Vor dem Eingang auf der Rückseite des Schlosses hält eine lange Schlange schwarzer Wagen von Regierung oder diplomatischem Corps und Taxis.
Auf der Einladung mit dem Monogramm des Königspaares werden die Gäste gebeten, zwischen 19 Uhr 20 und 19 Uhr 40 am Haupteingang zu erscheinen. Das soll wahrscheinlich bedeuten, am besten kommt man genau um 19 Uhr 30, so wie ich jetzt.
Eine Traube Fotografen und Journalisten hat sich versammelt, um die prominentesten Gäste abzupassen. Während ich mich nähere, knipsen sie wie wild, manche liegen geradezu auf dem roten Teppich vor mir. Seit dem Wochenende mit den Löschhubschraubern bin ich offensichtlich eine bekannte Person.
»Tolles Kleid, Clara!«, ruft einer.
Das Kleid ist so lang, dass der Saum hinter mir auf dem Boden schleift. Früher am Tag hat Vigdis mir das Teil in aller Eile in der Stadt besorgt, selbst hätte ich keine Zeit dazu gehabt. Faszinierend, wie schnell man sich daran gewöhnt, jemanden zu haben, der sich um so was kümmert. Obwohl die Sekretärinnen vor allem für Munch da sind, profitieren wir anderen auch davon.
Auf einmal gibt es jemanden, der große Teile meiner E-Mails für mich beantwortet. Der Besprechungen für mich verabredet, meine Zahnarzttermine verlegt, mir ein Kleid kauft und sich mit allem Möglichen auskennt.
So hat Vigdis mir unter anderem erklärt, der Begriff »Kleidung: Gala« auf der Einladungskarte bedeute langes Kleid für Frauen, weder schwarz noch weiß.
Ich gehe an der Garderobe vorbei zur Toilette.
Punkt 19.40, Toiletten im Erdgeschoss , hatte Monrad auf meine SMS geantwortet. Viel Spielraum ist nicht.
Jetzt ist es 19 Uhr 38. Kühl ist es hier unten. Ich halte die Hände unter den kalten Wasserstrahl am Waschbecken.
Kurz betrachte ich mein Gesicht im Spiegel. Das Make-up ist gelungen, meine Haare haben genau die richtige Länge. Ich sehe gut aus.
Trotzdem fröstele ich ein wenig, als ich mich sehe, ich beuge mich vor, blinzele.
Mein Gesicht. So vertraut. Ich kann Vaters darin erkennen. Und das von seiner Mutter, Großmutter Klara, der ich nie begegnet bin, die ich aber von vielen Bildern kenne.
Und doch ist es so fremd.
Wer ist das da? Wer bin ich? Was tue ich hier?
Eine Sekunde lang verharre ich. Zwei. Drei. Versuche zu atmen.
Dann öffnet sich die hohe Tür, und Cathrine kommt herein. Sie wirkt erschöpft, abgespannt, ist aber elegant geschminkt, trägt Hochfrisur, ist ganz in Rosa gekleidet.
Ich hole den USB-Stick aus meiner kleinen Handtasche.
»Hier bitte.« Ich gebe ihn ihr. Er ist weiß und neutral, anders als die glänzenden, mit Logo versehenen des Ministeriums.
Sie schaut mich an und berührt meine rechte Schulter. »Wirklich, wie kann ich Ihnen danken?«
»Tja.« Ich versuche ein kleines Lächeln. »Indem Sie sagen, Sie haben die Aufnahme selbst gemacht?«
Sie lacht kurz.
»Sowieso. Aber eins verstehe ich nicht … Warum tun Sie das?«
Ich zucke mit den Schultern.
»Ich war da, ich habe gehört, was er gesagt hat. Es macht mich wütend, dass Munch Sie als Lügnerin bezeichnet und alles einfach leugnet. Sollen Sie sich wegstehlen wie ein geprügelter Hund, den Schwanz zwischen den Beinen, entehrt, und er macht einfach weiter wie zuvor? Nein.«
»Hauptsache, Ihnen ist klar, dass es auch auf Sie zurückfallen kann«, sagt sie, während sie den Stick in ihre Handtasche steckt. »Wenn Munch stürzt, stürzen Sie schnell mit.«
»Wenn das sein muss, nehme ich es in Kauf.«
Ich könnte mich bei ihr bedanken, dass sie Munch nichts von Haavard erzählt hat, aber das Ganze hier soll nicht zu sehr wie ein Handel von Geben und Nehmen aussehen.
Kurz darauf gehen wir miteinander die breite Treppe in den ersten Stock hoch. Hier ist es zu warm. Die Türen zum Balkon sind weit geöffnet, aber wir dürfen nicht hinausgehen, das gehört zu den Dingen, die mir eingeschärft wurden.
Ich schaue mich um, versuche, nicht allzu einsam zu wirken. Minister, die Ministerpräsidentin, es kommt mir so vor, als würde sie mich forschend anblicken. Bekannte Schauspieler und Wirtschaftsleute, Gäste aus Island, alle in dem breiten Flur vor den Türen zu den Sälen.
Ich erinnere mich. Zu König und Königin sagt man »Guten Abend, Majestät«, zu Kronprinz, Kronprinzessin und der Schwester des Königs »Guten Abend, Königliche Hoheit«.
Und zu den anderen Gästen ganz einfach »Guten Abend«.
Jetzt setzen wir uns in Bewegung wie eine Prozession. Ich gehe neben einem korpulenten, verschwitzten Kahlkopf, der ebenfalls allein ist. Gemeinsam schreiten wir in Richtung Thronsaal.
Zu beiden Seiten stehen die Fotografen, sie machen wohl diese kleinen Bilder, die nachher in den Zeitschriften erscheinen.
Schließlich erreichen wir die königliche Familie und dürfen sie begrüßen.
Ich verneige mich und finde mich damit zurecht, wer hier Majestät ist und wer nicht. Doch als ich die Hand hebe, um die alternde Prinzessin zu begrüßen, die Schwester des Königs, tritt mein korpulenter Kavalier mir auf den Rocksaum, und ich stolpere ihr entgegen.
Die alte Dame sieht mich erschrocken an.
»Er ist mir auf die Schleppe getreten, Guten Abend, Königliche Hoheit«, sage ich, und da muss sie lachen.
Als wir uns zu Tisch setzen, lande ich neben einem Schriftsteller voller Weltschmerz zu meiner Linken. Der Mann auf der anderen Seite hat helle Haare und blaue Augen. Er sieht gut aus, hat aber eine seltsam aufgesetzte Mimik, als würde er unablässig eine Rolle im Theater spielen. Dazu passt, dass er sich mir nicht vorstellt, offensichtlich meint er, ich müsste wissen, wer er ist.
Ich habe ihn auch tatsächlich schon gesehen. Ich habe nur keine Ahnung, wo.
Livrierte Kellner bedienen uns mit militärischer Präzision. Der König erhebt sich, heißt uns willkommen, besonders den isländischen Gast, der nun seinerseits aufsteht und die Rede auf den Gastgeber hält. Danach erheben sich alle miteinander und singen die Nationalhymnen.
Der Kerl zu meiner Rechten erweist sich als unkomplizierter Tischgenosse, der leichthin plaudert, vor allem über sich selbst.
»Warum ist eigentlich Munch nicht hier?«, fragt er zuletzt. »Traut er sich wegen dieser Sache mit Monrad nicht her?«
»Nein. Er musste zu einem Termin nach Brüssel.«
König und Königin erheben sich, folglich stehen auch alle anderen auf, das Gespräch verstummt, und da stehen wir, bis die Majestäten aus dem Raum sind. Jetzt gibt es Kaffee und Likör. Die Anweisung lautete, man solle sein Netzwerk im Nachbarsaal pflegen. Wenn man denn ein Netzwerk hat.
Ich gehe zur Treppe, wo ich von einem der Livrierten aufgehalten werde.
»Entschuldigung, wohin gehen Sie?«
Höfliches, aber steifes Lächeln.
»Nach Hause.«
»Ich fürchte, das wäre unpassend.«
Kurz starren wir einander an.
Dann drehe ich mich um und begebe mich wieder in die Menge, entschlossen, als die neue Clara aufzutreten. Eine, von der die Leute Fotos machen wollen, von der sie denken, sie würde gern mit ihnen reden und ihre neue Arbeit lieben. Umgehend begebe ich mich wieder in das summende, klatschende, dicht gedrängte Menschenmeer, gehe von Hand zu Hand, grüße, lächle, nicke. Ja, ein paar Leute umarme ich sogar, obwohl ich das verabscheue.
Auf einmal steht die Ministerpräsidentin vor mir.
»Clara Lofthus, oder?« Sie streckt mir ihre kleine Hand entgegen.
»Ja, natürlich«, sage ich, fast hätte ich mich verbeugt.
»Sie sind also Munchs Neuerwerbung? Ich muss schon sagen, da hat er mich überrascht, bislang hatte ich nicht den Eindruck, Anton hätte begriffen, wie wichtig es ist, Frauen zu beschäftigen. Aber Ausnahmen bestätigen die Regel.«
»Ja«, sage ich.
Sie blickt mich forschend und kritisch an.
Ein Mann versucht, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, er legt ihr die Hand auf den Oberarm. Wahrscheinlich ein Berater.
Sie nickt mir kurz zu.
»Jetzt muss ich wieder.« Sie dreht sich zu dem Typ um, schon ist sie verschwunden.
Und nach einer Weile verstummen alle Gespräche endlich erneut, Stille senkt sich über den Saal, während die Königsfamilie ihn verlässt. In der Garderobe werde ich eingeladen, noch mit in eine Bar zu kommen.
Ich lehne dankend ab, ich müsse nach Hause, den Babysitter ablösen.
Als ich durch den Schlosspark gehe, fällt mir ein, wer Herr Blondschopf ist.
Erik Heier heißt er, Moderator einer Politiksendung auf TV2. Ich muss was gegen meine Gesichtsblindheit unternehmen.
Schlimmer allerdings ist, dass Cathrine Monrad recht hat. Ein eventueller neuer Minister dürfte wohl kaum eine unerfahrene, aber schon angeschlagene Staatssekretärin behalten wollen. Ich dachte, ich bekäme genügend Zeit, etwas zu bewirken, aber jetzt könnte es vorbei sein, nachdem es noch gar nicht richtig angefangen hat, obwohl Haavard wieder freigelassen ist.
Aber Vater ist hier. Das hilft schon mal.