25 – Clara

Es ist Punkt acht Uhr, als ich an ihre offene Tür klopfe.

Mona sieht es gern, wenn wir pünktlich sind. Nicht eine Minute früher oder später, sondern auf den Schlag. Ein Gerücht besagt, sie hätte den Anfang der Abteilungsleiterrunde auf 12 Uhr 05 festgesetzt, damit niemand fünf Minuten zu spät kommt. Jetzt erscheinen alle Schlag 12 Uhr 05.

»Hallo, Clara. Mach ruhig die Tür zu.«

Könntest du um 8.00 bei mir reinschauen, wenn du dann hier bist? , so stand es im Betreff der E-Mail vor einer Stunde.

In der E-Mail selbst nur ihre Signatur.

Mona Falkum, Ministerialdirektorin.


Als ich den Job hier antrat, kam ich direkt von der Universität, hatte aber Konkurrenten mit deutlich mehr Erfahrung aus dem Feld geschlagen. Offenbar war es mir gelungen, persönlich einen guten Eindruck zu machen, womit auch immer.

Anfangs bemühte ich mich, am sozialen Leben des Ministeriums teilzunehmen, mein Abteilungsleiter hatte mir geflüstert, das sei klug. Freitags nahm ich an dem Mittagessen mit Weinlotterie teil oder ging mit auf ein Feierabendbier in der Kneipe Justisen , ich meldete mich freiwillig zur Langlaufstaffel am Holmenkollen mit Kollegen in mehr oder minder schlechter Form und mit schwach ausgeprägtem Wettbewerbsinstinkt, es ging ihnen vor allem um das Bier hinterher auf dem Youngstorg.

Das ließ ich aber bald wieder sein.

Stattdessen bemühte ich mich, als Erste zu kommen und als Letzte zu gehen.

Ich nahm Akten mit nach Hause und las sie im Bett. Die Zusammenhänge und Lösungen, die ich auf diese Weise erkannte, trug ich am nächsten Tag meinem Chef vor.

Er lächelte. »Ja. So kann man es sehen. In der Theorie. In der Praxis gibt es da ein paar Hindernisse.«

Gefolgt von einem fünfzehnminütigen Monolog.

Danach versuchte ich es bei ausgewählten Kollegen. Sie setzten dasselbe Lächeln auf, das besagte: Du kommst schon noch drauf. Ich dachte, wenn ich meinen Argumenten noch mehr Gewicht verleihen, sie besser vortragen würde, dann würden die Leute begreifen. Meine Arbeit erledigte ich derweil zuverlässig und genau.

Referent in einem Ministerium zu sein, das ist, als wolle man sich durch einen undurchdringlichen Wald kämpfen. Man bewegt sich ein wenig nach hier, ein wenig nach dort, versucht hier einen Pfad und da einen, gerät aber immer wieder ins Unterholz, ständig verlieren sich Wege im Nichts.

Bis auf einmal fünfzehn Jahre vergangen sind und einem klar wird, dass man so gut wie nichts bewirkt hat.


Mona sitzt mit rotem Gesicht hinter ihrem Schreibtisch, einen angespannten Zug um den Mund. Ihr raspelkurz geschnittenes silbergraues Haar erinnert mich immer an Q, die Chefin von James Bond. Schwarze Jacke, verziert mit einer kunstvollen Silberbrosche. Broschen sind ihr Markenzeichen.

»Munch war hier und hat mir von seinen Plänen für dich erzählt«, eröffnet sie das Gespräch, als ich mich gesetzt habe.

»Ah …«, erwidere ich abwartend. Bevor ich etwas sage, will ich erst hören, was genau sie weiß, schließlich hat sie mich hierhergerufen.

»Du willst doch hoffentlich nicht im Ernst Staatssekretärin werden?«

Sie betont jede einzelne Silbe des Titels.

»Ich weiß nicht«, antworte ich wahrheitsgemäß.

Als Munch mir sein Angebot machte, klang es mir erst lächerlich, wie ein Scherz in den Ohren. Mittlerweile gefällt mir die Vorstellung aber. Als ich aus Westnorwegen zurückgekommen war, fragte ich ihn, ob sein Angebot noch stehe. Ja, vorläufig.

Das Amt als Staatssekretärin wäre natürlich die Chance auf sehr viel mehr Einfluss, als ich bisher hatte.

Außerdem wäre es etwas Neues. Ich mache gern etwas anderes als andere, etwas, das niemand von mir erwartet.

Zwar ist Munchs Partei eigentlich nicht meine Sache.

Aber vielleicht kann ich sie von innen her verändern. Vielleicht wäre das effektiver als alle Bürokratie der Welt.

Mona lacht versuchsweise entwaffnend.

»Clara, du bist eine meiner besten Mitarbeiterinnen. Falls du aufhörst, um …«

Sie sucht nach dem richtigen Wort.

»… um to the dark side überzulaufen?« Ich lächle leicht.

»So was in der Art, ja … Wirklich, ich kann nicht begreifen, dass es da überhaupt etwas zu überlegen gibt für dich. Nach fünfzehn Jahren in der Verwaltung? Politikerin werden …?«

In ihrer Stimme liegt eine Verachtung wie nur bei echten Topbürokraten, wenn es wirklich brennt. Sonst tun immer alle so, als würden sie einander respektieren.

»Ich weiß, du hast hart für diesen Gesetzesvorschlag gearbeitet, aber die Zeit war nicht reif dafür. Da hilft es nichts, wenn du die Seiten wechselst, so läuft das nicht. Ja, stimmt, das hat es schon gegeben. Aber besonders geglückt ist es nie.«

»Nein?« Vor allem will ich zeigen, dass ich zuhöre, aber die Reaktion gießt Öl ins Feuer, scheint sie nur noch anzustacheln.

»Inger Luise Valle, die war auch Juristin und wurde auf einmal Justizministerin. Um dann zur Kommunalministerin degradiert zu werden und ihren Abschied zu nehmen. Anne Holt gab ihr Amt als Justizministerin auf, um Krimis zu schreiben. Staatssekretär Haktor Helland war zuvor Abteilungsleiter im Kinder- und Gleichstellungsministerium gewesen, und dann ging er im Kuddelmuddel um Rød-Larsen mit unter. So ein Wechsel ist auch gesellschaftlich kein besonders sinnvoller Schachzug.«

»Aha?«, meine ich. »Ich lege nicht notwendig so viel Wert darauf …«

»… was die Leute von dir denken?«, ergänzt sie meinen Satz mit einem Seufzen, und dann lächeln wir beide tatsächlich ein wenig. »Worauf legst du denn Wert?«

»Ich will etwas tun. Etwas erreichen, irgendwie«, sage ich.

»Herrgott noch mal«, platzt sie da heraus, jetzt wirklich verärgert, das ist ihr anzusehen. »Denkst du etwa, das wollen nicht alle hier? Und denkst du, als Munchs Handlangerin wird dir das gelingen?«

Sie lehnt sich in ihrem Sessel zurück, als wollte sie mich besser betrachten.

Mona Falkum ist wohl auch nicht nur sympathisch. Und sie hat jedenfalls eine eigene Agenda.

Sie redet weiter, als ob sie meine Gedanken gelesen hätte.

»Sympathische Menschen gelangen nicht unbedingt in Führungspositionen, vergiss das nicht. Anton Munch hat deinen Gesetzesvorschlag gestoppt. Und was, wenn er eines schönen Tages als Minister aufhört? Ja, ich sollte so etwas vielleicht nicht sagen, aber ich weiß, du bist verschwiegen. Munch ist schon effektiv und scheinbar jemand, mit dem man zusammenarbeiten kann. Aber ich kenne ihn besser als du und deine Kollegen, und ich habe da meine eigene Meinung. Du solltest ihm nicht allzu sehr vertrauen. Er hat auch verborgene Seiten. Verstehst du?«

Ich nicke.

Jetzt kommt Mona sogar um ihren Schreibtisch herum und legt mir die Hand auf die Schulter.

»Clara … Wenn du es dir anders überlegst, vergesse ich das Ganze. Man soll den Dingen nicht vorgreifen, aber bei euch wird ja bald die Stellung als Abteilungsleiterin frei. Ich habe da ein Wörtchen mitzureden. Also falls du nicht die Seiten wechselst …« Sie blickt mich vielsagend an.

Ich antworte nicht, weiß nicht, was ich sagen soll.

»Versprich mir, dass du wenigstens darüber nachdenkst, ja?«

»Darüber nachdenken werde ich auf jeden Fall«, sage ich wie ein Echo meiner Antwort an Munch neulich, und ich stehe auf.