Die Jungs haben den Rasensprenger unter dem Trampolin aufgebaut. Jetzt springen sie im Sprühregen, der durch die Sprungfläche spritzt, sie hüpfen auf und ab wie fröhliche Delfine, schlagen Salto rückwärts und vorwärts, sie jubeln und lachen. Die Sonne bildet Regenbögen.
Die kleinen Körper in der Sonne, im Wasser, schön wie Skulpturen, so voller Zukunft.
Es kommt mir vor, als würden sie Tag für Tag zusehends in die Länge wachsen. Und zugleich ist es immer noch so, als wären sie gerade eben zur Welt gekommen.
Wider besseres Wissen versuchte ich damals bei der Geburt, Claras Hand zu halten, ihr einen feuchten Lappen auf die Stirn zu legen, mit ihr zu atmen, all das. Aber sie wedelte mich nur einfach weg. Stark wie immer. Wenn sie bei irgendwas keine Hilfe brauchte, dann beim Atmen. Das hatte sie seit jeher trainiert.
»Wo liegen die Schmerzen auf einer Skala von eins bis zehn?«, erkundigte sich die Hebamme, als der Muttermund sich binnen einer Stunde von zwei auf acht Zentimeter geweitet hatte.
»Fünf vielleicht?«, meinte Clara.
»Du hast offenbar eine hohe Schmerzschwelle«, sagte die Hebamme.
Clara zuckte bloß mit den Schultern.
»Ja, hat sie, auf jeden Fall«, sagte ich, ich hatte den Eindruck, ich müsste etwas beisteuern. Aber kaum, dass es raus war, bereute ich es, denn mir war, als hätte ich das schlanke, lange Wesen mit diesem Riesenbauch in der Mitte jetzt doch überfordert.
Es wirkte, als wäre es für sie das Schlimmste von allem, nackt dazuliegen, abhängig von Ärzten und Hebammen und mir. Vielleicht gab sie deswegen während der ganzen Geburt keinen Laut von sich, obwohl sie darauf bestand, die Babys ohne Epiduralanästhesie zur Welt zu bringen, im Gegensatz zu sämtlichen Richtlinien für Zwillingsgeburten.
Einmal oder zweimal stöhnen. Sonst nichts. Kein Wort, kein Schrei.
Es erinnerte in nichts an die Geburten, die ich als Student oder während meiner Schichten mitbekommen hatte.
Als ich gestern nach Lysebu hochfuhr, war ich voller frühlingshafter Erwartung und Vorfreude. Zu Hause war alles okay, Clara hielt die Stellung, ich kam mit meinem Projekt voran, und mich erwartete ein ganzer Tag zusammen mit Sabiya – Faisal und Mukhtar Ahmad waren ein wenig in die Ferne gerückt.
Und jetzt war das alles zusammengebrochen.
Ich sehe das Wasser, die Blätter an den Büschen flattern im Sprühregen, die Sonne stiehlt sich zwischen den Zweigen hindurch, doch all das sehe ich wie durch Nebel.
Und das Spritzen, das Lachen, das Knarren des Trampolins, all diese Sommerlaute höre ich wie aus großer Entfernung.
Über all dem Schönen, Harmonischen, Vertrauten liegt etwas Unheilverheißendes. Der Kontrast zu all dem, womit ich mich in den letzten Wochen beschäftigt, was ich im Lauf der letzten Jahre zu sehen bekommen habe, ist einfach zu groß, das Ausmaß all dessen wird mir jetzt erst bewusst.
Und da fällt mir eine Zeile aus einem schwedischen Gedicht ein.
Ich glaube, es ist von Pär Lagerkvist.
Alles ist mein, alles wird mir genommen, schon bald wird mir alles genommen.
Dieses Gefühl, Zusammenhänge einfangen zu müssen, genau wie die winzigen Fische, nach denen die Jungs im Sommer beim Baden keschern und die ihnen immer wieder entwischen.
Es ist so viel Bosheit in der Welt.
Doch wer ist dafür eigentlich verantwortlich? Derjenige, der Kinder halb zu Tode prügelt oder gleich ganz? Oder diejenigen, von denen diese Leute umgebracht werden? Beide? Kann in solchen Fällen der Zweck die Mittel heiligen?
Jemanden zu töten, der getötet oder verletzt hat, ist das zu rechtfertigen?
Jetzt liegt Andreas rücklings auf dem Trampolin, versucht, einen Ball zwischen den Füßen zu jonglieren. Nikolai füllt Wasser in den kleinen aufblasbaren Pool, eigentlich ist das ein Mistding aus Plastik, Großvater Leif hat es ihnen zum Geburtstag geschenkt. Ich habe die Nase darüber gerümpft, aber ihnen gefällt es natürlich.
Und jetzt wetteifern sie darum, wer am längsten die Luft anhalten kann, das machen sie, seit sie drei Jahre alt waren oder so. Unglaublich, wie lange sie unter Wasser bleiben können.
»Hattest du Nachtschicht?« Andreas schaut mich mitleidig an, er sieht wohl, wie müde ich bin. Ich schüttele den Kopf.
»Nein, ich war nur zu einem Workshop mit meiner Station. Und hab im Hotel schlecht geschlafen.«
Heute sitzen wir ausnahmsweise mal alle vier zusammen am Abendessenstisch. Clara ist nach Hause gekommen und hat das Essen vorbereitet. Mein Beitrag bestand im Großen und Ganzen darin, den Tisch zu decken und von dem erneuten Mord zu berichten.
Es gibt Lachs mit Spinat, eines von Claras Standardgerichten.
Clara kocht nicht gern, ich glaube, sie atmet jedes Mal erleichtert auf, wenn sie etwas auf den Tisch gebracht hat und den Punkt auf ihrer inneren To-do-Liste abhaken kann. Auf Lachs ist sie seltsamerweise besonders stolz, als hätte sie nicht längst mitbekommen, dass Zuchtlachs nicht gerade gesund ist.
Wie immer hat sie den Fisch zu stark angebraten, er ist angebrannt und fällt auseinander, innen ist das rosa Fleisch noch glänzend rot. Die Kartoffelstücke schwimmen im Öl. Der Spinat ist schlapp und jämmerlich. Ich muss mir Mühe geben, nichts zu sagen.
»Bäh, ich mag keinen Lachs«, sagt Nikolai.
»Ich auch nicht«, sagt Andreas. »Warum gibt es immer Lachs?«
Clara wirft ihnen nur einen Blick über den Rand ihres Wasserglases zu, stumm, ohne eine Miene zu verziehen, wie immer, wenn die Welt sie enttäuscht. Es ist mein Job, die Jungs auf eine andere Spur zu bringen.
»Ach, habt euch nicht so, ihr Mickerlinge. Wollt ihr groß und stark werden und die anderen beim Fußball kleinkriegen? Wenn ja, dann ist Lachs und Spinat das Beste, was ihr essen könnt, davon kriegt ihr Superduperkräfte.«
Dieses Lied singe ich schon seit Jahren, ich weiß, sie glauben schon lange nicht mehr daran, aber wenigstens bringt es sie dazu, noch eine Gabel Fisch zu essen.
»Kann ich Ketchup haben?«, fragt Andreas.
»Ah, pfui Spinne!« Clara schüttelt seufzend den Kopf. Sie verabscheut Ketchup, sie tut so, als hätte der Teufel selbst es produziert.
»Nein, kein Ketchup zu Lachs und Spinat«, sage ich. »Das macht den ganzen Superdupereffekt kaputt, die Wissenschaft hat jahrelang darüber geforscht …«
»Ach Mann, Papaaaaa …« Auf einmal lacht Nikolai so herzlich, dass sich auch Andreas anschließt. Bald kann selbst Clara ein kleines Lächeln nicht mehr unterdrücken.
»Esst jetzt fertig, dann dürft ihr aufstehen«, sage ich.
»Ja!«, rufen sie im Chor, stopfen sich die letzten Bissen rein, werfen das Besteck hin und springen auf.
»Na bravo.« Clara zieht die Augenbrauen hoch. »Eat and run …«
»Bitte, du kannst es nächstes Mal gern selbst versuchen«, sage ich.
Während ich weiteresse, sagt keiner von uns beiden mehr ein Wort. Dann stehe ich auf und räume den Tisch ab. Clara lädt die Spülmaschine.
»Übrigens, ich habe ein Jobangebot bekommen …«, sagt sie.
»Stell dir vor«, sage ich. »Von wem denn? Einer großen Kanzlei?« Die rekrutieren oft aus dem Justizministerium, habe ich gehört. Aber Clara hat jetzt wohl zu lange in der Verwaltung gearbeitet, um dafür infrage zu kommen. »Und? Wo?«
»Im Ministerium …«
Ich muss mir auf die Zunge beißen, um keine spitze Bemerkung zu machen. Sie ist jetzt seit einem halben Menschenleben im Justizministerium beschäftigt. »Ich hoffe, es ist eine Beförderung?«
»Zur Staatssekretärin.« Sie lächelt mädchenhaft. »Woll hört demnächst auf. Und Munch möchte mich als Nachfolgerin.«
Ich stehe mit offenem Mund da, die Bratpfanne in der Hand.
»Aber du kommst doch aus der Verwaltung? Ist so ein Wechsel in die Politik denn üblich?«
»Eigentlich nicht. Aber es ist schon früher geschehen. Und es wird auch wieder geschehen.« Ich frage mich, woher dieser etwas biblische Tonfall kommt.
Ich lege die Pfanne in die Spüle und setze mich auf einen Küchenhocker.
»Aber diesmal ja wohl nicht?«
Sie zuckt mit den Schultern, räumt weiter die Spülmaschine ein.
»Jetzt mal langsam«, sage ich, »heißt es etwa, du denkst ernsthaft darüber nach?«
»Vielleicht.« Wieder die Andeutung eines Lächelns. »Fändest du das so abwegig?«
»Offen gestanden ja. Muss man da nicht irrsinnig viel arbeiten? Und willst du tatsächlich eine feste Stellung für ein Amt aufgeben, aus dem man jederzeit entlassen werden kann?«
»Du hast ja auch keine feste Stelle«, entgegnet sie. An und für sich stimmt das. In unserem Krankenhaus bekommt man erst mit über fünfzig eine. Und auch dann nicht garantiert. Am ehesten noch, wenn man vorher woanders eine feste Stelle hatte, und außerdem gehört noch eine gute Portion Glück dazu.
Ich kümmere mich nicht besonders darum, aber die meisten anderen sind sehr scharf darauf, eine feste Stelle zu kriegen. Das ist schade, denn dadurch entsteht eine ungesunde Atmosphäre, in der so gut wie niemand sich traut, irgendwelche Kritik zu üben.
»Willst du nicht vielleicht mal das Leben genießen? Ein bisschen entspannen? Reisen, guten Wein trinken? Lange Ferien genießen?«
»Was?« Clara schaut mich an, als hätte ich chinesisch geredet.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie meine Ironie mitbekommt, wenn ich sie so aufziehe.
»Nach Hause« fahren, also nach Westnorwegen, das ja. Ferien machen, oh nein.
Clara ist und bleibt eine Streberin vom Dorf, voller Konkurrenz- und Karrieredenken. Zur Lebenskünstlerin hat sie definitiv kein Talent.
»Du hast doch nicht gern jemanden über dir? Außerdem, sind dir diese Leute überhaupt sympathisch? Ich dachte, du kannst Munch nicht leiden.«
»Nein, wirklich nicht besonders. Aber das ist auch nicht nötig. Ich stelle mir irgendwie vor, das von innen her auseinanderzunehmen, verstehst du?«
Jetzt klingt sie tatsächlich mal begeistert.
Ich sollte es nicht sofort von der Hand weisen. Ich sollte ihr zuhören, sie unterstützen, sie selber erkennen lassen, was für ein Wahnsinn das wäre.
Aber so klug bin ich nicht.
»Nein«, sage ich, »das ist unmöglich. Sogar für dich.«
In derselben Sekunde erkenne ich, das war ein Fehler, ein unumkehrbarer.
»Wenn du meinst«, entgegnet sie nur knapp. Der Ton ist unheilverkündend, ihre Miene verschlossen.