Clara rodet junge Birken. Gerade gönnt sie sich eine kleine Pause, geht zu dem schmalen, steinigen Strand hinunter, wo sie gern meditiert. Zurzeit sitzt sie ständig da unten.
Verschwunden ist die elegante, diskret geschminkte Staatssekretärin mit gewelltem blondem Haar, teurer Kleidung und hochhackigen Schuhen.
An ihrer Stelle ist da jetzt eine Bäuerin, eine Soldatin, stark und zäh.
Clara, das Chamäleon.
Was für ein Idiot bin ich bloß. Die Frau, mit der ich verheiratet bin und Kinder habe, kenne ich überhaupt nicht, offenbar habe ich sie nie gekannt.
Was soll ich tun? Versuchen, mit ihr zu reden? So tun, als ob nichts wäre? Das Ganze vergessen?
»Wie kannst du so sicher sein?«, hatte ich Agnes gefragt. »Woher willst du wissen, dass es so war?«
»Unter anderem, weil Magne ein ganz ausgezeichneter Fahrer war, auch, wenn er getrunken hatte, da fuhr er sogar besonders vorsichtig«, hatte sie geantwortet. »Es ist vollkommen unmöglich, dass es ihn aus der Kurve getragen hat. Außerdem hat er in der Nordsee gearbeitet und war für solche Situationen ausgebildet, er wäre nie im Wagen sitzen geblieben, ohne etwas zu tun. Er wäre rausgekommen.«
Ich nickte.
»Und weißt du was? Ich hatte sogar schon erwartet, dass etwas Furchtbares passieren würde. Ich konnte es Clara an den Augen ansehen. Das Kind ist nie normal gewesen. Und seit der Sache mit Lars war sie wie besessen. Nach dem Unfall bin ich nach Hause auf den Hof gegangen und wollte mit ihnen reden. Leif wollte mich nicht reinlassen. Mir wurde klar, dass ich Clara nicht wiedersehen würde. Und ehrlich gesagt, weiß ich nicht mal, ob mir das etwas ausmachte.«
Agnes meint, bei Clara müsse eine dissoziative Persönlichkeitsstörung vorliegen. Höchstwahrscheinlich ist es ihre eigene Diagnose, möglicherweise auch von ihr auf die Tochter übertragen, denn Clara ist ja nie psychiatrisch behandelt worden.
Irgendwann mal hatte ich mich in eine Diskussion darum verwickeln lassen, was man lieber wäre, wenn man wählen müsste, das Opfer oder der Mörder. Meine Ansicht war gewesen, in uns allen liege die Anlage für beide. Hier haben wir den Beweis.
Jetzt sitze ich auf der Treppe an der Rückseite des Almhauses und starre ratlos in die mit hohen Farnen bewachsene Böschung hinter der Käsereihütte. Der Farn steht so hoch, dass er mir an die Brust reicht, den Jungs bis über den Kopf. Irgendwann kommt Andreas gelaufen, er blutet aus einem Schnitt am Zeigefinger, er hat sich mit der Axt oder der Säge verletzt. Genaueres ist von ihm nicht zu erfahren. Wenn ihm etwas wehtut, verstummt er vollständig, da ist er wie Clara.
»Schau mal, Andreas, das ist ja genau wie neulich, als ich mich beim Frühstück geschnitten habe. Das war gar nicht schlimm, weißt du noch?«
Er nickt.
»Kannst du den Finger krumm machen?«
Er beugt den Finger.
»Sehr gut. Die Sehne hat nichts abbekommen. Das ist gut. Jetzt hole ich das Erste-Hilfe-Päckchen, dann versorge ich das. Okay?«
Er nickt.
Aber das Erste-Hilfe-Päckchen ist nicht in meinem Rucksack, mir fällt ein, dass ich es vor der Reise rausgenommen hatte. Verflucht noch mal.
Wir müssen doch wenigstens ein paar Pflaster hier haben. Oder eine sterile Binde.
Ich schaue in meinem Kulturbeutel nach. Nichts.
Danach in Claras. Zahnbürste, Zahncreme, Deodorant, Shampoo, verschiedene Cremes. Kein Pflaster. Keine Binde. Gerade will ich den Reißverschluss wieder zuziehen, da sehe ich es.
Ein Skalpell. Ein Skalpell mit dem Logo vom Krankenhaus Ullevål.
So ein Skalpell hat in unserem Büro gelegen.
So ein Skalpell, wie mehrere bei uns zu Hause herumliegen. So gesehen ist nichts Besonderes daran, dass Clara eins in ihrem Kulturbeutel hat.
An und für sich nicht.
Letzten Herbst war Sabiya im Wald gestürzt und hatte sich einen kleinen Riss an der Schläfe zugezogen. Sie meinte, man müsse nichts tun, ich sah das anders, und am Ende nähte ich die Wunde. Eine Woche später zog ich die drei Fäden.
Und danach blieb das Skalpell zwischen unseren beiden Bereichen des Schreibtisches liegen, ein merkwürdiges romantisches Souvenir.
Bis es auf einmal weg war, in der Nacht nach dem ersten Mord.
Und dieses Skalpell hatte auf der Rückseite, der ohne Logo, eine deutliche Scharte im Griff. Sabiya und ich hatten darüber Witze gemacht, sie behauptete, ich hätte es markiert, um es nicht zu verwechseln.
Ich nehme das Skalpell aus Claras Kulturbeutel, vorsichtig, als wäre es eine tote Ratte. Kein Zweifel.
Eine Scharte im Griff.
Clara muss in meinem Büro gewesen sein. Vor Kurzem. Ohne mich.
Sie muss Sabiyas Skalpell mitgenommen haben.
Und auf einmal fügt sich alles zusammen. Klick, klick, klick.
Clara war an dem Abend zu Hause gewesen, als Faisal Ahmad ins Ullevål-Krankenhaus gebracht wurde. Die Jungs schliefen tief und fest. Sie konnte ohne Weiteres für eine Stunde weggehen.
Ich hatte ihr von den Misshandlungen erzählt.
Ihr den Vater beschrieben.
Ihr erzählt, dass er den Gebetsraum aufsuchen wollte.
Ihr gesagt, dass im Schreibtisch im Büro eine Pistole lag.
Ich hatte meine Ersatzschlüsselkarte zu Hause rumliegen lassen.
Ich hatte für sie denselben dämlichen Code verwendet wie für alles Mögliche.
Ich hatte Clara Motiv und Gelegenheit frei Haus geliefert.
Und Clara ergriff die Gelegenheit.
Sie machte nur einen Fehler: Sie nahm Sabiyas Skalpell.