32 – Haavard

Vater hat angerufen, er sagt, ich soll mich um Kilsund kümmern. Nimmst du am Wochenende die Kinder?, habe ich Clara geschrieben.

Ein kurzes Okay ist die Antwort.

Eigentlich ziemlich großzügig, dass sie mich so ohne Vorankündigung ziehen lässt, schon gar vor dem Hintergrund, dass sie nicht länger in Westnorwegen bleiben konnte.

Axel kann natürlich. Er hat dieses Wochenende frei, die Kinder sind bei Caroline.

Während wir auf der E18 südwärts brausen, gelingt es mir für eine kleine Weile, die Panik zu verdrängen und mich auf die Uferfelsen und die salzige Luft zu freuen, den weiten Horizont mit nichts als ein paar Felseninseln und dann und wann einem Schiff.

Die Hütte war den ganzen langen Herbst und Winter und Frühling abgesperrt, bei Wind und Regen, drinnen riecht es muffig. Nicht richtig schlecht, aber muffig. Ich öffne alle Türen und Fenster weit.

Verschossene blaue Gardinen, an den Wänden alte Fotos von Angeltrophäen und anderen Höhepunkten in Schwarz-Weiß oder Sepia sowie eine große Seekarte, vergilbte Kiefernpaneele, lackierte Kiefernbohlen, der typische Nippes.

Alles genauso, wie es immer war, unverändert, seit Großvater die Hütte 1952 gebaut hat.

Zwei Jahre später kaufte er die 21-Fuß-Jolle, die wir immer noch haben. Mit ihr nehmen wir jeden Sommer an der jährlichen Kilsund-Regatta teil. Edith, meine Großmutter väterlicherseits, hat sie sogar mal gewonnen, 1959 war das wohl, und ich selbst habe zweimal in der 8-12-PS-Klasse den Sieg errungen.

Vater und ich sind vollkommen einer Meinung, dass nichts hier verändert werden soll. Nach Ediths Tod hatte zunächst mein Onkel die Hütte übernommen und sie fast ruiniert. Nein, sie muss so erhalten bleiben.

Ich liebe es hierherzukommen, um zu paddeln, einfach nur dazusitzen und übers Wasser zu schauen, eine Wand anzustreichen, etwas zu reparieren. Die Jungs sind ganz wild darauf, mit dem Boot rauszufahren, vom Steg aus Taschenkrebse zu fangen, vom überhängenden Uferfelsen ins Wasser zu springen. Oft fahre ich allein mit ihnen her, Clara bleibt zu Hause und arbeitet.

Axel ist mit dem Ort ebenso vertraut wie ich.

Unsere Mütter lagen seinerzeit hochschwanger in der alten Frauenklinik nebeneinander und schwätzten sich die Ohren ab. Seitdem waren sie und wir beide unzertrennlich. Jahrelang wohnten Axel und ich in derselben WG. Jetzt leben wir nur wenige Minuten voneinander entfernt, verbringen Silvester und den Nationalfeiertag am 17. Mai und solche Gelegenheiten miteinander.

Auch Christian Ferner-Hansen, Axels Vater, und mein Vater sind seit unserer Geburt die besten Zechgenossen. Unsere Mütter lieben es, über sie herzuziehen.

Manchmal glaube ich, darum sind sie alle noch miteinander verheiratet, Mutter und Vater und Jenny und Christian. Weil Mutter Jenny hat und Vater Christian und umgekehrt.

Es ist ein wunderbares Gefühl, die Welt hinter sich zu lassen, auch wenn ich weiß, dass es nicht mal für zwei Tage ist. Und weder der rote Sonnenuntergang über der Insel noch der Whisky mit Axel auf der Steintreppe vor der Hütte können die nagende Angst vertreiben, die wie Säure in meiner Brust brennt.

Ich trinke ein Glas Whisky, dann noch eins und ein drittes. Wir reden über Fußball und Weltpolitik, darüber, warum niemand mehr richtig geile Rockalben produziert und ob die acht Stunden lange Sendereihe über Dschingis Khan die beste von Dan Carlins Hardcore-History-Podcasts ist. Ich kann gar nicht genug von den mongolischen Reitern bekommen, die aus dem Nichts kamen und die Welt eroberten, aber Axel findet die Folgen über den Fall des Römischen Reiches noch besser, die, wie er meint, eigentlich von den USA handeln.

Vier Gläser. Fünf. Irgendwann schaut Axel mich besorgt an.

»Was ist eigentlich mit dir los, Haavard?«

»Mit mir? Nichts.«

»Du betrinkst dich sonst nie. Ist was mit Clara?«

Sonst reden wir nicht über Beziehungen. Umso dringender ist so eine Frage, wenn sie mal gestellt wird.

»Na ja, sie ist ja seit Neustem Staatssekretärin. Ansonsten ist alles wie üblich.«

Axel blickt übers Wasser und lächelt. »Tough cookie, die Frau. Ein Raubtier zwischen Pflanzenfressern. Eine Art weiblicher Clint Eastwood.«

Er hat Clara immer gemocht.

»Am besten aus einigem Abstand zu genießen«, sage ich.

Jetzt reckt Axel den Rücken und schaut mich eindringlich an. »Tu, was du willst, aber lass dich nicht scheiden.«

Er ist von seiner eigenen Scheidung immer noch desillusioniert. Immer neue Wellen von Enttäuschung und Verbitterung spülen über ihn hinweg. Im Augenblick scheint Carolines neuer Mann das Hauptproblem zu sein.

»Dann kriegst du es unweigerlich mit irgendeinem Idioten zu tun, der sich in die Erziehung deiner Kinder einmischt. Kürzlich haben meine eigenen Kinder mich getadelt, weil ich den Kaffeebecher nicht auf einen Untersetzer gestellt habe. Stell dir das bitte mal vor!«

Er fuchtelt mit den Händen: »Einen Untersetzer? Für wen halten die mich eigentlich? Das haben sie von diesem Spießbürger aus Tønsberg. Der reinste Emporkömmling. Und der Beweis dafür, dass Hipster genauso wenig selbstständig sind wie Teenagermädchen. Ich hab mir sein Facebook-Profil angeschaut. Nichts als Elektroräder, Interrail und Naturwein!«

»Da hab ich schon Schlimmeres gehört.«

»Erst danach hab ich rausgefunden, dass Caro und ihre Freundinnen denselben Scheidungsanwalt haben. Der Kerl ist dafür bekannt, dass er besonders viele Vorteile für die Frauen rausschlägt. Verflucht noch mal, ist das teuer! Sich eine Freundin zulegen, das ist viel besser als eine Scheidung. Aber vergiss nicht: Sie muss verheiratet sein, muss genauso viel zu verlieren haben wie du. Das ist genau der Punkt, wo ich mich vertan habe.«

»Sie ist verheiratet«, sage ich plötzlich.

»Ach?« Axel schaut mich überrascht an. »Interessant …«

Ich googele Sabiya, finde ein Bild. Da ist sie, dunkel, lächelnd, strahlend.

Sabiya Rana. Resident, Department of Pediatrics at Ullevål Sykehus. MD 2008. Ph. D. 2012. Das halblange schwarze Haar gewellt. Roter Lippenstift. Intelligenter, dunkler Blick.

»Hier.« Ich gebe Axel das Telefon, schaue in die Ferne. Der Mond steht dicht über dem Meereshorizont, über ihm ist der Himmel rosa behaucht. Ein paar hundert Meter weiter hat irgendein Idiot auf einer Landzunge Feuer gemacht, dabei gilt das vorübergehende Verbot für offenes Feuer auch hier.

Er betrachtet das Bild lange. »Die Richtung also …«

»Mehr hast du nicht zu sagen?« Ich bin etwas gekränkt.

»Ja, schon hübsch …« Er zögert.

»Aber?«

»Aber nicht mein Fall.«

»Was?«

»Ich kenne einen, der hat sich eine kurdische Freundin angelacht. Und mit der Zeit ziemlich viel Trouble bekommen, milde gesagt. Die können so weltlich sein, wie sie wollen, die haben jedenfalls ganz schön viel Extragepäck.«

»Jetzt verallgemeinerst du aber wirklich gewaltig«, sage ich verärgert.

»Das wirft mir Caro auch immer vor. Natürlich verallgemeinere ich. Alle tun das. Wann geht der Puls hoch? Wenn wir eine Gruppe Einwanderer in der U-Bahn treffen, nicht eine alte Dame. Das Bauchgefühl hat oft recht.«

»Ich habe auch so ein Bauchgefühl«, sage ich.

»Ja?«, fragt er abwartend.

»In den Medien ist von einem rassistischen Lasermann oder einem Bandenkrieg die Rede wegen dieser Morde. Aber das ist Unsinn.«

»Warum?«

»Weil keiner weiß, was die beiden Opfer außer ihrem Migrationshintergrund verbindet, nämlich dass beide Kindesmisshandler waren. Nur von dem Pakistaner war das im Krankenhaus bekannt, die Carter war eine ganz andere Klasse. Schlimme Geschichten, sage ich dir.«

»Migranten sind von so was überproportional betroffen«, sagt Axel. »Ob es uns gefällt oder nicht, das ist eine Tatsache.«

»Sabiya war jedenfalls wahnsinnig wütend. Als würde sie sich dafür schämen, dass der Täter ihr Landsmann war. Danach habe ich rausgefunden, dass sie in ihrer Jugend Mitglied einer dieser Mädchenbanden war, die in den Einkaufspassagen andere Mädchen beraubten. Natürlich lange, bevor sie ihren Doktor in Kinderheilkunde machte. Was sagst du dazu?«

»Dasselbe wie vorhin: viel Gepäck.«

Ich hole tief Luft.

»Wir teilen uns ein Büro. Als sie mir mal klarmachen wollte, wie wichtig es ist, dass unser Verhältnis nicht auffliegt, hat sie mir die Pistole gezeigt, eine Glock, die sie in einer Schublade aufbewahrte, angeblich für den Fall, dass ihr misstrauischer Ehemann uns auf die Schliche kommen sollte. Jetzt ist die Waffe nicht mehr da. Und die Ermittlungen ergeben offenbar, dass beide Opfer möglicherweise mit einer …«

Ich mache eine Kunstpause.

»… mit einer Glock erschossen wurden«, sage ich abschließend.

»Oh mein Gott!« Axel schnappt nach Luft, darauf hat er keine Antwort parat.

Als ich aufstehe, um den Ameisenpfad zum Plumpsklo runterzugehen, fühle ich mich fast nüchtern.

Sonntagnachmittag setzt Axel mich zu Hause ab, ich steige aus, die Reisetasche über der Schulter.

Meine Jungs wuseln im Garten rum. Ich hebe Andreas hoch, schwinge ihn einmal im Kreis, drücke ihn fest. Er duftet nach Sonnencreme, Sommerjunge, er jauchzt und lacht, ein glückliches Lachen.

Dasselbe mit Nikolai. Dann gehen wir rein.

Und während wir dasitzen, Andreas mit der Stirn an meiner Wange, Nikolai mit dem Zeigefinger auf meiner Brust, klingelt es plötzlich.

Wir schrecken zusammen, alle drei.

»Ich mache auf, ich mache auf«, ruft Andreas und läuft zur Tür, gefolgt von seinem Bruder.

»Nein, ich«, ruft Nikolai.

So geht es immer, alles ist ein Wettkampf. Wer am meisten Würstchen essen kann, wer am schnellsten Ski läuft, wer am besten rechnen kann, wem als Nächstem ein Zahn ausfällt, wer als Letzter einschläft und als Erster aufwacht.

Ich will nichts davon verpassen. Und vor allem deswegen halte ich durch, nicht wegen Axels Rat.

Nikolai ist als Erster an der Tür, aber Andreas wirft sich an ihm vorbei auf die Klinke und öffnet.

Draußen stehen drei Polizeibeamte. Uniform, hellblaue Hemden, Krawatten und alles, was dazugehört, und es sind zu viele, als dass sie eine Todesnachricht überbringen würden. Außerdem kenne ich sie.

Ein paar Sekunden lang ist alles ganz still. Wie ein Stummfilm.

Ihre gesamte Kindheit über haben Andreas und Nikolai, kaum dass sie einen Polizeiwagen oder einen uniformierten Beamten sahen, in wilder Freude Polizei, Polizei, Polizei geschrien, beide haben sie zeitweise felsenfest behauptet, sie wollten Polizist werden, wenn sie mal groß sind, jetzt aber kommen sie pfeilschnell und ohne ein Wort zu mir gelaufen.

Sie wittern Gefahr, instinktiv.

Ich stehe auf, lege beiden einen Arm um die Schulter, drücke sie an mich. Jetzt erscheint auch Clara im Flur.

»Können wir kurz reinkommen?«, fragt einer der Beamten.

Ohne auf eine Antwort zu warten, betreten alle drei das Haus, die Stiefel immer noch an den Füßen. Schon in Ordnung, besser so, als dass sie für die Nachbarn sichtbar auf der Außentreppe stehen.

»Was gibt es?«, erkundigt sich Clara hinter mir mit ihrer kühlsten Stimme.

»Haavard«, sagt die Polizistin, ohne Clara eines Blickes zu würdigen. »Wir möchten Sie bitten mitzukommen, um ein paar Fragen zu klären.«

Nikolai ächzt kurz auf.

Die Beamtin schaut ihn an: »Geht ihr beiden mal zu Mama, Papa kommt kurz mit uns.«

»Ja, macht das«, sage ich zu den Jungs, ich wage nicht, weitere Fragen zu stellen, während Clara zuhört. »Geht zu Mama. Ich möchte der Polizei nur kurz helfen.«

Andreas flitzt zu Clara und klammert sich an ihr Bein wie als kleiner Junge. Erschrocken steht er da und starrt steif und reglos vor sich hin.

Nikolai hingegen weint laut los.

»Papa, Papa, Papa«, jammert er und zieht an mir. Ich hebe ihn hoch, trage ihn zu Clara. Er ist groß geworden. Und schwer.

»Sie fahren bei uns mit, Haavard«, sagt die Beamtin, und ich nicke, möchte keine weiteren Diskussionen im Hausflur riskieren. Ich küsse die Jungs auf die Wange, will ihnen sagen, dass ich sie lieb habe, aber das geht in Nikolais Geheul unter.

»Ich melde mich«, sage ich zu Clara, die nicht gerade zu einem ehelichen Kuss vor Publikum aufgelegt zu sein scheint.

Dann trotte ich den Beamten hinterher, versuche, mich so ruhig und natürlich zu bewegen wie nur möglich.