Jetzt ist der Staatsanwalt an der Reihe. Noch einmal legt er die Indizienkette dar, die mich mit den Morden und Tatorten in Verbindung bringt. Mir ist übel, so unwohl, als hätte ich einen Kater und würde mit verbundenen Augen sehr schnell über eine Straße voller Serpentinen gefahren.
Auf mich wirkt der Richter bei jedem Punkt, der vorgetragen wird, überzeugter.
Ich bin erledigt. Ich bin Per Liland und Fredrik Fasting Torgersen, die beiden berühmten zu Unrecht zu lebenslänglich Verurteilten, ich bin Harrison Ford in Auf der Flucht.
Dann ist endlich Christian an der Reihe. Er ist das ganze Jahr über braun gebrannt. Sehnig und schlank. Er lebt gesund, abgesehen von dem abendlichen Glas Wein mit Jenny auf der Terrasse oder im Wintergarten.
Er lässt sich alle Zeit der Welt.
»Wir Menschen sind so gemacht, dass unser Gehirn, sobald wir einen Schluss gezogen haben, nur noch nach Ursachen sucht, die diesen Schluss unterstützen, unabhängig davon, ob dieser eigentlich zutrifft oder nicht«, beginnt er.
»Der Begriff Bestätigungsfalle ist bei den Verteidigern unseres Landes bekannt. Normalerweise würde ich ihn nicht zu einem derart frühen Zeitpunkt eines Prozesses anführen, doch in diesem Fall ist es schon auffällig, dass dieses Phänomen bereits während der Ermittlungsarbeit gegriffen und zu einer sehr einseitigen Ausrichtung geführt hat. Es wurde nur noch nach Bestätigungen für die einmal gefasste Meinung gesucht. Während der Ermittlungsarbeit hat es einige gravierende Fehler gegeben. Unter anderem forderte die Polizei meinen Mandanten auf, den Gebetsraum zu betreten und das Opfer zu identifizieren, bevor der Tatort von den Kriminaltechnikern freigegeben war, ein eklatanter fachlicher Fehler. Aber damit wollen wir uns nicht aufhalten. Es gibt noch genügend andere Punkte.«
Die Anwesenden atmen fast unhörbar überrascht ein.
»Die Polizei hält den Verhafteten also für schuldig. Sie hat eine Indizienkette vorgelegt. Was eigentlich sagt diese aus? Zunächst, dass der Verhaftete gegenüber Kindesmisshandlern Hass und Verachtung empfindet, das ist nachgewiesen durch eine Mail vom 16. Mai 2018. Wollten wir sämtliche Norweger verhaften, die diese Meinung teilen, so würde in unseren Gefängnissen rasch einiges Gedränge herrschen …«
»Bitte bleiben Sie bei der Sache«, mahnt der Richter.
»Verzeihen Sie, Herr Richter. Des Weiteren führt die Anklage aus, Haavard Fougner habe seine Aussage bezüglich seines Aufenthaltsortes zu beiden Tatzeitpunkten korrigiert. Das wirkt in der Tat scheinbar auffällig, jedoch nur, solange man nicht bedenkt, dass private Umstände der Grund dafür waren. Zu außerehelichen Beziehungen kann man stehen, wie man will, aber Gott bewahre, ich will doch meinen, dass ich nicht nur für mich spreche, wenn ich sage, dass diese Meinungen rechtlich nicht relevant sind.«
Christian dreht eine Runde im Gerichtssaal. Sein Talar weht.
»Nun zur Waffe. Von Sabiya Rana erfährt Fougner, dass sie eine Schusswaffe besitzt und im gemeinsamen Büro verwahrt. Hätte er das melden sollen? Ja! Im Lichte der heutigen Kenntnisse jedenfalls. Er tat es aber nicht, und zwar aus demselben Grund, aus dem er von seinem Verhältnis mit der Rana nichts berichtete – wegen seiner ausgeprägten Loyalität. Macht das Wissen um diese Schusswaffe ihn zum Mörder? Nein und nochmals nein. Es liegt nicht der geringste technische Beweis vor. Seine DNS ist an keinem der beiden Tatorte nachgewiesen worden, ebenso wenig an der Tatwaffe, die schließlich nicht vorliegt. Es bleibt nur der Schluss, dass er mit großer Wahrscheinlichkeit nicht für diese Taten verurteilt werden wird. Ich erinnere daran, dass die Vorschriften für Untersuchungshaft explizit verlangen, die Wahrscheinlichkeit, dass der Betreffende am Ende verurteilt wird, müsse deutlich größer sein als das Gegenteil.«
Der alte Fuchs atmet tief durch.
Ich fühle mich erleichtert, bin aber alles andere als sicher, dass das schon genügt hat.