56 – Leif

1986

Lars sollte jedes zweite Wochenende zu mir kommen. Das war zwar zu wenig, aber so geht es anderen geschiedenen Vätern auch. Und es würde sicher deutlich mehr werden, dachte ich, wenn Agnes wieder in ihrer Dunkelheit verschwand und morgens nicht mehr aus dem Bett kam.

Nach einer Weile nahm sie das Telefon nicht mehr ab, wenn ich anrief. Ich klingelte an der Tür der Kellerwohnung, die sie gemietet hatte. Niemand da. Dasselbe am Tag danach. Dann fand ich Agnes oben auf dem Lia-Hof, bei Magne. Als ich mit dem Auto ankam, stand sie auf dem Hofplatz. Von Lars war nichts zu sehen.

»Ich will meinen Sohn sehen«, sagte ich.

»Und wenn er dich nicht sehen will?« Sie zog die rosa Angorastrickjacke enger um sich, hob den Kopf, strich sich das lange helle Haar auf eine Seite und blickte mich auf eine Weise provozierend an, die mir früher einmal gefallen hatte. »Ich glaube, es tut ihm nicht gut, bei dir zu sein. Clara auch nicht. Seit dem Libanon nicht.«

»Aber bei dir zu sein, das ja …« Ich hörte selbst, wie meine Stimme während dieses kurzen Satzes lauter wurde. »Du bist also die Mutter des Jahrhunderts, du …«

»Herrgott noch mal!« Sie trat ein paar Schritte zurück, ging ins Haus und warf die Tür hinter sich zu.

Ab da holte ich ihn an der Schule ab, das funktionierte besser. Lars freute sich offenbar, mich zu sehen, er schmiegte sich beim Kinderfernsehen in meinen Arm, ich betrachtete die kleine Nase, die feinen Härchen in seinem Gesicht, das schiefe kleine Lächeln. Lars war so sanft, fast schwach, fast mädchenhafter als Clara. Und still. Er lutschte wieder am Daumen. Manchmal machte er nachts auch wieder ins Bett, ich wusch die Laken, seine Schlafanzüge und die Matratzenauflage, das war einige Jahre nicht mehr passiert.

Clara meinte, ich sollte das alleinige Sorgerecht beantragen. Was für ein Unsinn, dass er bei Agnes und Magne wohnte, das sei nicht gut für ihn, sagte sie, schau doch bloß, wie scheu er geworden ist. Dass ich nach dem Libanon krank gewesen sei, solle ich einfach vergessen. Sie würde als Zeugin für mich auftreten, sagte sie, erzählen, ich sei der beste Vater auf der Welt.

Ich dachte, ja, das schaffe ich, das kriege ich hin. Ich wollte das alles anpacken, musste mich nur erst noch ein wenig erholen, Kräfte sammeln, um gegen Magne und Agnes anzutreten.

Dann konnte ich endlich Lars für ein ganzes Wochenende zu uns holen.

Am Samstag sollte er in der rosa Wanne baden, die war viel zu teuer gewesen, aber Agnes hatte mich gezwungen, sie einzubauen.

Erst wollte er nicht, aber ich bestand darauf, er war schmutzig.

Als ich ihm beim Ausziehen zusah, musste ich schlucken und wegschauen.

Nein, kein Kind konnte sich so stoßen. Kein Kind bekam auf normale Weise blaue Flecken unter den Armen, über der Hüfte, auf dem Bauch.

»Was ist da passiert?«, fragte ich ihn.

»Hab mich gestoßen.« Er schniefte ein bisschen.

Ich rief Clara. Das sollte sie sich ansehen.


Am nächsten Tag stand ich vor dem Schreibtisch der Frau, die in der Gemeindeverwaltung unter anderem für Jugendschutz zuständig war.

»Du willst also sagen, die Mutter …«

»… oder der Stiefvater«, sagte ich.

»… schlägt den Jungen? Das glaubst du, weil er nicht viel redet und sich den Arm gebrochen hat?«

»Nicht nur deswegen«, seufzte ich. »Es gibt viele Anzeichen. Allein die vielen blauen Flecken, wie gesagt.«

»Ach, meine Kinder sind auch voller blauer Flecken, und ich schlage sie nicht, um es mal so zu sagen. Das ist ein ziemlich vager Verdacht«, sagte die Sozialtante und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte.

Wir waren zusammen zur Schule gegangen. Schon da hatte ich sie nicht leiden können. Sie mich wohl auch nicht.

»Wir werden uns natürlich darum kümmern. Aber Magne Lia ist grundsolide. Du selbst hattest in der letzten Zeit ein wenig zu kämpfen, oder?« Sie blickte mich herausfordernd an. »Es mag ja sein, dir gefällt es nicht, dass deine Frau ausgezogen ist, du fühlst dich verlassen und betrogen, aber trotzdem kannst du nicht einfach solche Beschuldigungen in die Welt setzen, das müsste dir auch klar sein …«

»Heißt das, du glaubst mir nicht?« Am liebsten hätte ich der Alten ein paar gelangt.

»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte sie.

Ihre Augen sagten das Gegenteil.

Beim Verlassen des Verwaltungsgebäudes fühlte ich mich, als hätte ich die gesamte Kraft meines Lebens verbraucht. Ich hatte keinen Kampfesmut mehr, hatte ihn bei dem Olivenbaum in Rachaya und oben bei der Ziegenhöhle verbraucht.

In der Zeit danach saß ich tatenlos zu Hause rum und wartete, dass sich alles von selbst regelte, dass Agnes zur Vernunft kam und wieder nach Hause zog oder jedenfalls weg von diesem Magne, dass jemand fand, so gehe es nicht weiter, dass ein Lehrer sich meldete und etwas unternahm, oder am allerliebsten, dass es stimmte, was Agnes behauptete, dass alles in Ordnung sei. Denn vor Magne und Agnes hatte ich eine Scheißangst. Ich wusste, sie würden den Libanon gegen mich verwenden, würden behaupten, ich sei als Vater ungeeignet. Wenn ich sie provozierte, würde alles vielleicht noch schlimmer werden.

Und dann rief Agnes an und sagte, Lars werde nicht mehr zu mir kommen.

»Das tut ihm nicht gut. Er braucht Ruhe. Stabilität.«

Und damit legte sie auf. Durch meine Adern floss eiskaltes Wasser. Jetzt musste ich etwas tun, Klage einreichen, handeln, was auch immer.

Aber erst noch ein bisschen hier liegen und Kraft sammeln.

Später würde ich etwas tun. Morgen. Jetzt nicht.