1988
Als wir langsam an der Stelle vorüberfuhren, wo Magne und Clara früher am Tag von der Straße abgekommen waren – es wurde hier ganz erstaunlich schnell unglaublich tief, im Winter schossen oft Lawinen über die Straße hinweg in den Fjord, jetzt war die Stelle mit Flatterband markiert –, da sah ich Claras Augen so merkwürdig glänzen, wie früher, als sie klein war und fieberte.
Im selben Moment schaute die Polizistin, die uns fuhr, im Rückspiegel nach uns. Sie lächelte mitfühlend. Clara bemerkte es und setzte einen traurigen Kleinmädchenblick auf.
Ich legte den Arm um sie und zog ihren Kopf an meine Schulter.
Nur noch wir beide übrig. Nur noch Clara und ich von jetzt an.
Aber nicht lange, nachdem wir nach Hause gekommen waren, donnerte es an der Tür.
Während ich zum Krankenhaus gefahren war, hatte es sich bewölkt, und auf dem Heimweg begann es zu regnen.
Das nasse Haar an den Kopf geklatscht und die durchnässten Sachen eng am Körper klebend, stand draußen Agnes. Sie klapperte mit den Zähnen, zitterte. Ich zog sie rasch in den Hausflur, obwohl ich ihr am liebsten die Tür vor der Nase zugeknallt hätte.
»Hier kannst du nicht bleiben.« Ich versperrte ihr den Weg ins Wohnzimmer. »Clara muss sich ausruhen.«
Agnes schüttelte den Kopf. »Das Mädchen ist böse. Wo ist sie? Ich muss mit ihr reden.«
»Oh nein, nein«, sagte ich und hörte selbst, wie schneidend höhnisch meine Stimme klang. All der Hass auf Agnes, der sich in den letzten Jahren in mir angesammelt hatte, vor allem seit Lars’ Tod, jetzt brach er sich Bahn, wie wenn der Wasserfall hinter dem Hof im Frühjahr taute.
»Du redest weder mit Clara noch über Clara. Du verschwindest jetzt hier, und zwar ein für alle Mal. Hörst du? Ich werde dir nie verzeihen, dass du Magne an meine Kinder rangelassen hast.«
Jetzt brüllte ich beinahe. Sie sah mich aus weit aufgesperrten Augen an, ihr Gesicht war bläulich blass.
»Es ist nicht so, wie du denkst, Leif«, sagte sie müde. »Nichts ist so, wie du denkst.«
»Ach nein? Wie denn dann? Was? Ich habe dir nichts mehr zu sagen, nur eins: Halt dich von meiner Tochter fern.«
»Sie ist auch meine Tochter …«
»Ja, das sollte man kaum für möglich halten. Ein einziges Mal solltest du dich um die Kinder kümmern, als ich im Libanon war. Als ich zurückkam, waren sie völlig runtergekommen. Du hattest die ganze Zeit im Bett gelegen und dir selber leidgetan. Und dann bist du weggegangen, hast Lars mitgenommen, gegen meinen Willen, und hast zugelassen, dass er umgebracht wird. Dass du es überhaupt wagst, hier aufzutauchen. Dass du es wagst!«
Ich stand brüllend vor ihr, den Zeigefinger dicht vor ihrem Gesicht.
Dabei war sie mitleiderregend, so dünn und nass. Aber jetzt war ich knochenhart. Clara hatte mich mutig gemacht.
»Leif, Clara ist nicht ganz normal, sie ist gefährlich …«, begann sie.
Ich antwortete ganz leise, aber überdeutlich:
»Ich sage es dir noch ein einziges Mal: Ich weiß, was mit Lars passiert ist. Clara weiß, was mit Lars passiert ist. Du weißt es auch. Und du bist verdammt noch mal schuld daran. Also hör mit deinen beschissenen Märchen auf, sofort. Verstanden? Jetzt rufe ich die Polizei und lasse dich abholen.«
»Das brauchst du nicht«, schniefte sie. »Ich gehe ja schon.«
»Aha, dann mach das, aber sofort.« Ich erhob drohend die Hand.
Als sie gegangen war, kam Clara die Treppe runter. »Keine Angst«, sagte ich, »die lässt uns von jetzt an in Ruhe.«
Und tatsächlich war es das letzte Mal, dass wir Agnes sahen.
Drei Tage später wurden wir benachrichtigt, dass sie versucht hätte, sich das Leben zu nehmen, und in die psychiatrische Klinik eingewiesen worden sei. Die Ärzte sagten, sie litte an einer posttraumatischen Belastungsstörung oder Persönlichkeitsstörung oder so was in der Art, und sie wollten mich treffen.
Ich sagte, Agnes und ich hätten keinen Kontakt mehr, ich wolle nichts mit ihr zu schaffen haben, und mit den Ärzten auch nicht. Sie sollten tun, was sie wollten. Für Clara und mich sei Agnes gestorben.
Sie riefen noch mehrmals an. Meine Antwort war immer dieselbe.
Dann hörten sie auf.
Ich besuchte Agnes nicht.
Clara besuchte sie nicht.
Bei uns kehrte eine neue Ruhe ein. Ich schlief besser. Clara ging in die Schule, kam heim, machte ihre Hausaufgaben. Manchmal ging sie zu Klassenkameradinnen nach Hause, manchmal brachte sie jemanden mit zu uns, es schien ihr aber nie besonders wichtig zu sein.
Sie wanderte allein durch die Berge. Manchmal las sie mir etwas vor. Manchmal ich ihr. Sie half mir bei der Arbeit im Stall, auf den Wiesen, im Wald, sie war tüchtig und fleißig, kein Erbsohn hätte es besser machen können.
Vielleicht hätte ich mit ihr über das Vorgefallene reden sollen. Ich konnte es einfach nicht.
Ich versorgte die Kühe und molk sie, ich mähte und pflügte und eggte, machte Abendessen und putzte das Haus, wusch Kleider, hörte Clara mit englischen und deutschen Vokabeln ab.
Manchmal kam es noch vor, dass ich von meinen eigenen Schreien aufwachte, aber es wurde seltener. Und ich hörte auf zu trinken.
Von Zeit zu Zeit fuhren wir zusammen zum Friedhof, am liebsten dann, wenn sonst niemand dort war. Im Herbst pflanzten wir Heidekraut, im Sommer Begonien, Geranien und Männertreu. Im Winter nahmen wir Tannenzweige und Kerzen mit.
Wenn es warm genug und trocken war und außer uns niemand auf dem Friedhof, setzten wir uns zu beiden Seiten des Steins hin und legten jeder einen Arm darum, als würden wir ihn umarmen.