42 – Clara

Drei Wochen zuvor

Es ist erst der 10. Mai, trotzdem haben wir schon den ersten Sommertag.

Als es abends endlich etwas kühler ist, sitze ich zu Hause im mittleren Zimmer auf dem Sofa, den Laptop im Schoß, lese Mails, versuche, Listen zu machen, was ich weiter unternehmen will. Es geht zäh.

Munch hat meinen Gesetzesvorschlag eingefroren.

Vater hatte einen Schlaganfall.

Alles geht zum Teufel.

Das Mobiltelefon neben mir blinkt.

Haavard mobil , steht da, sogar mit zwei Herzen daneben, einer der Jungs hat das eingerichtet, ich muss zusehen, dass ich die mal lösche.

Ich melde mich: »Ja?«

Erst ist es ein paar Sekunden still.

»Haavard?«

Er räuspert sich:

»Clara, könntest du mal nachschauen, ob die Jungs gut schlafen?«

»Also wirklich, Haavard«, sage ich.

Dann erzählt er von dem toten kleinen Jungen und dem Typ im blauen Chelsea-Sweatshirt, der gerade zum Gebetsraum geht.

Ich schaue nach den Jungs.

Nikolai liegt auf dem Bauch, heute hat er nichts an als seine Unterhose, ein grünes Ding mit Dinosauriern drauf. Auf einer am Boden liegenden Matratze schläft Andreas. Er hat ein eigenes Zimmer, schläft aber lieber bei seinem Bruder, eigentlich könnten wir sein Bett hier rüberstellen. Er schläft immer noch im Schlafanzug, einem grauen, verwaschenen Kapitän Säbelzahn-Teil, das mit Totenköpfen verziert ist.

Sie schlafen jetzt tief, nichts könnte sie wecken.

Ich sage es Haavard. Wir legen auf.

Vier Jahre.

Nur ein klein wenig jünger, als Lars damals war. So klein und so groß. Einer, der schon so viel versteht und doch erst so wenig.

Was solche Verletzungen angeht, da habe ich zahlreiche Berichte und Darstellungen gelesen, dass ich den kleinen Körper vor mir sehe, gar nicht viel anders als die beiden, die oben schlafen, nicht anders als Lars damals, nur etwas dunkler und kleiner.

Ein kleiner Körper, der immer nur erduldet, erleidet, aushält, der glaubt, so sei das Leben eben.

Ein kleiner Körper, der seine Eltern liebt, der glaubt, es sei seine Schuld, wenn jemand ihm etwas Derartiges antut.

Bilder rasen vor meinen Augen vorbei. Dinge, die ich nicht sehen will. Vater blickt auf Lars in der rosa Wanne, er ruft nach mir.

Ich gehe hin. Und sehe. Und begreife.

Es ist nicht auszuhalten.

Da entscheide ich mich.

Das Zeitfenster ist nur klein. Bei den Jungs war ich grade drin, sinnlos, gleich noch mal reinzuschauen.

Schnell gehe ich in Haavards affiges Arbeitszimmer und hole die Ersatzschlüsselkarte, die er dort aufbewahrt. Ihr Code ist derselbe, den er überall verwendet, das Geburtsdatum unserer Jungs. 2205. Unten im Flur schalte ich die Alarmanlage an, schließe ab, gehe zu meinem Fahrrad.

Nur vier Minuten, nachdem ich den Hörer aufgelegt habe, rollen meine Reifen knirschend über den Kies unserer Ausfahrt.

In mir arbeitet jetzt eine Wut, die wie eine Feuerkugel glüht, eigentlich habe ich sie schon immer in mir, aber sie hat geruht.

Jetzt ist sie wieder voll erglüht.

Jetzt, etwas später am Abend, ist die Luft kühl, gesättigt mit dem Duft von Traubenkirschen, Spieren und dem ersten Flieder, so früh im Jahr.

Richtig dunkel ist es noch nicht, das wird es jetzt auch fast nicht mehr.

Ich fahre, so schnell ich kann. Es herrscht wenig Verkehr, nicht viele Leute sind unterwegs. Ich versuche, inwieweit ich beim Radfahren meine Atemübungen machen kann. Optimal ist es nicht, aber zu mehr habe ich keine Zeit.

Beim Krankenhaus angelangt, fahre ich ins Parkhaus, stelle das Fahrrad dort ab.

In einem Flur steht ein großer Rollwagen mit Dienstkleidung, die offensichtlich aus der Wäscherei kommt. Ich schlüpfe in einen Kittel und eine Hose, so falle ich weniger auf, jetzt ist ja nirgends mehr Besuchszeit. In allen Fluren stehen Körbe, die schmutzige Wäsche wandert da rein, ich habe es schon oft gesehen, wenn die Kinder und ich hier bei Haavard waren. Das wird dann alles gekocht.

Über die Hintertreppe komme ich in den dritten Stock, wo sein Büro liegt, ohne dass ich bei der Rezeption vorbeimuss. Haavard hat schon darüber geklagt, dass es im Krankenhaus keine Videoüberwachung gibt, die Mitarbeiter vermissen das, wenn aggressive Patienten oder Angehörige auftauchen. Falls sie aber mittlerweile eine installiert haben sollten, dann zuallererst an der Rezeption.

Der Bürotrakt ist unbeleuchtet. Jetzt, um diese Zeit, arbeitet hier nie jemand, auch wenn in den Etagen darunter lebhaftes Treiben herrscht. Ich streife mir Einmalhandschuhe über, ziehe an der dritten Tür von links die Karte durch das Lesegerät, gebe den Code ein, öffne die Tür, lasse das Licht aber aus, sondern benutze die Taschenlampe des Handys.

Haavards Büro ist nichts weiter als eine schmale Zelle, ganz ähnlich denen im Ministerium. Ein Schreibtisch mit zwei Arbeitsplätzen, PC, Keyboard, Papier. Ich erkenne sofort Haavards Chaos. Der Schreibtisch von Sabiya, der Ehebrecherin, ist aufgeräumt. Ein Foto steht darauf, Sabiya, ihr Mann und drei dunkelhaarige Kinder, ich erkenne sie von der Startseite ihres Facebook-Profils wieder.

Zwischen den beiden Plätzen beginnt dann schon Haavards Unordnung, unter anderem liegt da ein Skalpell mit mintgrünem Griff, so eins, wie sie auch bei uns zu Hause rumliegen. Ich stecke es in die Tasche, wer weiß, wofür ich es brauchen kann. Außerdem nehme ich noch eine kleine rosa Haarbürste an mich, beinahe Kindergröße, zwischen den Borsten hängt eine dicke Schicht dunkler Haare.

Jetzt stehe ich vor dem Schubladencontainer unter Sabiyas Teil des Schreibtischs.

Es heißt ja, wes das Herz voll ist, des geht der Mund über, und eine etwas perverse Form davon hatten wir letzten Winter, als Haavard mir eines Abends von der armen Sabiya erzählen musste, der klügsten und hellsten von allen, die so furchtbar von ihrem schrecklichen Mann unterdrückt wird.

»Und weißt du was?«, fragte er nach einem langen Monolog.

»Nein, was denn?«

Wie erwartet, langte das schon, damit es weiter aus ihm raussprudelte.

»Aber du musst mir versprechen, dass du niemandem davon erzählst …«

»Du lieber Himmel, bitte erspare mir …«

»Also, nach dem Leukämiekurs, als wir noch zusammensaßen und besprachen, wie das alles gelaufen war, wir wollten eigentlich nach Hause, mussten aber erst ein bisschen runterkommen nach den Eltern und den vielen Fragen und …«

»Komm zur Sache.«

Er schaute mich verletzt an, wie immer, wenn ich das sage.

»Ja, auf einmal zieht sie eine Pistole mit Schalldämpfer aus der Schublade, und …«

»Eine Pistole?«, unterbrach ich ihn, wirklich überrascht.

»Ja, eine Pistole. Ich glaube, eine Glock. Und zielt auf mich.«

»Hat sie keine Angst, dass die jemand findet?«

»Die Schublade ist natürlich abgeschlossen. Aber der Schlüssel liegt ganz oben im Bücherregal.«

Warum hatte er mir das alles seinerzeit erzählt? War er sich derart sicher, dass ich nichts von seiner Geliebten wusste? Dachte er, so was würden treue Männer ihren Frauen von ihren Kolleginnen erzählen?

Dann hatte er das noch mit dem eifersüchtigen Ehemann erklärt und betont, er habe Sabiya aufgefordert, die Waffe aus dem Büro zu entfernen, und dass sie untereinander darüber mit dem Begriff »das Tier« sprächen.

Später habe ich nicht mehr nachgefragt, und er hat es nicht mehr erwähnt. Aber ich glaube, er hat sich nicht getraut, irgendwas von seiner ach so tollen Freundin zu verlangen.

Ich denke, die Pistole ist noch immer dort, falls die Frau sie nicht von sich aus woandershin getan hat.

Ich fasse an die Schubladen. Alle abgesperrt.

Dann greife ich auf das oberste Brett des Bücherregals, wer weiß, ob der Schlüssel immer noch dort liegt. Doch, ja, da ist er, ein wenig nach hinten verschoben.

Dann schließe ich die Schubladen unter dem aufgeräumten Schreibtisch mit dem Foto der glücklichen kleinen Familie auf.

Nichts in der obersten. Auch in der zweiten nichts.

Aber da, in der dritten, unter dem Ausdruck einer Powerpoint-Präsentation, zwischen Zahnstochern und Büroklammern, Quittungen und Perlenketten, die sicher ihre Kinder gebastelt haben – sie hat ihre ganze Unordnung in die Schubladen verbannt –, da liegt sie. Eine Pistole mit Schalldämpfer.

Ich nehme sie, checke das Magazin, schiebe sie mir hinter den Hosenbund, ziehe den Pullover darüber, knalle die Schubladen zu und sperre sie ab, lege den Schlüssel wieder an seinen Platz.

Dann gehe ich in den Flur.

Seit Haavards Anruf sind erst dreiundzwanzig Minuten vergangen, neunzehn, seit ich zu Hause losgefahren bin. Aber der Mann mit dem Chelsea-Sweatshirt ist mit seinem Gebet vielleicht längst fertig.

Alles steht und fällt damit, dass ich den Gebetsraum rechtzeitig erreiche.

Ich habe mal gehört, wie ein Musiker erzählte, er müsse sich gewissermaßen auf null stellen, zu einem Nichts werden, um sein Instrument zu spielen. Erst dann könne die Musik durch ihn hindurchströmen, erst dann sei er nur noch etwas, durch das die Musik sich verwirklicht.

Manchmal, wenn beim Laufen draußen alles stimmt und ich in den richtigen Fluss komme, dann vergesse ich tatsächlich, dass ich ein laufender Körper bin.

Ich mach einfach weiter.

Und jetzt bin ich es, ein bebendes Nichts, in dessen Mitte eine Feuerkugel glüht und es vorantreibt, auf sein Ziel zu. In den Keller. Durch das Parkhaus. Nach rechts. Zurück über das schäbige Krankenhausgelände mit dem Raucherverschlag, der aussieht wie das Wartehäuschen an einer Busstation. Zu der blauen Tür, die Haavard mir einmal gezeigt hat, dem Eingang zum muslimischen Gebetsraum.

Das Skalpell in meiner Tasche wäre geräuschlos. Ein Vorteil. Aber dann riskiere ich ein Handgemenge mit dem Typen. Besser die Pistole. Ich nehme sie, halte sie mit beiden Händen dicht am Körper, drücke die Türklinke mit dem Ellbogen runter und schiebe die Tür mit der Schulter auf.

Jetzt muss ich schnell sein. Und muss hoffen, dass der Schalldämpfer funktioniert.

Der Raum ist nicht mehr als zehn Quadratmeter groß.

Auf einem Gebetsteppich kniet ein Typ in blauem Chelsea-Sweatshirt, mit dem Rücken zu mir. Ich höre ihn murmeln.

Astaghfirullah.

Astaghfirullah.

Astaghfirullah.

Ich lasse die Tür hinter mir ins Schloss gleiten.

Er dreht sich um, will nachschauen, wer da kommt.

Sein Blick. Zuerst gestört. Dann verblüfft. Und dann voller Angst.

Ich mache drei Schritte auf ihn zu, die Glock im Anschlag.

»Was zum Teufel …«, fragt er.

»Das ist für deinen kleinen Sohn«, sage ich. »Und für deine anderen Kinder. Und für Lars.«

Dann drücke ich ab.

Aus der Mündung der Pistole schießt eine orange Flamme, ich höre einen halblauten Knall. Offenbar habe ich ihn in die Seite getroffen. Er will von mir wegkriechen.

Noch einmal drücke ich ab.

Ein Treffer im Rücken. Aber er bewegt sich immer noch. Ich gehe hin, greife seinen Arm, drehe ihn auf den Rücken und schieße ihn aus geringer Entfernung in die Herzgegend.

Sein Blick erlischt.

Für ein paar Sekunden weichen alle Wut und Erregung einer Art kleiner, sprudelnder Freude, wie Bläschen in einem Champagnerglas, einer Freude, wie ich sie noch nie empfunden habe, jedenfalls seit dreißig Jahren nicht mehr.

Eine glasklare, stumme Sekunde, dann setzt meine Alarmbereitschaft ein.

Hier darf ich nicht bleiben.

Zwei von den Patronenhülsen sammle ich auf, die dritte ist nicht zu sehen, zum Suchen habe ich keine Zeit.

Der dritte Schuss hat ein dunkles Loch in seinem Shirt hinterlassen. Insgesamt ist aber erstaunlich wenig Blut geflossen. Ich bücke mich, hebe das Shirt an. Dicker Bauch, schwarze Behaarung. Und wo die Kugel eingetreten ist, eine Art Kuhle wie in einem Donut, gefüllt mit blauroter Flüssigkeit.

Was das wohl für Patronen sind?

Ich stecke mir die Pistole wieder in den Hosenbund, mir ist fast, als hätte sie einen Herzschlag, als würde sie pochen und brennen. Dann gehe ich durch die blaue Tür zurück in Richtung Kinderstation.

Wie alle anderen Gefühle ist auch Angst vor allem eine Illusion.

Ich war dumm, das Fahrrad ins Parkhaus zu stellen, ich laufe nicht gerne schon wieder über das Gelände, aber das Fahrrad muss ich mitnehmen.

Mit der Karte verschaffe ich mir wieder Einlass ins Haus, ziehe Kittel und Hose aus, werfe sie in einen der Wäschekörbe, gehe zur Tiefgarage.

Als ich das Fahrrad in aller Ruhe rausschiebe, liegt alles noch genauso still und ungestört da.

Zehn Minuten später rolle ich zu Hause durch die Einfahrt. Erst im Haus ziehe ich die Einmalhandschuhe aus, schneide sie klein und spüle sie im Klo weg.

Die Jungs schlafen noch in derselben Position wie vor einer Stunde. Ich mache das Fenster weit auf, lasse frische Luft rein, beuge mich über sie und küsse sie beide.

In der Tür drehe ich mich um.

»Gute Nacht«, flüstere ich.

Dann suche ich ein Versteck für Sabiyas Glock 17.