30 – Haavard

»Warum willst du eigentlich Sekretärin werden, Mama?«, will Andreas wissen.

Soeben hat Clara den Jungs erzählt, dass der König sie heute in der Sitzung des Staatsrates zur Staatssekretärin des Justizministeriums ernennen wird, zwei Tage, nachdem ich ihr dringend davon abgeraten habe, das Angebot anzunehmen.

Als sie mir gestern ihre Entscheidung vor den Latz geknallt hat, habe ich nur »Aha« gesagt und innerlich bis zehn gezählt.

Und es dann tatsächlich geschafft, den Schnabel zu halten. Schließlich bin ich ein moderner Mann, der nicht glaubt, er könne oder dürfe bestimmen, was seine Frau tut oder nicht. Einer, der ihr Erfolg im Beruf gönnt und zu Hause Verantwortung übernimmt.

Das Problem ist nur, ich würde auch gern gehört werden.

Und obwohl Clara kaum noch mehr arbeiten kann als während der Vorbereitung ihres Gesetzesvorschlages, war da wenigstens von einer begrenzten Zeit die Rede.

Ich arbeite im Schichtdienst und will daneben auch noch ein eigenes Leben haben, keines als Vollzeitpapa.

»Na ja, ich werde ja keine gewöhnliche Sekretärin«, sagt Clara jetzt, »sondern eine, die dem Justizminister hilft.«

»Wie heißt der?«, fragt Andreas.

»Anton Munch«, antworte ich und betone jede Silbe einzeln.

»Also eine Assistentin?«, fragt Nikolai.

»So in der Art, ja.« Clara nimmt ihre belegten Brote vom Küchentresen.

Sie dürfte als einzige Staatssekretärin belegte Brote mitbringen. Leberpastete mit eingelegter Gurke, Salami mit Salatgurke, immer dasselbe, seit ihrer Schulzeit.

»Willst du nicht lieber Chefin sein?«

»Eine Art Chefin werde ich ja auch«, sagt Clara. »Von jetzt an kann ich viel mehr bestimmen, hoffe ich. Zum Beispiel bestimmen wir über die Feuerwehr. Und über die Polizei …«

»Die Polizei sucht den, der den Mann auf Papas Arbeit umgebracht hat«, sagt Nikolai.

»Ja, und die Frau im Hotel«, sagt Andreas.

Clara sieht mich verärgert an, als ob ich schuld wäre, dass sie die Nachrichten sehen.

»Und Papa wird jetzt hier noch mehr Chef«, sage ich. »Denn jetzt bekommen wir Mama noch weniger zu sehen als bislang schon.«

»Mein Gott!« Clara schaut mich resigniert an. »Wir haben doch darüber geredet!«

»So würde ich das nicht nennen. Ich wurde informiert, das ja.«

»Aber Mama, warum willst du nicht mehr bei uns sein?«, fragt Nikolai.

»Ja, warum willst du lieber mit diesem Anton zusammen sein als mit uns?«, fragt Andreas.

»Danke schön.« Clara bedenkt mich mit einem kühlen Blick. Dann lächelt sie die Jungs an: »Natürlich will ich bei euch sein!« Ich ziehe die Brauen hoch und gebe ­einen verwunderten Pfiff von mir. Clara wird rot, sagt aber nichts, ignoriert mich einfach, wie immer, wenn sie sich ärgert.

»Mama muss schließlich auch arbeiten«, fügt sie hinzu. »Um Geld zu verdienen, damit ich etwas zu essen und anzuziehen und Spielzeug für euch kaufen kann …«

»Ja, genau, nur darum«, sage ich.

»Und jetzt mache ich bei der Arbeit ein paar andere Sachen als vorher«, fährt Clara fort. »Aber im selben Haus und mit denselben Leuten. Versteht ihr?«

»Kommst du dann auch im Fernsehen und so?«

»Ganz sicher nicht.«

»Im Radio? In der Zeitung?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht«, sagt sie, und ich kann heraushören, wie ihre Ungeduld wächst. »Aber jetzt muss ich los. Habt einen schönen Tag.«

Sie beugt sich über Nikolai und umarmt ihn, dasselbe mit Andreas, dann hängt sie sich die Tasche über die Schulter und geht.

»Hab du auch einen schönen Tag!«, rufe ich ihr demonstrativ und zuckersüß nach. »Viel Glück, Liebste.«

Dass sie jetzt Politikerin wird, lässt sie geradezu aufblühen, sie hat eine ganz neue Glut in den Augen.

Zu meiner Überraschung hat sie, die große Skeptikerin in Sachen Social Media, gestern Abend sogar ein Facebook-Profil eingerichtet. Da will sie jetzt Videos, Selfies, Parteipropaganda und andere Scherze posten. Wahrscheinlich ist das einer der Wünsche des Ministers.

Schon jetzt piepst ihr Telefon seit den Radionachrichten früh um sechs bis nach den Spätnachrichten im Fernsehen. Munch erwartet offenbar, dass sie die Medien vierundzwanzig Stunden am Tag verfolgt.

Am meisten überrascht mich der Eifer, ja, die Begeisterung, mit der sie darauf reagiert.

»Wann willst du denn eigentlich schlafen?«, fragte ich sie gestern Abend, als sie auf der Veranda saß, eine Decke auf den Beinen, und Nachrichten beantwortete. Gerade hatte sie eine halbe Stunde mit Munch telefoniert, sie wirkte angeregt, fröhlich.

»Weiß nicht.« Sie zuckte mit den Schultern und zog an ihrem abendlichen Joint. Daran hat sich in all den Jahren nichts geändert, und ich verspüre eine Art jämmerliche Freude darüber, dass wenigstens etwas noch beim Alten ist. Nur, als Staatssekretärin muss sie damit ja wohl aufhören?


In meinem Büro in der Klinik klicke ich meine Liste an. Nach dem Tag in Lysebu habe ich ein bisschen kalte Füße bei dem Ganzen. Ich habe schon viel zu viel Zeit darauf verwendet – wenn ich so weitermache, riskiere ich, gefeuert zu werden. Außerdem hat sich jetzt etwas Finsteres, Besorgniserregendes über mein schönes Projekt gelegt.

Melika stand auf dieser Liste.

Das könnte ganz klar ein Motiv sein.

Außerdem ist die Liste irgendwie zwischen Sabiya und mich geraten. Oder etwas anderes.

Sie hat keine Zeit mehr, mich bei der Stadtbahn-Haltestelle Frognerseteren zu treffen. Auf Strava gibt es so gut wie keinen Kontakt. Wenn ich einen Eintrag von ihr kommentiere, antwortet sie nicht. Wenn ich ins Büro komme, muss sie prompt gehen.

Keine Ahnung, warum sie mir so ausweicht. Aber es beunruhigt mich.

Ja, ich muss diese Liste beiseitelegen, zumindest, bis alles sich etwas beruhigt hat. Vielleicht sollte ich sie ganz einfach löschen. Das Problem ist nur, ich habe sie schon Sabiya gemailt. Die Liste ist im System vorhanden. Sie befindet sich in ihrem Posteingang.

Ich kann mich einfach nicht konzentrieren. Und heute muss ich an diesem Artikel arbeiten.

Da kommt auf einmal Askildsen rein, setzt sich unaufgefordert auf Sabiyas Stuhl. Er ist dünn und sehnig, allerdings nicht drahtig wie ein Sportler, eher abgemagert und ziemlich blass. Runde Brille.

»Haavard« – er fährt sich mit der Hand über den blanken Schädel –, »diese verfluchten Morde …«

»Ja?« Ich versuche, ganz natürlich zu klingen, entspannt, unverstellt, aber mein Herz klopft heftig.

»Weißt du irgendwas, was ich nicht weiß?«

»Nein … was denn auch?«

»Keine Ahnung. Es kommt mir einfach so vor, als würde mir irgendwer hier etwas verschweigen.«

Er schaut sich im Büro um, blickt ein paar Sekunden lang aus dem Fenster, dann schaut er mich wieder an.

»Sabiya ist nicht hier, wie ich sehe? Ist hier irgendwie dicke Luft oder so?«

»Nein, warum?« Ich muss schlucken.

»Gut. Also … Dann tu deine Arbeit, Haavard.« Er steht auf.

Das klingt fast wie eine Drohung. Er zieht die Tür hinter sich zu, bevor ich etwas antworten kann.

Ich beuge mich etwas vor und stütze den Kopf in die Hände. Was weiß er? Verdächtigt er Sabiya? Mich? Weiß er etwas von der Liste?

Eine kurze Weile sitze ich da und denke nach.

Dann tue ich genau das, was ich nicht tun wollte.

Ich nehme den Schlüssel ganz oben vom Regal, schließe die oberste Schublade von Sabiyas Schreibtisch auf. Dann die darunter. Danach die unterste.

In keiner von ihnen befindet sich etwas von Interesse. Auch nicht unter ihrem ganzen Kram.

Vor allem ist dort keine Glock mehr.

Eine Sekunde. Zwei. Noch eine. Ich richte alles wieder so her, wie es vorher war. Schließe die Schubladen, sperre sie ab, lege den Schlüssel an seinen Platz.

Ich sitze da und spüre, wie die Panik über mir zusammenschlägt, eine schwere Welle an den Uferfelsen, nachdem ein zu großes Boot zu nahe vorbeigefahren ist.

Ich habe eine Scheißangst.

Was passiert hier nur? Ist jemand hinter mir her, spielt ein Spiel mit mir? Und was ist mit Sabiya, mit der ich zum Zeitpunkt beider Morde zusammen war? Spielt sie mir etwas vor? Wer ist sie in Wirklichkeit? Was soll ich nur tun? Ich habe keine Ahnung.

Und dann tue ich dasselbe wie immer, wenn es eine Krise gibt. Ich rufe Axel an, my brother from another mother oder wie das immer heißt, meinen lebenslangen Freund aus dem Ivar Aasens vei.

»Hör mal«, sage ich. »Ich muss ein bisschen hier raus. Lass uns am Wochenende in die Hütte fahren.«

»Nach Kilsund? Jetzt?« Er ist überrascht, nicht weiter verwunderlich, so was Spontanes habe ich nicht mehr getan, seit ich Clara kennengelernt habe, und jedenfalls nicht seit der Geburt der Jungs.

»Ja«, sage ich. »Und das ist nicht mal eine Frage. Pack deine Sachen!«