Die Morgenrunde beginnt jovial.
»Clara! Die Siegerin des Wochenendes!«, ruft Munch. »Was für ein Start!«
»Danke«, sage ich. »Jetzt habe ich immerhin einen Crashkurs in Sachen Waldbrandbekämpfungshelikopter hinter mir …«
»Schade, dass du das nicht selbst übernehmen konntest, Anton«, sagt der politische Referent. »Klassische Win-win-Situation.«
»Aber erst, nachdem Clara sich der Sache angenom-
men hat«, sagt der Pressesprecher. Das muss man ihm lassen.
Mein Auftritt in den Abendnachrichten vom Freitag hat einiges nach sich gezogen. Vorbericht um 18 Uhr, dann Auftritt in der Hauptsendung. Und das Wochenende über war ich Gast in einer ganzen Reihe von Formaten.
Erst hatte ich nur gesagt, uns sei bewusst, dass es Bedarf für eine größere Flotte von Löschhelikoptern gebe und wir würden dem zügig nachgehen – nicht besonders befriedigend, zumal wenn es zeitgleich an mehreren Stellen in Ostnorwegen brennt.
Ich rief Munch an.
Ich rief den zuständigen Sachbearbeiter an, den Referatsleiter, den Abteilungsleiter.
Ich telefonierte mit der Obersten Behörde für öffentliche Sicherheit und Bereitschaft.
Und dann wieder mit Munch.
Samstagnachmittag konnte ich die Nachricht präsentieren, wir würden fünfzehn neue Löschhelikopter für die Regionen bereitstellen, und die Regierung trage die Kosten.
»Ja, guter Job, Clara«, sagt Mona. »Dann können wir uns jetzt wieder mit diesen beiden Morden beschäftigen. In Oslo gibt es viel weniger Morde, als die Leute denken, einen oder zwei pro Jahr. Und jetzt zwei so kurz nacheinander. Falls diese Lasermann-Theorie sich festsetzen sollte, erwartet die Bevölkerung, dass wir handeln und die Einwanderercommunity schützen.«
»Ich kümmere mich darum«, sagt Munch.
»Soll ich ein paar Redebausteine zusammenstellen?«, fragt der Pressesprecher.
»Nein, nicht nötig«, dankt Munch. »Diese Lasermann-Idee ist reiner Unsinn, von den Medien aufgebracht. Ich habe mich persönlich vom Chefermittler briefen lassen, die Polizei ist jetzt sicher, dass die Mordwaffe aus dem Bandenmilieu stammt.«
Alle Blicke sind auf ihn gerichtet. Und dann ist es, als würde er sich mit Anlauf in einen erregten Monolog stürzen, der ihm ganz offenbar schon auf der Zunge gebrannt hat. Dabei dreht er ständig sein Mobiltelefon in der Hand, rechts, links, vor, zurück.
Schnell und hart, als ob das Telefon ein Kartenspiel wäre.
»Die Bandenkriminalität eskaliert immer mehr. Man braucht nur nach Schweden rüberzuschauen, um zu sehen, wohin es führt, wenn man dem keinen Riegel vorschiebt. Dort sind Bandenmorde die Regel. Und kein Ethikunterricht kann das stoppen, keine Angebote im Freizeitclub! Bei uns sieht es doch so aus, als hätte die Polizei den Kampf gegen die organisierte Kriminalität schon aufgegeben! Dabei verstehen diese Leute nur eine einzige Sprache: rohe physische Gewalt. Sie müssen überwacht werden, rund um die Uhr. Beschlagnahmt ihre Autos. Durchsucht sie. Lasst ihnen keine Kleinigkeit durchgehen. Zeigt ihnen deutlich, dass wir das alles nicht mehr hinnehmen.«
»Ja, genau«, meint der politische Referent.
Munch atmet tief ein und predigt weiter, klopft jetzt immer fester mit dem Telefon auf den Tisch.
»Die anderen Parteien glauben, das ließe sich im Dialog regeln, dabei schert sich die Gegenseite keinen Deut um westliche Werte. Wir weisen schon seit Jahren darauf hin und wurden dafür immer angegriffen. Jetzt zeigt sich, wie recht wir die ganze Zeit hatten. Wenn diese Leute partout nicht dazu zu bringen sind, norwegisches Recht und Gesetz zu respektieren, dann sollen sie ihre Sachen packen und verschwinden. Kriminelle gehören ins Gefängnis, die Polizei muss besser ausgestattet werden, und straffällige Ausländer gehören ausgewiesen, und zwar schnell.«
»Ja, genau!«, wiederholt sein politischer Referent begeistert.
Neben mir seufzt Mona schwer.
»Es ist unglaublich, dass die anderen Parteien uns in diesen Dingen nicht unterstützen! Würden Youngbloods mit Plastikpistolen rumlaufen, gleich wären die Presse und die anderen Parteien zur Stelle und würden jammern, wir sollten etwas gegen diesen Missbrauch von umweltschädlichem Plastikspielzeug unternehmen. Aber wenn es um echte Pistolen geht, sind wir die Einzigen, die was tun.«
Es ist still. Keiner weiß, wie er reagieren soll.
Etliches von dem, was Munch sagt, ist ja ganz vernünftig. Aber dieser Ton, als würde er auf seiner eigenen Morgenrunde eine lange eingeübte Performance aufführen, das ist schon eigenartig, und auch, dass er aus diesen beiden nicht aufgeklärten Morden so grundsätzliche Schlüsse ziehen will.
Und er ist noch nicht fertig.
»Ich möchte diese Sache gern als Beispiel für die verrotteten Zustände in diesem Milieu verwenden. Jetzt gehen die auch noch aufeinander los wie …« Er unterbricht sich und starrt auf sein Telefon. »Oh, verdammte Scheiße …«
Das Display ist zersprungen, sieht aus wie ein gläsernes, zwanzigfach geschichtetes Spinnennetz.
»Ach jemineh«, sagt Vigdis. »Ich rufe gleich bei den IT-Leuten an und bestelle dir Ersatz. Ich kümmere mich darum.«
»Danke …« Bestürzt schaut Munch immer noch auf das Display seines Telefons, als könnte er nicht fassen, was ihm da passiert ist.
»Ich mache das, Anton«, sagt Vigdis mütterlich, und endlich gibt er es ihr, wie ein ratloser kleiner Junge, der sein Spielzeug kaputt gemacht hat.
»Trotzdem, du solltest dich in der Sache mit Bedacht äußern«, wendet Mona ein. »Es ist unklug, wenn der Justizminister zur Unzeit Schlüsse aus einem nicht aufgeklärten Doppelmord zieht. Wenn wir unbedingt was dazu sagen sollen, dann besser ziemlich allgemein.«
»Ach, findest du«, meint Munch spöttisch.
»Berate dich wenigstens vorher mit Polizeipräsidentin Monrad. Natürlich bist du politisch verantwortlich, aber in der Praxis ist das erst mal eine Sache der Polizei.«
»Ja, das ist dir wohl zu populistisch … Die Frau brauchen wir nicht. Wir haben unsere eigenen Kontakte bei der Polizei«, sagt der politische Referent.
»Da irrst du dich jedenfalls.« Resigniert streicht sich Mona mit der Hand durch ihr kurzes Haar. Das tut sie immer, wenn sie verärgert ist, also relativ häufig bei diesen Morgenrunden mit politischer Führung, Behördenleitung und Pressesprecher. »Monrad ist ein kluger Kopf, und sie hat den Überblick. Du solltest jedenfalls darauf achten, dass du sie mit im Boot hast.«
»Übrigens«, sage ich, »mein Mann und seine Kollegen von der Kinderklinik in Ullevål, die waren zufällig bei beiden Morden in der Nähe und helfen jetzt der Polizei nach bestem Vermögen. Ich glaube, Haavard hat gerade jetzt eine Besprechung dort.«
»Tja, die Welt ist klein.« Munch scheint mäßig interessiert.
»Gut, dass sie sich einbringen«, sagt Mona.
Ich atme stumm aus. Habe absichtlich einen Begriff wie »Verhör« vermieden. Und auch zu erwähnen, dass Haavard schon seit gestern im Präsidium ist.
Mehrere Male während der Besprechung habe ich verstohlen auf mein Mobiltelefon geschaut.
Hat Haavard angerufen? Haben sich die Medien gemeldet?
Aber nichts. Stündlich wirkt es auf mich immer mehr wie eine tickende Zeitbombe.
»Da wäre noch was«, sagt Munch ungeduldig. »Mittwochabend ist ein Essen im Schloss. Ich weiß, ich müsste daran teilnehmen. Aber ich fliege heute Abend nach Brüssel und bin erst Donnerstag wieder da. Tut mir leid, Mona, ich habe erst jetzt festgestellt, dass die Termine kollidieren …«
Er legt sich den Finger auf die Lippen und schaut seine Sekretärin an, die augenrollend die Schultern zuckt und dazu verständnisvoll lächelt.
Die anderen lachen leise. Alle wissen, dass Munch solche Essen hasst, es Mona aber durchaus nicht recht ist, wenn er so was nicht ganz ernst nimmt.
»Nun denn.« Sie seufzt.
»Ja … Clara« – Munch sieht mich an – »falls mein Büro dich noch akkreditieren kann, würdest du hingehen? Gern mit deinem Mann, dem Arzt. Dann ist das Ministerium vertreten.«
Ich zucke mit den Schultern. Nicke.
Aus dem Augenwinkel sehe ich Mona den Kopf schütteln.
»Eine Staatssekretärin zu schicken ist absolut gegen das Protokoll.«
»Sonst noch was?«, erkundigt sich Munch. »Zum Ersten – zum Zweiten – nein. Dann ab mit euch.«
Die Versammlung löst sich auf.
Ich schaue wieder auf das Telefon. Eine mir unbekannte Nummer mit der Vorwahl von Oslo. Eine Sprachnachricht. Ich höre sie auf dem Weg ins Büro rüber.
Haavard. Er bittet mich, ihn unter dieser Nummer zurückzurufen.
»Clara«, sagt er, als ich ihn erreiche, in meinem Büro hinter verschlossener Tür. »Es ist verflucht noch mal nicht zu glauben. Die lassen mich so schnell nicht wieder gehen, jetzt ist nur gerade Verhörpause. Ich glaube, länger als achtundvierzig Stunden dürfen sie mich ohne förmlichen Haftbefehl nicht festhalten. Könntest du bei Askildsen anrufen und mich entschuldigen? Er soll den anderen sagen, ich sei krank oder so, ich will nicht, dass alle wissen, wo ich bin. Sag, es sei ein Missverständnis. Und rufst du bitte auch Vater an? Er muss mir helfen. Sag, er soll mich anrufen. Okay? Ich muss auflegen …«
Er klingt hektisch, beinahe panisch.
»Ja, ich rufe sofort an. Und Haavard?«
»Ja?«
»Das kommt in Ordnung.«
»Glaubst du?«
Er klingt den Tränen nahe.
»Natürlich. Halt noch ein bisschen durch.«