55 – Clara

In einem hellblauen Leinenkleid sitze ich an dem kleinen Kaffeetisch in unserem Garten und posiere für die VG , eine Espressotasse in der Hand. Dann lehne ich mich an den Birnbaum, knie danach an einem Beet und gucke auch noch aus einem Fenster.

Wie alle anderen habe auch ich mich darüber mokiert, dass der Minister landauf, landab herumreist, um den Presse­fotografen gute Bilder zu bieten, statt im Büro zu sitzen und seinen Job zu machen. Aber jetzt produziere ich mich selbst, grinse so breit, dass es sich bald anfühlt, als würde es mein Gesicht zerreißen.

Sie haben ihren Make-up-Künstler oder Stylisten dabei oder wie das heißt. Erst habe ich gesagt, kein Make-up, nur etwas Mascara und Puder, aber mir wurde Lippenstift verpasst und das Haar im besten Betty-Draper-Stil frisiert.

Als es endlich ans Fotografieren geht, bekomme ich genaue Anweisungen. Halt die Hand so. Schau nach rechts, jetzt schau mich an, danke. Bisschen vor. Bisschen zurück. Danke, danke, danke, knips, knips, knips.

Und die ganze Zeit feuert mich unser Pressesprecher aus dem Hintergrund an und reckt die Daumen hoch, als wäre ich ein Dressurhund.

Ich hatte gesagt, er brauche nicht dabei zu sein, aber er ist trotzdem mitgekommen.

In Wirklichkeit habe ich Leute nie leiden können. Leute stressen mich. Sie machen Lärm, sie schnattern herum, sie saugen Kraft und Konzentration ab.

Mit Vater bin ich gern zusammen. Mit meinen Jungs auch, in einem bestimmten Ausmaß. Früher auch gern mit Haavard, in kleiner Dosierung. Und mit Großmutter Edith. Und sonst? Eigentlich mit niemandem. Es ist Zeitverschwendung.

Ich habe mich immer darum bemüht, möglichst normal zu wirken. Eine Zeit lang habe ich sogar überlegt, ob ich mir einen anderen Namen zulege, Anne oder Anita oder Marie oder sonst einen ganz gewöhnlichen. Clara kam mir zu ausgefallen vor.

Aber dazu ist es nie gekommen. Aber ich habe genau darauf geachtet, dass niemand mich wirklich kennenlernt, nicht einmal Haavard. So wollte ich es. Ein Leben als unsichtbare Bürokratin, als angepasste Westendfrau. Ein Soldat in Tarnkleidung.

Und jetzt das hier. Ein verfluchtes Team in meinem Garten, bereit, mich vor der ganzen Welt auszustellen. Alle, die eigentlich nicht viel über mich wissen, Kollegen und Nachbarn, Kunden in den Geschäften und Eltern aus der Klasse von den Jungs, sie rücken alle ein Stück näher.

Jetzt ist es zu spät, ich muss weiter lächeln und in die Kamera schauen.

Vielleicht liest meine Mutter diesen Artikel. Vielleicht bringt Bodil oder sonst eine Kuh im Heim ihr die Zeitung oder den säuberlich ausgeschnittenen Artikel.

»Schau mal, Agnes, hier ist Clara, deine Tochter, du weißt doch, in Oslo.«

War es vielleicht doch dumm von mir, im Heim aufzukreuzen?

Ich hatte gedacht, es müsse sein, weil ich nach dem, was an jenem Abend im Krankenhaus Ullevål passiert war, genauer wissen musste, wie weit es meiner Mutter wirklich besser ging, an wie viel sie sich erinnerte, in welchem Maße sie sich artikulieren konnte.

All die Jahre habe ich mir eingebildet, es würde sie gar nicht geben. Sie wäre eigentlich tot, so, wie ich es allen erzählt habe.

Aber jetzt auf einmal ist sie höchst lebendig. Und aus der Begegnung mit ihr bin ich nicht im Geringsten klug geworden.

Die meisten Leute zu Hause im Dorf haben Agnes Lofthus wahrscheinlich mehr oder weniger vergessen. Aber alle im Heim, Bodil zum Beispiel, würden zusammenzucken bei der Lektüre eines tränenseligen Interviews, in dem meine leider verstorbene Mutter vorkommt. Und natürlich würden sie die VG anrufen und erzählen, dass das eine Lüge ist.

»Schwer erkrankt«, sage ich jetzt stattdessen zu der langhaarigen VG -Journalistin. »Aber vielleicht sollten Sie sie besser nicht erwähnen. Das würde es für die Familie noch schwerer machen.«

»Okay.« Sie wickelt sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger. »Aber zu Ihrem Vater haben Sie eine enge Beziehung?«

Ich seufze und wedele eine Wespe weg, die ebenso aufdringlich um meinen Eistee kreist wie diese Journalistin um mich.

»Ich dachte, es sollte nicht so sehr um mein Privatleben gehen?«

Sie blickt auf und schaut mich erstaunt an.

»Besonders privat ist das doch nicht, nur ein bisschen persönlich. Und das gehört ja eigentlich dazu …«

»Ach ja?«

»Ja«, antwortet sie.

Ein stummer Machtkampf. Sie lächelt zuckersüß und ein wenig demonstrativ zurück, und ich beschließe, es einfach mit der Wahrheit zu versuchen.

»Mein Vater hat mir immer Sicherheit gegeben«, sage ich, und das entspricht ja der Wahrheit. Und zugleich nicht. »Alle Kinder brauchen so etwas im Leben. Viele haben es nicht.«

»Nein, stimmt«, antwortet sie und kaut etwas abwesend an ihrem Bleistift. Seit meiner Schulzeit habe ich niemanden mehr so intensiv an einem Bleistift kauen sehen. »Stimmt es eigentlich, dass Sie als Kind einen Autounfall miterlebt haben?«, fragt sie dann, bevor ich noch mehr sagen kann.

Verflucht noch mal, die lässt wirklich nicht locker, die hat das ganz offensichtlich gelernt. Und ich habe ja auch darüber gelesen beziehungsweise es in all solchen dämlichen Porträts gesehen, dass die Interviewer immer auf der Jagd nach irgendeinem Trauma sind, einem Schmerz, den sie dann zum Mittelpunkt des Artikels machen. Darmverschlingung als Baby, was auch immer.

»Ja, aber das ist zu traumatisch, lassen Sie das weg«, sage ich und schlage nach der Wespe.

Sie nickt wieder, und mir wird klar, dass die Liste der Themen, die sie auslassen soll, allmählich zu lang wird.

Das ist der Hauptgrund, warum ich keine Interviews mag.

»Es gibt einfach unendlich viele Kinder, die zu Hause grober Gewalt und Misshandlungen ausgesetzt sind, ich habe viel darüber gelesen und davon gesehen, daher rührt mein Engagement. Wenn die Kinder versuchen, davon zu erzählen, zum Beispiel in der Schule, passiert nichts, höchstens wird mit den Eltern gesprochen, und das macht alles nur noch schlimmer. Viel zu viele wissen davon, aber sie tun nichts. Weil es einfacher ist, es sein zu lassen. Und ich finde, daran müssen wir etwas ändern.«

»Danke«, murmelt die Tussi nicht besonders begeistert, und da gelingt es mir endlich, die Wespe zu treffen. Jetzt liegt sie neben meinem Glas in letzten Zuckungen.


Der Mord an Susanne Stenersen hat Munchs Bandenmord-Hypothese null und nichtig gemacht, jetzt kriegt er die Quittung. Er muss in den verschiedenen Nachrichtensendungen Rede und Antwort stehen, sowohl, was den erneuten Mord angeht, als auch die Sache mit Monrad.

Wird es lebensgefährlich, in Oslo zu leben? Und warum hat er sich derart auf das Bandenmilieu konzentriert, obwohl diese Morde überhaupt nichts damit zu tun haben? Nur um die Stimmung anzuheizen und tatkräftig zu wirken? Oder will er damit das Thema Bewaffnung der Polizei, an dem ihm so liegt, am Kochen halten?

Die Medien spekulieren über familiäre Gewalt als gemeinsamen Nenner der drei Tötungsdelikte und schreiben jetzt darüber, dass Kinder weiter in Familien leben, bei denen Verdacht auf Misshandlung besteht. Warum sei das so? Warum fange das System sie nicht auf?

All so etwas soll Munch beantworten.

Und das gelingt ihm gar nicht gut. Er murmelt irgendwas über einen Gesetzesvorschlag, der sozusagen spruchreif sein soll, ansonsten weiß er nur wenig zu sagen.


Ein paar Tage später greift die VG in einem erneuten Artikel das Ganze wieder auf und berichtet, dass der Kontroll- und Verfassungsausschuss Munch wegen seiner Äußerungen Monrad gegenüber vorgeladen hat. Auch der Rechnungshof beschäftigt sich angeblich mit der Sache.

Mein Porträt bringen sie am nächsten Samstag in der Wochenendbeilage, es hat die Überschrift »Kometenhafter Aufstieg im Justizministerium«.

Auf der Arbeit dreht sich alles nur um Schadensbegrenzung, darum, Munch zu retten, und da stößt dieser lobhudelnde Artikel nicht unbedingt auf Gegenliebe.

Der politische Berater steckt den Kopf zu meiner Tür rein, wir sind beide am Samstag im Büro, um vor den Ferien noch etwas wegzuarbeiten: »Super Eigenwerbung, Clara. Tolle Arbeit. Genau, was der Chef jetzt brauchen kann …«

»Dass die mich interviewen, war ja nicht meine Erfindung. Die VG hat sich beim Pressereferat gemeldet. Das weißt du auch.«

»Ja, das war die Version, die sie uns erzählt haben.« Er zieht eine Grimasse. »Aber vielleicht hat die Zeitung ja einen Tipp bekommen? Etwa dass es für so was gute Chancen gäbe?«

»Ach, denk, was du willst.«

Ich kann sehen, dass er jetzt unsicher wird.

»Aha, du gibst also zu …«

»Nichts gebe ich zu«, unterbreche ich ihn. »Ich habe nur gesagt, denk, was du willst.«

Jetzt schüttelt er nur noch den Kopf und zieht ab, die geballten Fäuste tief in seine Hosentaschen gestemmt, sodass der Anzugstoff sich über den Hinterbacken spannt.

Er ist ganz schön mollig, genau wie Munchs andere Jungs. Zu viel Fast Food während der Überstunden, zu viel Schokoriegel vom Automaten im Flur, zu wenig Schlaf.

Ich muss aufpassen, dass ich nicht auch so werde.

Wenn ich heute nach Hause komme, mache ich einen langen Waldlauf, über Wurzeln und Moore, nur noch rennen und atmen, bis ich das Interview und den Minister und den Berater und sämtliche Journalisten der Welt ausgeschwitzt habe.

Danach sind Sommerferien. Und wir fahren nach Hause.