Äusserlich gesehen ist es hier gar nicht übel. Andererseits wäre es nicht verkehrt, wenn es das doch wäre. Da norwegische Gefängnisse einen ganz guten Standard haben, denken die Leute gerne, es wäre nicht so schlimm, hier zu sitzen.
Aber da irren sie sich.
Zelle und Einrichtung erinnern eigentlich ans Militär. Vor allem das blaue Bettzeug, abgesehen davon, dass Strafvollzug darauf steht, nicht Heereseigentum.
Ansonsten hat die Zelle dicke graue Wände, eine Metalltür, Spiegel, Waschbecken und Kleiderschrank, ein vergittertes Fenster, Deckenlampe und Leselampe, Heizkörper, Lüftungsluke, eine Kühltasche zur Aufbewahrung von Nahrungsmitteln. Und ein einfaches Klosettbecken aus Stahl.
Das größte Problem sind die fehlenden Ablenkungsmöglichkeiten. Mein Telefon haben sie natürlich kassiert. Dafür habe ich Stift und Papier bekommen, sodass ich anfangs versuchte, mir Stichworte zu notieren, um mir einen Überblick über die Lage zu verschaffen. Aber dann wurde ich ein bisschen paranoid, bekam Angst, meine Notizen könnten abgefangen und gegen mich verwendet werden. Am Ende habe ich alles zerrissen und weggespült.
Etwas entfernt höre ich jemanden Tischtennis spielen.
Da ich nichts zu sehen habe, wirken die Geräusche wie verstärkt.
Seit meinem ersten missglückten Semester Jura, als ich freiwillig im Gefangenentransporter arbeitete, bin ich in keiner Zelle mehr gewesen. Und selbst in einer zu sitzen ist noch mal ganz was anderes, als nur als eine Art vorbeifliegender Held kurz reinzuschauen.
Es gibt so vieles, das ich nicht begreife.
Wer hat mich vor dem Krankenhaus und am Pool gesehen? Was könnte der Betreffende noch gesehen haben? Wie um alles in der Welt wurde registriert, dass ich das Krankenhaus zehn Minuten später betrat, als ich wirklich mit Sabiya reinging? Was ist aus Sabiyas Glock geworden? Und genügen die Indizien, die sie haben, um mich hier festzuhalten? Das kann doch wohl nicht sein? Oder?
Was, wenn ich auf unbestimmte Zeit hierbleiben muss?
Dieser Gedanke ist fast unerträglich.
Eine kurze Unterbrechung des Alltags. Niemand will was von mir, weder Chefs noch Patienten, weder Kinder noch Frauen noch Nachbarn, wie schön das doch für eine kleine Weile sein könnte, dachte ich manchmal, wenn ich von Leuten hörte, die wegen irgendwas einsaßen. Nichts, was du tun musst. Einfach nur entspannen, schlafen, lesen. Eine Art Auszeit vom Alltagsleben.
Du lieber Himmel, was für ein idiotischer Gedanke.
Wie soll man auch entspannen, eingesperrt in so einen kleinen Raum ohne andere Gesellschaft als tausend Gedanken, die sich ständig zu einem großen Klumpen zusammenballen?
Wie konnte ich bislang nur übersehen, dass die Freiheit, die ich dreiundvierzig Jahre für selbstverständlich hielt, das allerwichtigste Gut ist?
Was die Jungs wohl denken? Hat man ihnen erzählt, wo ich bin? Wenn sie nun glauben, ich hätte sie verlassen, verraten? Haben sie Angst, was mir passieren wird? Nikolai mit seinen Albträumen, was wird das mit ihm machen?
Und Sabiya, was sie wohl eigentlich denkt? Hat sie einen Verdacht? Was hat sie begriffen? Hat sie mir eine Falle gestellt?
Was, wenn sie Clara anruft und ihr alles erzählt?
Und Claras neuer Job, muss sie den jetzt vergessen?
Ich hätte von Anfang an alles anders machen müssen. Oder mich erst überhaupt nicht darauf einlassen sollen.
Da wird die Tür aufgesperrt, und der Wärter, ein Bodybuilder-Typ, steckt den Kopf rein.
»Anruf für dich«, sagt er.
»Aha.« Ich stehe auf.
Hoffentlich ist es Clara, ich will mit sonst niemandem reden.
Sie ist es nicht.
»Haavard?«, fragt jemand am anderen Ende. Die Tränen schießen mir in die Augen, ich muss mir mit dem Pulloverärmel übers Gesicht wischen, halb aus Enttäuschung, dass es nicht Clara ist, halb vor Erleichterung, denn es ist Vater.
William Fougner findet immer eine Lösung. Sobald er in der Nähe ist, kommt immer alles in Ordnung. Jetzt schluchze ich los wie der letzte dumme Junge.
Mit dünnem Stimmchen höre ich mich »Papa« sagen. Es klingt eigenartig, ich habe ihn wahrscheinlich seit hundert Jahren nicht mehr so genannt. »Du musst mir helfen.«
Stille.
»Ich werde ein paar Anrufe machen«, sagt er schließlich. »Überprüfen, ob etwas zu den Medien durchgesickert ist, und wenn ja, versuchen, sie dazu zu bringen, das noch ein wenig zurückzuhalten. Und ich frage Christian, ob er uns zur Seite stehen kann.«
Christian, der beste Freund meines Vaters und Vater meines besten Freundes, ist als der schärfste Verteidiger der Stadt bekannt.
»Danke …«
Wenn mich jemand hier rausholen kann, dann er.
»Clara würde dich gern besuchen, aber das gestatten sie momentan niemandem. Und wenn wir es durchsetzten, dann ginge diese ganze Sache wahrscheinlich hoch, also wäre das auch keine gute Idee. Aber wenn wir beide uns treffen, musst du mir alles erzählen. Von Anfang bis Ende. Verstehst du?«
»Selbstverständlich«, sage ich.