«, antwortet er. »Ist das wirklich gut, Clara?«
»Nein, ich glaube nicht. Es war wohl eher dumm von mir.«
»Weiß Papa das?«
»Nein … das kann ich ihm auch nicht erzählen.«
Klein und niedlich lag Lars in seiner Wiege, fuchtelte mit den Händchen nach mir und lachte glucksend. Ich saß so gern mit ihm auf dem Arm da und schaukelte ihn sacht hin und her. Als er größer wurde, schleppte ich ihn überallhin mit, nach draußen, und erklärte ihm von allem, was wir sahen, wie es hieß. Blume, Lars. Kuh, Lars. Viehstall. Traktor. Rampe. Gras. Papa. Mama. Hofbaum. Schubkarre. Katze.
Ich brachte ihm fast alle Wörter bei, ich hielt ihn an der Hand, als er laufen lernte, ich brachte ihm das Radfahren bei.
Er ist ein dünnes, blondhaariges Kerlchen, seine großen blauen Augen schauen immer ein bisschen überrascht drein, als würde er sich wundern, in was für eine Welt er da geraten ist.
Wenn er gute Laune hat, rennt er mit großen Schritten und lustig rudernden Armen voraus, fast genauso sieht es aus, wenn wir in der Schule den Ententanz tanzen. Und nichts auf der Welt fasziniert ihn mehr als Vögel. Er kennt die Namen von fast allen Arten in Vaters Vogelbuch, und viele erkennt er allein am Ruf.
Nachts macht er öfter ins Bett, obwohl Mama dann schimpft und meint, dafür sei er schon lange zu groß. Zu ihr ins Bett darf er nicht, aber bei mir liegen darf er, wenn er nachts angetapst kommt. Hier oben auf der Alm schlafen wir immer in einem Bett. Und immer singe ich ihm zum Einschlafen etwas vor. Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein’n Fuß, hat ’nen Zettel im Schnabel, von der Mutter ein’n Gruß …
Dann lacht er fröhlich.
Mama nimmt uns oft mit hierher, vor allem jetzt, wo Papa im Libanon ist. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelt, kriege ich einen Schreck, aus Angst, es könnte etwas passiert sein.
Ich wollte nicht, dass er hinfährt. Er hat mir doch jeden Abend aus Jules Verne vorgelesen, hat mich in den Wald mitgenommen, mir die Namen von allen Vögeln und Bäumen beigebracht und dass ich mich, wenn wir uns aus den Augen verlieren sollten, an einem Baum festhalten und nach ihm rufen soll. Er hat mich zur Alm mitgenommen und mich die Berge lieben gelehrt.
Aber dann ist er trotzdem gefahren. Jetzt sind nur noch Mama, Lars und ich hier.
Mama sagt, sie hat Papa wegen der Natur hier geheiratet, dabei bleibt sie meistens im Haus. Wenn wir auf der Alm sind, steigt sie gern auf einen Berg. Dann steht sie auf dem Gipfel und schreit aus vollem Hals, oder sie liegt im Heidekraut und schaut in den Himmel.
In den Himmel atmen, nennt sie das. Dann müssen wir uns fernhalten, dürfen nicht stören.
Wir sammeln immer ein paar Kiefernzapfen und Steine und spielen damit Bauernhof. Ich bin dafür eigentlich zu groß, aber wegen Lars mache ich mit.
Dieser Morgen ist klar und blank, noch liegt Tau auf dem Gras, aber die Sonne scheint schon golden auf den nächsten Gipfel, den, auf dem Mama immer steht und schreit. Bald wird die ganze Alm im Sonnenlicht liegen.
Lars ist schon draußen, er hat mal gemusst. Hier oben pinkeln wir überallhin, es gibt kein Plumpsklo.
Ich trödele etwas rum. Und als ich rauskomme, ist er nicht zu sehen.
»Lars!«, rufe ich. »Lars? – Lars!«
Ich laufe um die Hütte rum, rufe lauter. Mein Herz schlägt schneller, ich renne zur Tür zurück, reiße sie auf. Drei Schlafplätze sind darin, in jeder Ecke einer, bis auf den Ofenwinkel. In dem breitesten und kürzesten Bett schlafen Lars und ich, das längste, in der dunkelsten Ecke, ist Mutters.
»Mama«, rufe ich, »ich kann Lars nicht finden.«
Sie grunzt irgendwas, ich renne wieder hinaus.
Egal, wohin er gegangen ist, von hier aus müsste ich ihn sehen. Er ist wohl beim See unten, er lässt gern Steine springen, aber ich habe ihm eingeschärft, dass er auf keinen Fall ohne mich gehen darf. Er kann noch nicht schwimmen, und es gibt kräftige Strömungen wegen des Wasserfalls.
Ich laufe zu unserem schmalen Strand hinunter, eigentlich nur ein Sandstreifen zwischen Wasser und Wiese.
Im Sand sind frische Stiefelspuren. Und ist da im Wasser nicht ein Schatten zu erkennen?
Im Fernsehen hat mal ein Froschmann erklärt, die Leute würden sich irren, wenn sie denken, dass Kinder auf dem Wasser treiben und genug Zeit ist, sie zu retten, sondern in aller Regel würden Kinder um Hilfe rufen, dabei Wasser in die Lungen bekommen und dann untergehen wie ein Stein.
Jetzt versuche ich mich zu erinnern, was ich gelernt habe.
Tief atmen. Ein. Aus. Ein. Aus.
Ich zerre mir die Jacke vom Leib, schleudere die Schuhe weg, atme noch einmal tief ein und springe. Schlammige Schlieren steigen vom Grund auf. Da hinten ist dieser Schatten. Meine Augen brennen. Ich muss sie schließen, wieder aufmachen. Ja, das ist Lars, mein kleiner Bruder, am Grund des Sees. Aber er sieht mich nicht, treibt mit der Strömung ab.
Und bald muss ich Luft holen. Ich mache die Augen auf, schwimme zu Lars hin. Jetzt bin ich nah dran, kann ihn fast mit der Hand erreichen. Da wird er von mir weggezogen, aber ich mache ein paar feste Beinschläge, kann den Arm um ihn legen. Er strampelt.
Die Strömung zieht uns zum Wasserfall. Nicht mehr weit, und wir verschwinden in dem weißen Getöse. Da fällt mir etwas ein, das Papa erzählt hat.
Am Boden ist die Strömung schwächer. Ich lege Lars den Arm um den Hals, strampele gleichzeitig nach unten und seitwärts, versuche, mir mit dem freien Arm zu helfen, so gut es geht.
Nach unten und seitwärts.
Der Sog lässt ein bisschen nach. Gleich unter uns ist der Boden des Sees, mit Algen und Schlamm, mit den Zehen berühre ich schon etwas. Aber jetzt muss ich Luft holen. Noch ein bisschen weiter, zur Seite, zur Seite, und immer unten bleiben, unten. Wir scheinen uns dem Ufer zu nähern. Breit ist er nicht, der See, nur tief und voller Strömung.
Lars ist schwer in meinem Arm. Aber wir müssen hoch, hoch, hoch.
So, geschafft, ich krieche an Land. Ich huste, räuspere mich, mache die Augen auf. Mir ist schwindlig, alles dreht sich. Ich muss mich kurz hinlegen, setze mich dann wieder auf.
Lars liegt neben mir. Lebt er? Atmet er? Ich knie mich neben ihn, drehe ihn auf den Rücken, blase ihm Luft in den Mund, drücke auf seinen Brustkorb. Ich puste und drücke, puste und drücke. Immer wieder.
»Ich muss gehen.« Jetzt legt er mir die Arme um die Schultern, drückt mich.
»Bleib noch ein bisschen, Lars«, bitte ich ihn.
»Tut mir leid, ich kann nicht.«
Etwas wie ein Windhauch durchzieht den Körper. Dann ist Lars weg. Ich stehe auf, wische mir den Sand ab. Die Milchsäure hat sich abgebaut.
Ich drehe eine Runde um die Käsereihütte, alles scheint in Ordnung zu sein.
Ich komme nicht rein, denn ich habe keinen Schlüssel dabei, kann nur die Hände flach an die Wand legen und mich anlehnen, ein paar Sekunden lang.
Mein Urgroßvater hat die Blockhütte errichtet. Das Holz ist über hundert Jahre alt.
Wind und Wetter, Frost und Hitze, Sommer und Winter all diese Jahre haben das Holz der Verschalungsbretter verwittern lassen, die harte Maserung tritt hervor. Sie drückt sich in meine Handflächen. Das alte Haus und ich, wir werden geradezu eins miteinander.
Kurz stehe ich da, spüre im toten, grauen Holz meinen Puls. All die Jahresringe, sie pochen in meiner Hand.
Dann stehe ich auf und gehe wieder runter.