Sie geben sich jetzt ganz anders, Elin und Morten. Als ob der bisherige kameradschaftliche, joviale Kooperationston nur ein Spiel gewesen wäre, eine Maske, hinter der jetzt ihr eigentliches Wesen hervorkommt. Vielleicht spielen sie aber auch jetzt.
Ich weiß es nicht, und eigentlich bedeutet es auch nichts. Sie sind ja nicht meine Freunde. Von Bedeutung ist jetzt nur, hier so schnell wie möglich wieder rauszukommen.
»Uns liegt ein interessanter Mailwechsel vor«, sagt Elin, nachdem wir die ewigen Formalien endlich hinter uns haben und ich der Vernehmung zugestimmt und auf einen Anwalt verzichtet habe, auch wenn ich mich allmählich frage, ob ich nicht jetzt doch einen bräuchte. »Er zeigt, dass Sie ohne Wissen Ihrer Vorgesetzten Daten von verschiedenen Patienten gesammelt haben, die familiäre Gewalt erlitten haben. Trifft das zu?«
»Ja, das trifft zu.« Ich bemühe mich darum, offen und ehrlich zu klingen.
»In einer Mail an Sabiya Rana vom 23. Mai schreiben Sie, Zitat: ›Hier ist die Liste der Misshandler: Der Abschaum der Menschheit, man müsste sie waterboarden und kreuzigen, imho.‹«
Oh mein Gott. Wenn man sie so hört, klingt meine Bemerkung Sabiya gegenüber absolut durchgeknallt.
Ich räuspere mich: »Ja, das Gefühl hatte ich in dem Moment. Sie haben keine Ahnung, was diese Leute ihren Kindern antun. Ja, es macht mich wahnsinnig wütend. Ja, das war bescheuert ausgedrückt. Aber nein, das macht mich nicht zum Mörder!«
Sie blättert in ihren Unterlagen.
»Und trifft es zu, dass Melika Omid Carter auf dieser Liste stand?«
Ich nicke. Die Karten auf den Tisch jetzt.
»Ja, es trifft zu«, sage ich, immer noch ruhig.
»Gut. Dann gehen wir zurück ins Krankenhaus Ullevål am 10. Mai«, fährt Elin fort. »Mukhtar Ahmad wurde mit einer Pistole erschossen und um 22 Uhr 27 aufgefunden. Der Todeszeitpunkt muss zwischen 22 Uhr 15 und 22 Uhr 20 liegen. Wir wurden um 22 Uhr 35 informiert und waren um 22 Uhr 45 vor Ort. So viel wissen wir. Was wir nicht wissen: Wo waren Sie zwischen 22 Uhr 15 und 22 Uhr 20?«
»Auf Station«, sage ich. »Das habe ich bereits so ausgesagt.«
»Die ganze Zeit? Im Gebäude?«
Ich nicke. Das kann ich jetzt wohl nicht mehr ändern.
»Nun«, sagt Elin, »mich überrascht, dass Sie das so aufrechterhalten, obwohl wir Ihnen die Gelegenheit geben, es zu korrigieren. Sie wurden ungefähr um 22 Uhr 20 zusammen mit Sabiya vor dem Gebäude gesehen. Dem Zeugen zufolge standen Sie dicht beieinander und wirkten beide aufgewühlt.«
Wer hat uns gesehen? Uns denunziert? Und warum hatten wir nicht gleich die Wahrheit gesagt?
»Ja, das stimmt wohl. Sabiya war aufgewühlt, sie musste mal kurz an die frische Luft, und ich bin mitgegangen. Das hatte ich vergessen.«
»Ist es üblich, dass Sie zusammen mitten in einer Schicht rausgehen?«
»Nein. Es war aber auch nicht gerade eine gewöhnliche Schicht nach dem Tod des kleinen Jungen. Wie auch immer, Sabiya war aufgewühlt, geradezu außer sich. Ich hatte sie noch nie so gesehen. Also ja, ich habe versucht, sie zu beruhigen.«
»Der Zeuge berichtet, Sie seien, ich zitiere ›außer sich gewesen‹ und hätten zugleich gewirkt, als wären Sie ›sehr vertraut miteinander‹?«
»Ja, natürlich. Der Tod des Jungen hat uns erschüttert. Und ich war besonders besorgt, weil Sabiya so aus dem Gleichgewicht geraten schien …«
Es ist mir nicht wohl damit. Aber was soll’s, ich lasse das jetzt so stehen, ich rette meine eigene Haut, wie ich es mir auf dem Heimweg von der Hütte vorgenommen hatte.
»Sie wollen Ihre frühere Aussage also dahingehend verändern, dass Sie nicht die gesamte Zeit im Gebäude waren, sondern mit Ihrer Kollegin draußen?«
Sie treibt mich in die Enge.
»Ja, aber nur kurz.« Ich finde selbst, das klingt jämmerlich. »Höchstens fünf Minuten. Dann sind wir wieder reingegangen.«
»Das stimmt nicht ganz mit unseren Informationen überein«, sagt Elin.
»Ja?« Ich bin schon völlig erschöpft.
»Wie sind Sie nach Ihrem Gespräch wieder in die Station gekommen?«
»Mit Sabiyas Karte. Wir sind zusammen reingegangen.«
»Das stimmt so weit, sie hat ihre Karte um 22 Uhr 23 benutzt.«
»Genau.« Ich lehne mich zurück. »Wir sind beide reingegangen.«
»Die Sache ist nur die: Sie haben Ihre Karte um 22 Uhr 32 benutzt. Neun Minuten später. Was die Frage aufwirft: Was haben Sie in diesen neun Minuten getan, nachdem Sabiya reinging, ohne Sie? Und warum bestehen Sie darauf, Sie wären zusammen reingegangen? Obwohl dem nicht so ist?«
Um mich herum und in mir geht eine Lawine zu Tal, sie donnert los, ich kann sie nicht aufhalten.
Das stimmt nicht.
»Theoretisch würden neun Minuten genügen, um zum Gebetsraum zu gehen, Mukhtar Ahmad zu erschießen und rechtzeitig zurück zu sein, um die Karte um 22 Uhr 32 zu benutzen«, sagt Morten.
»Theoretisch, ja«, murmele ich, falte die Hände, presse sie zusammen, versuche, weiter ruhig zu wirken. Die Klimaanlage scheint nicht zu funktionieren, mir rinnt etwas von den Schläfen herab über die Wangen.