58 – Clara

1987

Jeden Tag sagte Vater, er werde etwas unternehmen. Jetzt. Bald.

So vergingen die Tage, bis zu jenem Mittwoch.

Wie an jedem Schultag ging ich von der Haltestelle des Schulbusses die ganze Strecke steil bergauf nach Hause. Ich saß mit den Mathehausaufgaben am Küchentisch, hatte mir zwei große Löffel O’boy-Kakao in ein Glas Milch gerührt. Da klingelte das graue Telefon auf dem Tischchen draußen im Flur.

Ich nahm ab: »Ja?«

»Clara?«

Ich konnte ihn kaum hören, so leise sprach er.

»Lars?«

»Du musst bitte kommen. Ich will hier weg.«

»Gut, wir holen dich ab. Was ist denn?«

»Ich glaube, die hauen mich, ganz doll, ich … ich muss auflegen. Entschuldigung.«

»Lars, warte …«

Freizeichen.

Ich warf mir die Jacke über und schlüpfte in die Schuhe. Rief nach Vater.

Suchte ihn im Schuppen. Im Stall. Überall.

Dann zurück ins Haus. Er war nirgends zu finden, wahrscheinlich war er irgendwo draußen im Gelände. Ich rannte hoch zum Obstgarten, rief die ganze Zeit nach ihm, im ersten und zweiten und dritten Apfelfeld.

Papa, Papa, Papa!

Kein Papa zu finden.

Als ich wieder unten auf den Hofplatz kam, setzte ich mich und wartete ein bisschen.

Mit dem Rad runterzufahren würde lange dauern, wahrscheinlich länger, als auf Vater zu warten. Aber ich hielt es kaum noch aus.

Irgendwann setzte ich mich dann doch auf mein Rad, ich hatte es seit dem Frühling, hatte jahrelang darauf gespart. Jetzt raste ich bergab, so schnell es ging. Musste aufpassen, dass ich das Gleichgewicht hielt, durfte nicht stürzen.

Ich strampelte am Fjord entlang, kilometerweit hart am Rande des Straßengrabens, dicht neben mir sausten die Autos vorbei, der Luftzug warf mich fast um, bis ich zu der Kreuzung kam, wo es zu Magnes Hof abging. Bergauf fuhr ich im Stehen, trat, was ich nur konnte, auch als mir die Beine wehtaten.

Als ich endlich den Hof erreichte, stand dort der Krankenwagen.

Magnes Elchhund, der sonst an den Fahnenmast gebunden war und fürchterlich herumbellte, wenn jemand kam, war nicht zu sehen. Kein Vogel sang im Baum auf dem Hofplatz.

Nichts zu hören.

Ich ging die Eingangstreppe hoch und drückte den Türgriff runter, ging in den breiten Eingangsflur. Am Boden lag Lars.

Zwei kräftige Männer in zu engen Jacken und Hosen beugten sich über ihn und drückten auf seine Brust, genauso wie ich, als er fast im Almsee ertrunken war.

Magne stand daneben und sah zu, die Hand vorm Mund, ganz der besorgte Lehrer. Mama war nicht zu sehen.

»Oh, Clara«, sagte Magne, als er mich sah. »Du?«

Ich sah nur Lars.

Sein Gesicht sah nicht so aus wie damals am See, als ich drückte und blies und das Wasser irgendwann aus seinem Mund spritzte wie aus einem Springbrunnen.

Es sah völlig anders aus.


Im Krankenhaus wachte ich an seinem Bett. Mama und Magne saßen im Flur, dieses eine Mal hatten sie begriffen, dass sie sich abseitshalten mussten.

»Lars, Lars, wach doch auf«, sagte ich immer wieder.

Ich sang ihm Alle Vögel sind schon da vor.

Irgendwann kam Vater den Flur runtergerannt.

»Wo sind sie? Wo sind meine Kinder?«, rief er.

Mama und Magne versuchten, ihm den Weg ins Zimmer zu versperren.

»Lars braucht jetzt Ruhe«, sagte Mama, als ob es irgendwas auf der Welt geben würde, was für Lars jetzt noch von Bedeutung sein konnte.

»Ja, Leif, setz dich hier zu uns«, sagte Magne, sehr kleinlaut für seine Verhältnisse.

»Aus dem Weg!« Vater drängelte sich zwischen ihnen durch ins Zimmer und kam zum Bett.

Und damit fing alles von vorn an.

Denn jetzt musste Vater es begreifen, so wie ich es hatte begreifen müssen.

Lars lag still da, seine beiden kleinen Händchen auf dem Bauch, seine Nägel waren ganz kurz, abgebissen. Er hatte mit dem Nägelkauen angefangen und zupfte an den Nagelhäutchen rum, ich sagte, er solle das lassen, da hörte er für eine Weile damit auf, aber bald machte er weiter, zupfte ständig. Das hatte mich geärgert.

Wie konnte mich das ärgern?

Wie konnte irgendwas, was mit Lars zu tun hatte, mich ärgern?

Jetzt atmete er nicht und rührte sich nicht und seine Haut war sehr blass und kalt und Vater weinte. Aber ich weinte nicht.

Ich hatte das Gefühl, als wäre ich genauso kalt und blau wie er und könnte nie wieder richtig atmen.

Ich hätte ihn am liebsten hochgenommen und weggetragen, tat es aber nicht. Es war zu spät.

Für alles war es zu spät. Und ich war dafür verantwortlich.

Als Vater nicht in der Lage gewesen war, etwas zu tun, da hätte ich etwas unternehmen müssen. Ich hätte zusammen mit Lars weglaufen können, wir hätten in einer Hütte in den Bergen gewohnt, ich hätte ihn retten können, aber ich hatte es nicht getan, ich verdiente nicht weiterzuleben.

Aber nichts davon sagte ich. Ich bückte mich nur und küsste ihn auf die kalte Stirn. Dann richtete ich mich wieder auf und stand da, neben Vater, der schluchzend über Lars’ Körper lag.

Oh mein Gott, oh mein Gott, sagte er immer wieder. Lars’ Sachen wurden nass, ich wusste, er konnte es nicht mehr spüren, trotzdem war mir das nicht recht, ich wollte Vater sagen, dass er das nicht tun sollte, aber ich sagte nichts, streichelte ihm stattdessen den Rücken.

Lars war ganz still. Und ich war ganz still.

Wir waren beide tot, aber ich anders als er.

Ich musste weiteratmen, einatmen, ausatmen.

Immer wieder und wieder.


Ich war sicher, dass Magne bestraft werden würde.

Aber sofort war da eine Erklärung zur Hand, mögliche epileptische Anfälle und andere herbeifantasierte Diagnosen, die Vater und ich nie gesagt bekommen hatten, denn Mutter behielt sie für sich.

Und das tat auch der Arzt, ein guter Freund von Magne.

Wegen eines epileptischen Anfalls war Lars die Treppe runtergestürzt, und dann hatte er eine Hirnblutung erlitten, das sagten Mutter und Magne.

Wie furchtbar tragisch, sagten sie.

Die Leute schluckten diese Erklärung und spuckten sie wieder aus.

Vater versuchte, mit der Frau vom Jugendamt zu reden, sie war nicht interessiert und abweisend.

Ich versuchte, mit niemandem zu reden, mir war klar, es war nutzlos, ich dachte schon in anderen Bahnen. Im Gegenteil, ich achtete sorgfältig darauf, niemandem gegenüber etwas Schlechtes über Mutter und Magne zu sagen.


An der Beerdigung nahmen außer dem Kirchendiener und dem Glöckner nur Vater, ich, meine Tante und ihr Mann teil.

Zwei Tage davor hatte ich meine Mutter angerufen.

»Du darfst nicht zur Beerdigung kommen«, sagte ich. »Du nicht, und Magne auch nicht. Wenn ihr kommt, bring ich euch um.«

Ich hatte darauf bestanden, beim Tragen des Sarges zu helfen, auch wenn Vater sagte, ich sei dafür nicht groß genug.

Obwohl Lars noch klein gewesen war, war der Sarg entsetzlich schwer, aber ich wollte es die anderen nicht merken lassen, fasste mit beiden Händen besonders fest zu.

Die anderen weinten. Ich hatte immer noch keine Tränen.

Wir setzten den Sarg auf Planken, die über das Grab gelegt waren. Dann wurden sie weggezogen, und wir senkten ihn hinunter. Ich hörte ein Geräusch, das war sicher Lars, der verrutschte. Als der Sarg auf den Boden traf, schabte er mit einem grässlichen Scharren über einen Stein, und besonders grässlich klang es, als der Pfarrer Erde darauf warf.

Ansonsten war nichts zu hören als der Regen auf unseren Jacken, auf dem Boden und dem Sarg.

Da unten im Dunkeln musste Lars jetzt bleiben, wo Würmer und Käfer auf der schwarzen Außenseite des Sarges rumkrabbelten und irgendwann zu ihm reinkamen.