50 – Haavard

»Da bist du ja endlich«, sagt Clara, als ich zur Tür reinkomme, sie kommt mir entgegen. Ich war etwas spazieren, wollte nicht mehr allein zu Hause sitzen und auf die anderen warten. »Bist du okay?«

»Nein, eigentlich nicht.« Ich spüre, dass mir gleich die Tränen kommen. Es ist gut, wieder zu Hause zu sein, aber ich fühle mich seelisch ausgelaugt, matt, außerstande, mich zu freuen. »Was für ein Albtraum …«

»Und wie geht es jetzt weiter?«

»Keine Ahnung.«

»Was ist passiert, dass sie dich jetzt rausgelassen haben?«

»Christian ist passiert.« Ich setze mich auf einen Küchenhocker. »Den hättest du mal erleben sollen. Fucking fantastisch. Ganz am Schluss hat er ihnen den neuen Mord serviert, den es gegeben hat, während ich in Haft war. Wenn ich recht verstanden habe, liegen außerdem noch ein paar technische Beweise vor, die mich als Täter ausschließen. Wo sind denn die Jungs?«

»In ihren Zimmern.«

»Gut, ich geh rauf.«

»Mach das. Aber, Haavard … sie sind ein bisschen daneben.«

»Wegen der ganzen Sache?«

Sie nickt. »Erwarte dir nicht zu viel von ihnen.«

»Hallo, Haavard!« Leif kommt aus dem Garten herein, eine Tasse Kaffee in der Hand.

»Oh, hallo! Du hier? Jetzt hab ich mich fast erschrocken.«

»Gut, dich zu sehen, Haavard.« Leif streckt mir die Hand entgegen.

»Ja, gleichfalls. Aber sorry«, sage ich, indem ich ihm die Hand schüttele, »ich will nur kurz …«

»Ja, klar, sag den Jungs Guten Tag.« Leif lächelt mich an.

Wieder ertappe ich mich bei der Frage, wie es hier wohl zugegangen ist, während ich fort war. So souverän Clara sonst in allem sein mag, aber immer muss ich mich darum kümmern, wenn einer von den Jungs durchdreht, wie rasend auf sie einschlägt, im Blutzuckernebel herumbrüllt. Sie ist völlig hilflos, weiß nicht, was sie mit ihnen anfangen soll. Meist schließt sie sich dann im Schlafzimmer ein oder geht eine Runde laufen. Mittlerweile sind die Jungs größer, diese Ausbrüche sind selten geworden. Aber immer noch kann ich am besten damit umgehen.

»Hallo!« Ich klopfe an Andreas’ Tür.

Da sind sie beide. Andreas sitzt mit seinem iPad da, Nikolai beugt sich über ein Seeräuberschiff aus Legos, an dem er seit einiger Zeit baut.

»Hallo Papa«, sagt Nikolai. Andreas sagt nichts.

»Krieg ich eine Umarmung?«

Nikolai steht auf, kommt etwas zögernd zu mir, umarmt mich vorsichtig, auf Zehenspitzen und mit einigem Abstand, als befürchtete er, sich anzustecken.

»Na hallo, jetzt kommt aber!« Ich hebe ihn hoch und wirbele ihn herum.

»Heeeh, Papa!« Er lacht, macht sich aber los. »Warst du im Gefängnis?«

Ich brauche einen Moment, um mich zu fassen.

»Und? Warst du?«

»Nein, woher denn«, antworte ich. »Ich hab nur der Polizei geholfen.«

»Du bist so lange weg gewesen.«

Endlich blickt Andreas von seinem iPad auf und schaut mich kurz an.

»Hei, Andreas!« Ich bücke mich, um ihn zu umarmen.

»Nein!« Er schiebt mich weg. »Du riechst nicht gut.«


Als ich wieder runterkomme, kippelt Leif auf einem Barhocker in der Küche hin und her. Mir fällt auf, wie dünn er geworden ist, nur noch ein Schatten seiner selbst.

»Heute Abend muss ich zu einem Essen im Schloss«, sagt Clara. »Es wäre gut, wenn du mitkönntest. Vater passt auf die Kinder auf.«

Die Idee macht mich wütend. Als ob ich zwei Tage nach einer Festnahme wegen Mordes bereit wäre, Clara als Dekoration zu begleiten. »Komm mal mit raus.« Ich fasse sie am Arm, führe sie in den Flur, mache die Tür hinter uns zu und drücke sie an die Wand.

Das mag ein bisschen heftig sein, zumal ihr Vater auf der anderen Seite derselben Wand sitzt, aber das ist mir schnuppe.

»Lass mich los«, sagt sie.

»Gut, ich lasse dich los.«

»So, kann ich jetzt gehen?«

»Nein«, sage ich. »Schön, dass dein Vater hier ist. Aber es geht doch nicht, dass er gleich nach seiner Ankunft zwei Jungs hüten muss, die neben der Spur sind, und wir beide gehen zu einem Essen ins Schloss, ich direkt aus dem Gefängnis … Nur damit du dein neues Netzwerk pflegen kannst!«

»Fertig?«

»Nein. Ich habe gerade erst angefangen.«

»Es dreht sich nicht alles auf der Welt um dich, das solltest du nicht vergessen.«

»Nein, jetzt soll es sich ja um Ihre Hoheit drehen, die Königliche Staatssekretärin.«

»Während du deinen Schwanz reinsteckst, wo er nicht hingehört …«

»Wie meinst du das?«

»Genauso, wie ich es gesagt habe«, antwortet sie, immer noch ganz leise. Clara hebt nie die Stimme, egal, was passiert, das verleiht ihr zusätzliche Autorität. Jetzt kann ich aber trotzdem merken, wie wütend sie ist. »Ich habe hier die Stellung gehalten, während du in Lysebu warst, und dann mit Axel auf Sauftour und im Gefängnis. Heute muss ich zu diesem Essen, und ich hatte gehofft, du würdest mitkommen, wo du jetzt wieder raus bist. Aber keine Sorge, ich habe durchaus nicht die Absicht, dich zu zwingen.«

»Wow«, mache ich. Es kommt nicht oft vor, dass sie so viele Sätze nacheinander sagt, es sei denn anderen gegenüber am Telefon, und dann geht es ums Ministerium. Fast stimmt es mich etwas weich. Fast.

»Gut. Aber ich bleibe hier, ich gehe zu keinem Ball im Schloss.«

»Abendessen«, korrigiert sie mich mit harter Stimme.

»Wie?«

»Abendessen im Schloss, kein Ball.«

»Egal was, ich komme nicht mit«, sage ich mit Nachdruck auf jedem Wort.

»Gut«, sagt sie und geht in die Küche, wo sie sich leise mit ihrem Vater unterhält. Ich bleibe mit dem unangenehmen Gefühl zurück, dass sie das nicht vergessen wird und dass ich es noch bereuen werde. Aber verflucht noch mal, ich komme direkt aus dem Knast. Kein Gedanke daran, mit irgendwelchen Ministern und Ministergattinnen Small Talk zu machen.

Ich gehe in den Garten und setze mich auf einen Stuhl. Erst als ich höre, dass sie aufbricht, stehe ich wieder auf.

»Ich hab gedacht, wir könnten was grillen«, sage ich zu Leif.

»Schön. Eigentlich hätte ich erwartet, dass du mit Clara zu diesem Ball im Schloss gehst …«

»Abendessen, nicht Ball«, sage ich grinsend.

»Abendessen, na gut … Wie auch immer, Clara hat gesagt, wir sollen Pizza bestellen. Aber was Gegrilltes ist natürlich auch nicht zu verachten.«

»War mir klar«, sage ich.

Leif ist zwar keiner, der selbst gern grillt. Auf seinem Hof habe ich nie weder Grill noch Feuerschale oder auch nur einen Einweggrill gesehen. Aber er isst sehr gern Gegrilltes, das weiß ich. Gib ihm ein Kotelett oder ein Würstchen und dazu ein Bier, schon ist er glücklich, und jetzt will ich ihn so glücklich machen, wie es nur geht. Dann werde ich mal Feuer anzünden und Koteletts würzen, Würstchen rausholen und Salat anmachen.

Ich decke den langen Tisch im Garten. Gläser, Servietten, Besteck und Teller. Stelle Blumen auf den Tisch. Leif kommt aus dem Haus. Die Kinder toben um den Rasensprenger rum.

Es ist schwülwarm, aus der Ferne ist Donnergrollen zu hören.

»Wie sieht es eigentlich gesundheitlich bei dir aus, Leif?«, frage ich, nachdem wir gegessen haben und die Jungs wieder abgezischt sind. Seit ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, muss er mindestens zehn Kilo abgenommen haben, dabei war er nie dick. Erschreckend blass ist er auch, und er hat dunkle Augenringe.

»Gar nicht so schlecht, könnte schlimmer sein, wenn man bedenkt, was passiert ist.«

»Ja, du meinst …?«

»Den Schlaganfall, ja …«

»Ja, wie lange ist der jetzt genau her?« Hoffentlich fällt ihm nicht auf, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, innerlich verfluche ich Clara, die absolut nichts gesagt hat.

Doch, da war was mit ihrem Vater, als sie nach Westnorwegen fuhr, aber was genau, hat sie nicht gesagt. Gefragt hab ich allerdings auch nicht weiter.

»Zwei, drei Wochen? Ich weiß gar nicht mehr so genau.«

»Und wie fühlst du dich?«

»Tja, meistens eher … schlapp.«

»Das geht vorbei«, sage ich. »Das verspreche ich dir. Und danke, dass du gekommen bist, das ist Clara und uns allen eine große Hilfe.«

Eine Weile ist es still. Wir schauen in den Fliederstrauch. Üppige lila Kerzen. Eine Hummel fliegt summend hin und her. Flieder macht mich immer nostalgisch, er erinnert mich an Großmutter Edith, an ihr altes, verwinkeltes Haus, das jetzt verfällt. Und vor allem erinnert er mich an den ersten Sommer mit Clara, als noch alles möglich schien.

»So, du hattest also einen Gastauftritt im Knast …?«, fragt Leif behutsam.

»Ja.« Ich versuche, mir vorzustellen, wie mein Vater sich in dieser Situation verhalten würde. Ich fühle mich immer noch wackelig, obwohl es vorhin beim Kochen besser ging. Aber jetzt mit einem Glas Champagner im Schloss herumzustehen und Small Talk zu führen, das wäre noch viel schlimmer. »Das war unglaublich. Eine Riesenschlamperei von der Polizei. Möchtest du auch ein Bier?«

Leif nickt, und ich hole zwei Carlsberg, mache beide auf, gebe ihm eines.

»Das waren jetzt nur ein paar Tage, aber mehr als genug. Fast ein Trauma«, füge ich hinzu und bereue die Bemerkung sofort gegenüber einem Libanonveteranen. Rasch sage ich: »Jetzt glauben sie, derselbe Täter hat alle drei Morde verübt.«

»Und was soll das Motiv sein? Interner Streit unter Pakistanern?«

»Das war jedenfalls die Ursprungshypothese bei den ersten beiden Morden. Dass beide Einwanderer waren, war aber nicht die einzige Gemeinsamkeit, auch Carter hat ihre Kinder misshandelt …«

»Oh Gott. Ist das so verbreitet?«

»Tja«, sage ich. »Verbreiteter, als wir es gerne glauben würden. Auch in den besten Familien. Du würdest dich wundern. Allerdings sind Einwanderer statistisch gesehen leider stark überrepräsentiert …«

Wieder schweigen wir einen Moment.

»Wie reagieren die Jungs?«

Ich zucke mit den Schultern.

»Sie halten etwas Abstand …«

»Gib ihnen ein bisschen Zeit.«

»Muss ich wohl.« Ich nehme einen Schluck von meinem Bier. »Clara war zum Glück kühl und ruhig, als die Polizei hier war.«

»Ja.« Leif trinkt ebenfalls. »Das ist typisch für sie. Wie es ihr wohl im Schloss ergeht, bei diesem Ball … Entschuldigung, Abendessen?«

Das sagt er mit einem kleinen Lächeln, ich würde ihn am liebsten umarmen.

»Die fühlt sich bestimmt so wohl wie ein Fisch im Wasser. Prost auf sie!« Ich hebe mein Glas. »Deine Tochter schafft alles, was sie will.«