Cathrine Monrad ist ziemlich groß gewachsen, noch größer als ich. Heute trägt sie Zivil. Schlank, in einem engen Kostüm mit Leopardenmuster, das lange blonde Haar fällt ihr über den Rücken. Teurer heller Schal um den Hals. Sie erinnert eher an eine glamouröse schwedische Krimiautorin als an eine norwegische Behördenleiterin.
»Cathrine Monrad, freut mich«, begrüßt sie mich, mit Bergenser Akzent.
»Clara Lofthus.« Ich ergreife ihre Hand. »Freut mich auch sehr, Sie kennenzulernen.« Ein wenig Höflichkeit vorab kann ganz sicher nicht schaden.
»Gratuliere zum neuen Amt.« Sie blickt mich forschend an, als frage sie sich, ob ich mich wohl selbst immer noch dazu beglückwünsche. Dann schaut sie sich um: »Kommt sonst niemand mehr?«
»Nein, wir bleiben heute im kleinen Kreis«, sagt Munch. Er zieht einen Stuhl für sie vom Tisch, geht dann zu seinem Stuhl auf der anderen Seite.
Im Besprechungsraum ist Platz für zwanzig Personen, für drei ist er eigentlich zu groß. Das Gespräch dennoch hier stattfinden zu lassen ist eine Art Herrschaftsgebaren.
Ich wechsle mit ihm auf seine Seite, jetzt sitzen wir Monrad gegenüber.
Eigentlich müsste Mona Falkum jetzt hier sein. Zumindest irgendwer aus der Verwaltung. Ich hatte versucht, das anzubringen, aber Munch stellte sich taub.
Einer unserer früheren Minister hatte bei sämtlichen Terminen Verwaltungsleute dabei. Als er aufhörte, sagte er, das habe ihm immer genutzt. Je mehr Vertrauen er gezeigt habe, mit desto mehr Loyalität sei es ihm gelohnt worden.
Munch hingegen behandelt die Verwaltungsebene immer mehr wie seine Feinde.
»So, Sie machen sich also einen Spaß daraus, meine Äußerungen in den Medien zu kommentieren?«, beginnt Munch. »Während ich noch in dem Glauben lebe, Sie wären mir untergeordnet und Loyalität schuldig?«
»An sich schon, ja«, antwortet sie.
»An sich?«, wiederholt Munch giftig.
Monrad lässt sich Zeit mit ihrer Erwiderung. Gießt sich Wasser ein, mit Kohlensäure. Nimmt einen Schluck aus der Kaffeetasse, stellt sie zurück auf den Tisch.
»Also«, sie seufzt. »Es ist wirklich sehr unglücklich, dass Sie auf diesem Zusammenhang zwischen Bandenkriminalität und den beiden Morden beharren. Es könnte sogar gefährlich sein. Und was Loyalität betrifft: Meine gehört zuallererst der Öffentlichkeit und dem besten Nutzen unseres Landes.«
»Dem besten Nutzen unseres Landes, pfff«, äfft Munch sie nach.
»Ja«, sagt sie. »Wenn Sie sich so in der Öffentlichkeit äußern, dann wirkt es, wie Öl ins Feuer zu gießen. Es schafft unnötig Angst und riskante Situationen, und es ermangelt jeglicher faktischen Grundlage. Die Situation bezüglich der organisierten Kriminalität ist schlimm genug, wir sollten nicht noch dazu beitragen, sie ohne Not zu verschärfen. Ich habe dem Journalisten nach bestem Wissen und Gewissen geantwortet. Es ist meine Pflicht, mich streng an das zu halten, was fachlich korrekt ist. Hätten Sie vorher mit mir Kontakt aufgenommen, hätte ich Sie warnen können.«
»Hätten Sie mich nicht einfach anrufen können?«, fragt Munch.
Jetzt stellt er sich dumm, uns allen dreien ist gleichermaßen klar, dass er sich in derselben Weise geäußert hätte, egal, was sie zuvor gesagt oder getan hätte.
Anton Munch liegt nur an dem, was ihm selbst am meisten Nutzen bringt, er sagt nur, was die Leute hören wollen, oder genauer, was er glaubt, dass seine Wähler hören wollen. Die übrige Bevölkerung ist ihm wurst.
So sind sie alle, wenn auch Munch wahrscheinlich noch etwas schlimmer ist als der Durchschnitt.
Es ist ja allgemein akzeptiert, dass Politiker strategische Kommunikation betreiben, also nicht sagen, was sie meinen, sondern das, von dem sie glauben, es zu sagen wäre opportun. Ab einem bestimmten Punkt schlägt strategische Kommunikation aber leider in Lüge um.
All das habe ich all die Jahre lang beobachtet und verachtet. Und jetzt bin ich selbst ein Teil davon, habe mich freiwillig auf diese Seite begeben.
Was habe ich mir nur eingebildet? Dass ich das verändern kann?
»Mein lieber Herr Minister«, sagt Monrad. »Es muss doch unser Ziel sein, keine unnötige Unruhe zu stiften. Da hilft es auch nichts, zum Telefon zu greifen, wenn das Interview bereits gelaufen ist. Da muss die Polizeipräsidentin sich klar äußern. Öffentlich. Und möglichst schnell.«
Typisch für solche selbstbewussten Behördenleiter, über sich selbst in der dritten Person zu sprechen.
»Und da wir schon von Loyalität reden«, fährt sie fort, »ist es ebenso unglücklich, wenn Sie öffentlich über unsere Behörde herfallen, ohne vorher die geringste Rücksprache mit uns zu halten.«
»Wie auch immer«, meint Munch, »ich verlange jedenfalls absolut, dass meine sämtlichen Untergebenen, ganz egal, was ihnen aus irgendwelchen Gründen ansonsten wichtig sein mag …«
Als er das Wort Untergebenen sagt, wende ich mich unauffällig von ihm ab, greife nach meinem Mobiltelefon, das ich auf dem Stuhl neben mir abgelegt habe, und hebe es so an, dass es noch unter der Tischplatte bleibt.
Munch und Monrad starren einander durchdringend an, sie bekommen nicht mit, wie ich das Telefon entsperre und ein paar Tasten drücke.
So. Ich lege es wieder hin.
»… in den Medien Loyalität beweisen. Jederzeit. Bedingungslos.«
Sie messen einander mit Blicken.
»Und es ist ja auch nicht das erste Mal, dass Sie sich so verhalten. Erst jüngst in den Abendnachrichten zum Beispiel.«
Cathrine Monrad schüttelt ihre üppige blonde Mähne und lacht kurz resigniert auf.
»Bei allem Respekt, es kommen zurzeit so viele widersprüchliche Führungssignale, Zielsetzungen und Aufgaben von Ihnen bei uns an, dass kein Mensch mehr sich auf die eigentlichen Aufgaben konzentrieren kann. Das ist ein echtes Problem.«
»Was hat das mit …«
»Was diesen konkreten Fall hier angeht, muss ich Ihren Theorien wie gesagt aus guten Gründen und auch der öffentlichen Sicherheit wegen widersprechen. Wenn der norwegische Staat in Gestalt seines Justizministers behauptet, Bandenmitglieder stünden hinter diesen Morden, obwohl das nicht stimmt, kann das Folgen haben, die niemand wünscht. Da kann ich nicht einfach den Mund halten, nur um Sie zu decken. Das tun schon genügend andere.«
Stille.
Monrad hat recht. Abgesehen von Mona, der leuchtenden Ausnahme, wagt es ja niemand, dem Minister zu widersprechen. Die Leute fürchten Repressalien. Vor lauter Eifer, den Minister vor Widerstand zu bewahren, versäumen sie es, ihn vor sich selbst zu schützen.
»Cathrine«, sagt Munch leise und deutlich, »wenn Sie so weitermachen, untergraben Sie mein Vertrauen zu Ihnen. Verstehen Sie, was ich sage?«
»Nun …« Monrad wird rot. Zum ersten Mal schaut sie mich an. »Was sagt wohl Ihre neue Staatssekretärin zu dieser Drohung?«, fragt sie, nicht ohne eine gewisse Verachtung in der Stimme.
»Lassen Sie mich zusammenfassen« – Munch ist an einer Antwort von mir nicht interessiert –, »Sie müssen den Stil Ihrer Auftritte in den Medien dringend verändern. Am besten, Sie haben gar keinen eigenen Stil.«
»Meinen Sie das im Ernst?«, fragt Monrad.
»Ja, es ist wirklich nicht Ihr Job, die politisch korrekte Medienhure zu geben.«
Stille. Das Geräusch eines unsichtbaren Glases, das am Boden zerschellt.
»Okay.« Cathrine Monrad steht auf. »Dann ist diese Besprechung beendet.«
Sie nimmt ihren hellen Mantel von der Stuhllehne und legt ihn sich über den Arm, hängt sich die Handtasche über die Schulter und geht, ohne uns noch einmal anzusehen oder uns die Hand zu geben, obwohl wir aufgestanden sind.
In der Tür dreht sie sich noch einmal um.
»Wenn Sie Verbindung zu mir aufgenommen hätten, hätte ich Ihnen berichten können, dass sich ein ethnischer Norweger in Haft befindet und wegen dieser Morde angeklagt werden wird.«
Für eine Sekunde schaut sie mich an. Ich richte mich auf, begegne ihrem Blick, widerstehe dem plötzlichen Wunsch, mich kleinzumachen.
Ich kann ihr ansehen, sie weiß es. Sie könnte es sagen.
Das tut sie aber nicht.
Das Hämmern ihrer Absätze hallt durch den Flur.
»Was sollte das jetzt, verflucht noch mal«, murmelt Munch, während er Stift, Papier und Telefon einsammelt. »Ich muss mal meinen Kontakt anrufen und hören, was da eigentlich läuft.«
Eine halbe Stunde später werde ich zu ihm gerufen.
Starr und verärgert sitzt er hinter seinem Schreibtisch.
»Du lieber Himmel, Clara … stimmt das etwa? Dein Mann soll angeklagt werden? Wegen Doppelmordes?«
»Ja. Aber er ist unschuldig.«
»Da scheinst du dir ja ziemlich sicher zu sein.«
»Glaub mir, das ist ein Irrtum. Er ist bald wieder draußen.«
Er blickt mich forschend an, seufzt.
»Alle haben mich davor gewarnt, dich zur Staatssekretärin zu ernennen, wohl doch nicht ohne Grund. Und viele würden an meiner Stelle jetzt kurzen Prozess machen.«
»Du musst tun, was du tun musst.«
»Das Problem ist nur, auch das würde nicht gut aussehen …«, redet er weiter, wie mit sich selbst. »Vierundzwanzig Stunden, Clara! Wenn er bis dahin wieder auf freiem Fuß ist, vergessen wir das Ganze. Und auch dieses Gespräch. Wenn aber an der Anklage was dran ist, habe ich keine andere Wahl, das verstehst du wohl.«
Als ich an diesem Nachmittag endlich wieder zu Hause bin, öffne ich die Strava-App.
Ich habe von ihr gewusst, natürlich, die ganze Zeit. Von den anderen auch. Aber ich habe nichts gesagt, und Haavard denkt, ich hätte keine Ahnung. Er hält sich für wahnsinnig schlau, weil er mit ihr weder chattet noch textet, und er weiß nicht, dass ich sein Strava-Konto entdeckt habe. Dabei brauchte ich nur die Listen der Runden zu checken, die er am häufigsten läuft, schon hatte ich ihn. DoctorH.
Und als ich ihn hatte, hatte ich natürlich auch MrsSplendid. Wohl so ziemlich der lächerlichste Profilname, den man sich einfallen lassen kann.
Hat Haavard tatsächlich gedacht, es genügt, wenn sie einander nicht folgen? Wo sie einander ständig Daumen hoch geben und ihre Posts und Fotos kommentieren? Wenn ihre Runden doch ständig übereinstimmen? Und die Herzfrequenzdiagramme zeigen, dass sie gleichzeitig zwanzig bis dreißig Minuten Pause machen?
Aber ich habe die App nicht geöffnet, um weitere Beweise für seine Untreue zu finden, sondern um nachzusehen, was diese verfluchte scheinheilige MrsSplendid abends so treibt.
Ich öffne ihre Laufrouten. Sabiya scheint mehrmals pro Woche genau um 20 Uhr dieselbe Strecke zu laufen.
Jetzt ist es 19 Uhr 35. Zu dem Viertel, wo Sabiya wohnt, brauche ich mit dem Fahrrad eine Viertelstunde.
»Kannst du nach den Jungs schauen?«, frage ich Vater. »Ich mache eine kleine Fahrradtour.«
Wie gut, ihn hier zu haben, ich merke jetzt erst, wie sehr ich es vermisse, ihn im Alltag um mich zu haben, auch wegen der Jungs.
»Ja, klar«, antwortet er, ich verabschiede mich von den Jungs, die mit ihren iPads daddeln, und springe aufs Fahrrad.
Haavard kann nicht getan haben, was sie ihm vorwerfen.
Und Sabiya hatte eine Pistole in ihrer Schublade. Eine Glock, das hat Haavard erzählt.
Die Opfer sind mit einer Glock erschossen worden, das hat sogar in der Zeitung gestanden.
Sabiya war im Krankenhaus und in Lysebu. Jedes Mal, wenn Haavard in der Nähe der Opfer war, war sie mit ihm zusammen.
Wenn ich Beweise dafür finde, dass Sabiya irgendwas Schmutziges treibt, dann kann ich ihn auf diese Weise vielleicht aus der Haft rausholen.
Nach Cathrine Monrads letzter Bemerkung heute ist mir klar geworden, dass ich schon ziemlich spät dran bin. Möglicherweise erzählt sie auch anderen von Haavard, um Munch zu schaden.
Ich muss mich beeilen.
Keine zwanzig Minuten später stehe ich in dem Wäldchen, das an ihren Garten grenzt. Ein gepflegter Rasen, er sieht aus wie gerade eben ausgerollt. Ganz anders als unsere anarchische Wiese. Grau gebeizte Holzterrasse, weiße und rosa Margeriten in großen Töpfen. Das weiße Haus ebenfalls frisch gebeizt oder gestrichen. Große Fenster.
Ich kann ins Wohnzimmer reinschauen. Hell, luftig, aufgeräumt.
Erfolgreiche, gut integrierte Einwanderer von Sabiyas Schlag wollen nicht mehr in den Vierteln im Osten der Stadt wohnen, wo sie aufgewachsen sind, die erinnern sie zu sehr an die überfüllten, nach Garam Masala stinkenden Behausungen ihrer Kindheit.
Nein, so Typen wie sie wohnen in modernen, geräumigen Einfamilienhäusern oder Reihenhäusern am Stadtrand.
Sabiya selbstverständlich auch.
Da kommt sie ins Wohnzimmer. Enge schwarze Jeans, ein weißes Seidentop. Sie nimmt eine Decke vom Sofa, faltet sie zusammen. Sammelt Spielzeug vom Boden auf. Geht raus, kommt wieder rein, setzt sich hin, das Telefon in der Hand, steht wieder auf.
Ihr Mann kommt rein, sie stehen mitten im Zimmer und reden miteinander. Weiß er von Haavard und ihrem Liebesnest oben im Wald? Oder von der Pistole in ihrer Schublade? Wohl kaum.
Einen kleinen Moment lang würde ich am liebsten reingehen und ihm alles erzählen. Aber jetzt ist es nicht so wichtig, Sabiya zu Hause Ärger zu machen, sondern sie mit den Morden in Verbindung zu bringen.
Wieder geht sie raus. Als sie zurückkommt, trägt sie eng anliegendes schwarzes Sportzeug, eine dünne Kapuzenjacke. Sie nickt ihrem Mann zu, verschwindet.
Ich ziehe mich zwischen den Bäumen zurück.
Kurz darauf kommt sie hinter dem Haus hervor, ihre Schuhe knirschen auf dem weißen Kies, wo auch die beiden Wagen der Familie stehen. Ein weißer Tesla, frisch gewaschen, blitzend. Und ein kleiner E-BMW, ebenso weiß. Schicke Autos, schickes Haus, die müssen beide gut verdienen.
Alles wirkt perfekt.