1982
Am Tag meiner Rückkehr lag der Nebel dicht über dem Boden, das Gras war nass und niedergedrückt, der Garten verwahrlost. Als ich klingelte, machte niemand auf, ich musste zur Hintertür und dort ans Fenster klopfen.
Irgendwann tauchte Claras Gesicht auf. Ich gab ihr zu verstehen, dass sie mir vorne aufmachen sollte.
»Hallo, meine Süße!« Ich ging auf die Knie, als die Tür sich öffnete. Sie stand einfach nur da und schaute mich an. Im Flur war es kalt, es roch nach Fäkalien.
»Kriegt dein Papa keine Umarmung?«, fragte ich, und sie lehnte sich vorsichtig an mich. Als ich sie umarmte, gab sie einen leisen Klagelaut von sich. Aber noch kein Wort.
»Wo ist Mama, Clara?«
»Oben.«
»Und Lars?«
»Drinnen.« Sie nickte Richtung Wohnstube. Ich stand auf, nahm sie an der Hand und ging dorthin, der Fernseher war zu hören, mitten am Tage. Wir kamen durch die Küche, alles stand voller Abwasch, in den Schränken waren keine sauberen Teller und Gläser mehr. Überall flogen Abfall und alte Zeitungen herum, saubere und schmutzige Wäsche mischte sich am Boden, alles war voller Staub und Krümel. Hier konnte seit meiner Abreise kein einziges Mal geputzt oder gestaubsaugt worden sein.
»Was ist bloß mit dir los, verdammt noch mal?«, schrie ich Agnes später am Tag an. Sie lag immer noch im Bett, bleich und verschlossen.
Keine Antwort. Ich drehte mich um, um die große Aufräumaktion in Angriff zu nehmen.
Die Kinder waren stumm und blass, die Schafe mager und verschreckt, sie wirkten nicht gesund. Schweine waren gar keine da, die hatte Agnes vom Schlachter abholen lassen.
Mehrere Monate lang hatte ich damit zu tun, alles wieder in Gang zu bringen, zu retten, was zu retten war, Kontakt zu den Kindern zu bekommen und mir einen Überblick über die wirtschaftliche Lage zu verschaffen.
Vom Heer war mir eingeschärft worden, niemandem vom Aufenthalt im Libanon zu berichten, vor allem nicht von dem Schusswechsel in Rachaya, das könne die norwegische Operation gefährden. Abgesehen davon hörte ich von dieser Seite nichts.
Anfangs hatte ich noch dann und wann etwas Kontakt mit meinen Kameraden, aber die Begegnungen und Gespräche mit ihnen stressten mich, ich hatte genügend anderes zu tun, also war das rasch vorbei.
Ich machte mir viele Gedanken, wie es den Kindern während meiner Abwesenheit ergangen war. Vor allem Clara hatte sich so verändert. Sie zeigte keinerlei Gefühle mehr, weinte auch nie. Wenn sie sich wehtat oder sonst etwas war, wollte sie sich nicht trösten lassen, wollte nie sagen, was sie dachte, fühlte, wünschte. Ich versuchte herauszufinden,
was während meiner Abwesenheit passiert war, wie es ihnen zu Hause gegangen war, aber darüber wollte sie nicht
reden.
»Ich hab auf Lars aufgepasst, Papa«, mehr sagte sie nicht. Und auf Lars passte sie auch jetzt auf. Er schmiegte sich in ihren Arm, wenn sie zusammen Fernsehen guckten, sie erzählte ihm Märchen, half ihn mit den Schuhen, die er sich immer noch nicht allein binden konnte.
Wenn er irgendetwas hatte, streichelte sie ihm über die Haare und beruhigte ihn. Seine kleine Mutter. Eine Minierwachsene.
Nach einer Weile setzte sie sich wieder auf meinen Schoß, legte mir die Arme um den Hals.
Doch dann saß sie da, ohne etwas zu sagen. Nur ich allein redete.
»Ich weiß, ich hätte nicht weggehen dürfen«, sagte ich. »Aber jetzt werde ich dich nie wieder allein lassen, das verspreche ich dir. Alles wird gut.«
Sie antwortete nichts, aber ich sah, sie hörte aufmerksam zu.
Ich sprach genauso sehr mit mir selbst.
Nachts schlief ich schlecht, wachte ständig auf, verschwitzt und elend. Oft zitterte ich anfallartig. Und immer wieder raste mein Herz einfach nur so. Beim ersten Mal dachte ich, ich müsste sterben, ich hätte einen Herzinfarkt. Dann wurde mir klar, es ging vorbei, wenn ich mich aufs Sofa legte und ein paar Stunden ruhte.
Die Schießerei beim Olivenbaum. Die zu Boden fallenden Männer.
Das grüne Käppi mit den Einschusslöchern, das hinterher dalag, es war mein erstes Erinnerungsstück.
Und dann der Vorfall ein paar Wochen später. Auf Lauschposten bei dem Ziegenpferch. Stille. Nichts zu hören als die Grillen und dann und wann Hundegebell. Die Ziegen, ich kraulte sie immer zwischen den Hörnern.
Das dumpfe Geknalle, das Maschinengewehrfeuer. Die Granate, die ganz in der Nähe einschlug.
Danach stellte ich fest, dass meine Hüfte klebrig war von Blut.
Der Splitter steckte direkt unterhalb der Schutzweste im Fleisch.
Er war das zweite Stück.
Diese beiden Teile, das Käppi und den Granatsplitter, nahm ich mit nach Hause.
Dass ich mehrere Menschen erschossen hatte, quälte mich als solches nicht so sehr. Ich wusste, sie hätten sonst mich getötet. Hätte ich nicht geschossen, Clara und Lars hätten keinen Vater mehr.
Ich war froh, wieder zu Hause zu sein. Natürlich war ich das.
Zugleich aber sehnte ich mich zurück, dorthin, wo es um Tod oder Leben ging, wo es niemals Zweifel gab, was zu tun war, wo wir gemeinsam an etwas Großem, Wichtigem teilnahmen.
Alles hier zu Hause wirkte plötzlich so fremd, als wäre ich auf dem falschen Planeten gelandet. Das erschreckte mich. Auch die Leute erschreckten mich.
Abends saß ich oft am Fenster und starrte hinaus. In der ersten Zeit hing das Gewehr im Verschlag an der Wand. Nach einer Weile aber hatte ich es unterm Bett, wenn ich schlief.
Ungefähr zu der Zeit wurde Agnes wieder munterer, so, wie die winterstarren Fliegen unterm Dach auf der Alm zu neuem Leben erwachen, wenn jemand im Winter dort einheizt. Sie stand auf, duschte, bürstete sich das Haar, fuhr ins neue Einkaufszentrum runter und kaufte sich etwas anzuziehen, schminkte sich, sah auf einmal überraschend gesund aus, als hätte sie sich nicht monatelang stumm und elend unter der Bettdecke hin- und hergewälzt.
Es ging wieder mit ihr aufwärts, das konnte ich sehen.
Nicht lange danach, da erzählte sie, dass sie als Assistentin in der Schule anfangen wolle. Wir brauchten mehr Geld. Und so hätte sie einen Grund zum Aufstehen. Ich war erleichtert, dass sie wieder arbeiten ging, die Tasche über der Schulter, die Haare zu einem schönen Zopf geflochten.
Gut, dass sie aufstand, jetzt, wo ich darniederlag, dachte ich.