Der Eingang zu Leifs und Claras Welt ist erreicht, wenn man von der Bezirksstraße auf die kurvige, schlecht instand gehaltene Gemeindestraße abbiegt, die sich das Tal hinaufschlängelt. Vorbei an ein paar verlassenen Höfen, und ganz hinten, wo die Straße aufhört, liegt Leifs Hof.
Ganz hinten in einem Tal, das mag dunkel und eng klingen, aber der Hof liegt auf einem Vorsprung, man hat von dort eine grandiose Aussicht.
Ich hatte meinen Eltern Fotos gezeigt, sie waren überwältigt; Westnorwegen ist so majestätisch, und die Gedichte von Olav H. Hauge sind so schön, sagte Mutter. Sie wollten zu Besuch kommen, aber weder Leif noch Clara haben sie je eingeladen. Im Grunde glaube ich, Leif würde sowieso einen Herzinfarkt erleiden, wenn meine Mutter mit ihrem Adlerblick hier über den Hof streifte, ganz zu schweigen vom Inneren des Hauses. Jetzt haben sie schon lange nicht mehr den Wunsch nach einer Reise westwärts geäußert, Mutter blickt mich nur sorgenschwer und milde jedes Mal an, wenn Westnorwegen erwähnt wird.
Den Schnee auf den Bergen würden sie lieben und die weidenden Schafe und den grünen Fjord, all das.
Kurz, sehr kurz würde Mutter die bescheidene Auswahl im Genossenschaftsladen charmant finden, aber keinesfalls gefiele ihr, dass aus der Dusche in dem winzigen Badezimmer selten Wasser kommt, nur zum Beispiel. Im Sommer lösen wir das Problem immer, indem wir im Flüsschen baden, so kalt das auch sein mag. Mir macht das nicht viel aus, ich bin ja von der Hütte in Kilsund her an Morgenbäder bei jeder Temperatur gewöhnt. Aber Clara übertrifft mich noch bei Weitem, es ist, als spürte sie überhaupt nicht, wie kalt das Wasser wirklich ist.
Diesmal ist es seltsam, hier zu sein.
Ich war immer gern hier, trotz der Fliegen und so, für mich ist es ein geschützter Ort auf der Welt, eine grüne Oase aus Frieden und vergangener Zeit, und ich sehe gern, wie sich Clara aus einer feinen Westend-Dame in eine Art Motorensägewerk-Besitzerin verwandelt.
Aber diesmal ist alles anders.
Am Tag vor unserer Abreise, nach dem Gespräch mit Bodil im psychiatrischen Pflegeheim, war ich fest entschlossen, Clara mit der Wahrheit zu konfrontieren, sobald sie nach Hause kam, spätestens, wenn sie mit ihrem Abendjoint dasaß.
Es war nur schwierig, einen Anfang und dann die richtigen Worte zu finden.
Am Ende wagte ich es schlicht und einfach nicht und verschob es.
Dann fuhren wir in Urlaub.
Und jetzt liegt trotz des Idylls für mich über allem eine Art unwirklicher Schleier.
Rings um das Wohnhaus ist das Gelände relativ gut gepflegt, das Gras steht ein wenig hoch, aber überall sind Blumen und Sträucher. Der Schuppen ist rot gestrichen, das Haus weiß, die Fahnenstange steht noch. An den Hängen weiden die Schafe.
Im Schuppen türmt sich der Krempel, der sich über Generationen angesammelt hat, alte Auto- und Traktorenreifen, Fahrräder, Kunstdünger, Heu, Sägemehl, alles bunt durcheinander in einem seligen Chaos, bedeckt von einer dicken Staubschicht. Der dunkle Schafstall, eng und mit niedriger Decke, in dem es durchdringend nach Schafspisse und Silofutter riecht, muss irgendwie unter dem Radar sämtlicher Veterinärkontrollen mit ihren Auflagen und Vorschriften durchgekommen sein.
Und dann das Haus. Gerümpel, vom Boden bis zur Decke. Bücher und Zeitschriften aus hundert Jahren. Alte Kleidungsstücke, die wohl Leifs Eltern gehört haben. Er muss einfach aufgegeben haben. Kein Wunder, dass er sich nie etwas kauft, es ist schlicht und einfach kein Platz mehr für Neues.
Zwischen dem Hof und den Almgebäuden liegt ein Höhenunterschied von dreihundert oder vierhundert Metern. Hier braust der Wasserfall, der Huldrefoss. Über keine besondere Höhe, aber er ist kräftig und führt viel Wasser, vor allem in regnerischen Zeiten. Vom Hofplatz aus ist er nur als fernes, ebenmäßiges Rauschen zu hören, aber wenn man sich auf der Alm aufhält, schäumt und donnert er heftig, obwohl man ihn auch von dort aus nicht sehen kann.
Clara hat viel Zeit darauf verwendet, uns beizubringen, dass wir die Alm und die Käserei nicht als »Hütten« bezeichnen wie irgendwelche Ferienhäuser.
Das ist eine Alm, sagt sie. Das Haus, in dem wir schlafen, ist die Käserei.
Alm und Käserei. Die Jungs verwenden jetzt die richtigen Begriffe.
Ich sage immer noch Hütte.
Als wir diesmal die schwere Tür aufstoßen, sehe ich sofort auf dem Boden des grünen Wassereimers hinter der Tür die kleinen, eingetrockneten Leichen einer Maus und ihrer sieben Jungen. Wahrscheinlich ist sie da reingekrabbelt, hat die Kleinen dort zur Welt gebracht und ist dann nicht wieder rausgekommen, so starb sie mit ihren neugeborenen Jungen.
»Oh, pfui Spinne!« Ich muss wegsehen.
Clara steht vor dem Eimer und blickt nachdenklich hinein.
»Keine vorsätzliche Vernachlässigung der Fürsorgepflicht«, sagt sie, nimmt den Eimer und leert ihn irgendwo draußen ins Heidekraut. Normalerweise hätte ich sie jetzt tough gefunden, heute ist es nur wie ein weiterer Beweis dafür, wie gefühlskalt sie ist.
In der einen Ecke steht ein alter Ofen, so einer mit herausnehmbaren Ringen, in die dann die Töpfe gesetzt werden. Die hängen darüber an der Wand, rußig an der Außenseite, innen blank gescheuert.
In den drei anderen Ecken befinden sich eine Art Einbaubetten, die so kurz sind, dass ich immer auf einer Matratze auf dem Boden schlafe. Ein paar Wolldecken, die aussehen, als stammten sie aus Heeresbeständen, und etwas altes Bettzeug hängen über den Deckenbalken.
Zum ersten Mal war ich mit Clara im Herbst hier, ein paar Monate, nachdem wir uns kennengelernt hatten.
Um den Hof herum war alles wunderschön weiß mit Schnee überpudert. Hier oben war kein Pfad mehr zu sehen, der Schnee lag dreißig, vierzig Zentimeter hoch, wir wateten fast bis zu den Knien darin. Wir setzten uns vor den alten Ofen und heizten ihn den restlichen Abend über an, was das Zeug hielt. So hielten wir uns auf der einen Körperseite warm, die andere war eiskalt.
Nach ungefähr zwei Stunden regte sich etwas unter dem Dach. Eine halbtote Fliege fiel runter, dann noch eine. Ich blickte hoch und sah undeutlich einen großen dunklen Fleck unter der Decke. Offenbar hatten sich sämtliche Fliegen des Dorfes hier in der Käsereihütte versammelt, um Winterruhe zu halten. Jetzt stieg die warme Luft zu ihnen auf, ihnen wurde unter den Flügeln heiß, sie wachten auf und rieselten auf uns runter, auf den mit Käse und Crackern gedeckten Tisch, in die Stearinkerzen, in denen sie zappelnd kleben blieben.
Überall lagen halb tote Fliegen hilflos auf der Seite oder dem Rücken. Es war wie im Film Magnolia , in dem es Frösche regnet.
Ich hätte es als Vorzeichen erkennen müssen.
Als ich diesmal morgens aufwache, habe ich meine Entscheidung getroffen.
»Ich muss runter in die Zivilisation, was erledigen«, sage ich. »Fragt nicht. Möglicherweise auch dies und das für die Arbeit.«
»Können wir mit?«, fragen die Jungs im Chor.
»Nein, heute nicht.«
Ich renne neben dem Wasserfall runter, schaffe es bis zum Hof in weniger als einer halben Stunde, gehe daran vorbei, setze mich ins Auto, fahre zur Hauptstraße, zum Fjord.
Dort biege ich in Richtung Nachbarort ab und gebe Kleivhøgda im Navi ein.