1988
Ich versuchte, Vater zu trösten, setzte mich neben seinen Füßen auf den Boden, umarmte seine Knie und legte ihm das Kinn auf den Oberschenkel, schaute zu ihm hoch.
Da schluchzte er wieder los, also ließ ich es sein.
Lieber Gott im Himmel, ich halte das nicht aus, sagte er.
Es wird besser mit der Zeit, kleiner Papa, sagte ich, wie in schwedischen Filmen.
Er weinte nur noch mehr, also nannte ich ihn nicht mehr kleiner Papa, obwohl er genau das war.
Ich kochte morgens Kaffee, deckte den Frühstückstisch, legte ihm Sachen zum Anziehen raus, ich erinnerte ihn daran zu duschen, wenn er streng und verschwitzt roch, ich machte Abendessen und wusch die Wäsche, sorgte für Haus und Stall, holte die Post, nahm die Rechnungen aus den Umschlägen und legte sie aufgefaltet auf den Tisch, zeigte darauf und sagte, wir müssen zur Bank gehen und sie bezahlen, ich erinnerte ihn daran, meine Tante anzurufen und das Jugendamt, denn jetzt war man dort aktiv geworden und kontrollierte, wie es mir ging.
Ich machte nur vernünftige Sachen, versuchte, alles andere zu verdrängen, so gut es ging.
Vor allem bemühte ich mich, nicht an Lars zu denken.
Er war weg und würde nie mehr wiederkommen.
Eine Mutter hatte ich auch nicht mehr.
Ich hatte nur Vater, ich musste ihn wieder auf die Beine bringen, musste verhindern, dass er völlig zusammenbrach.
Nach einer Weile gab es einzelne Lichtblicke. Langsam, aber sicher. Aber dann erzählte Vater von diesem Traum.
»Ich träume immer wieder dasselbe, immer wieder. Ich fahre am Fjord entlang. Du sitzt neben mir. Dann verliere ich die Kontrolle über den Wagen, wir rasen über den Straßenrand hinaus ins Wasser, ich sitze nur einfach da, kann keinen Finger rühren, während das Auto untergeht … Ich kann nicht begreifen, was das bedeuten soll. Werde ich dich auch noch verlieren?«
Wir saßen in den roten Ohrensesseln von Vaters Großeltern vor dem Ofen.
»Nicht doch, Vater. Ich werde nicht ertrinken.«
»Aber warum träume ich das dann? Es ist wie eine Warnung.«
»Weil du Lars verloren hast. Und jetzt hast du Angst, dass du mich auch noch verlierst.«
»Aber wenn der Unfall nun wirklich passiert?«
»Dann rette ich mich aus dem Auto, versprochen.«
Nach dem, was passiert war, hatte Vater sein Selbstvertrauen verloren. Ich versuchte, ihn an all das zu erinnern, was ihm gelungen war, zum Beispiel der Einsatz im Libanon. Aber auch das war schwierig, ein wenig, wie durch Moor zu wandern oder über sehr dünnes Eis.
»In Rachaya hast du doch für Ordnung gesorgt, Papa.«
Er räusperte sich. »Ja, schon, aber das war etwas anderes.«
»Wie anders?«
»In solchen Situationen musst du einfach kämpfen oder fliehen. Darfst auf keinen Fall gelähmt sein.«
»Glaubst du, ich kann so was? Soldatin werden?«
Ich stocherte mit einem Holzscheit im Ofen herum, legte es auf die Glut.
»O ja, sicher, du machst alles, was du anfängst, sehr gut, du kannst werden, was du willst.« Er lächelte mich an, aber ich konnte sehen, dass er nicht an mich glaubte.
Als Vater endlich wieder von sich aus zu den Schafen und unter die Dusche ging, hatte ich vor allem Lars im Kopf.
Jeden Tag auf dem Heimweg von der Schule radelte ich zum Friedhof. Dort setzte ich mich neben den unbehauenen ovalen Stein, den wir für ihn in unserem Fluss gefunden hatten, und lehnte mich daran. Zwei Singvogelfiguren hatten wir daraufgesetzt.
Die konnten wir uns zwar eigentlich nicht leisten, aber wir wollten sie unbedingt haben.
Manchmal sang ich ihm was vor, da am Grab. Aber meistens saß ich nur da und unterhielt mich mit ihm.
»Hallo Lars«, sagte ich. »Ich muss die ganze Zeit an dich denken.«
In der ersten Zeit kam nie eine Antwort, aber irgendwann konnte ich ihn hören. Er sagte immer dasselbe, immer wieder. Einen Satz, den er zu Lebzeiten weder gesagt noch verstanden hätte.
Trotzdem hörte ich ihn klar und deutlich.
Räche mich , sagte er.