»Du«, sagt Clara, »ich hatte Vater ein bisschen Zeit mit den Jungs allein versprochen, ohne uns. Was hältst du davon, du bringst sie zu ihm runter, und wir haben eine Nacht oder zwei für uns, gehen ein bisschen in die Berge?«
»Ja«, sage ich.
So machen wir es sonst auch, Leif passt auf die Jungs auf, wir gehen wandern.
Oberhalb des Almsees beginnt eine wilde, verzauberte Bergwelt, die so gut wie kein Mensch betritt und auch kein Schaf, aber die Natur ist nirgends schöner als dort.
Vom Gipfel des Trollskavlen hat man, so weit das Auge reicht, einen freien Blick.
Ich muss mitspielen, darf ihr keinen Anlass für den Verdacht geben, dass ich bei Agnes war.
Clara ist der aufgehende Stern im Justizministerium. Ein Mensch, der Vertrauen und Ernsthaftigkeit ausstrahlt. Außerdem der schlaueste Mensch, den ich kenne.
Und jemand, der keine Spuren hinterlässt.
Ich selber habe die Polizei belogen, bin verdächtigt, sogar verhaftet worden.
Es wird nicht genügen, ein Skalpell vorzulegen, das ich in Claras Kulturbeutel gefunden habe, auch nicht, wenn es eine ominöse Scharte aufweist. Niemand würde mir glauben, und es würde mir nicht gelingen, sie zu stoppen. Wahrscheinlich würde es sogar eher auf mich zurückfallen, und ich würde wieder hinter Schloss und Riegel landen. Oder in Lebensgefahr.
Ein Alibi hat sie auch, sie war zu Hause mit den Kindern. Vielleicht ist das nicht restlos wasserdicht, aber gut genug. Wer würde seine Kinder allein zu Hause lassen, um zum Morden loszuziehen?
Letztes Mal war ja sogar Leif da, der würde sie sicher decken, falls nötig. Selbst wenn er alles wüsste, würde er nie gegen sie aussagen. Ihr Zusammenhalt wirkt grenzenlos.
Außerdem habe ich in all den Misshandlungsfällen, die ich studiert habe, eine Art Erbkrankheit festgestellt. Misshandelte Kinder werden oft selbst schlechte Eltern.
Clara war kein misshandeltes Kind. Aber ein vernachlässigtes, vernachlässigt von der untauglichen Mutter, von dem Vater, der in den Libanon ging, wahrscheinlich auch später, als sie mit ihm alleine wohnte.
Und sie hat das genetische Material in sich.
Alles hatte so gut ausgesehen.
Clara, das arme Mädchen aus schwierigen Verhältnissen, das sich gegen alle Wahrscheinlichkeit so gut behauptet hatte.
Ich hatte sie immer als eine ganz ordentliche, wenn auch etwas abwesende und distanzierte Mutter gesehen. Aber was soll aus den Jungs werden, wenn sie weiter zusammen mit ihr aufwachsen? Wozu würde sie sie benutzen? Was würde sie ihnen beibringen?
»Ja! Hurra!« Die Jungs sind begeistert, als ich sie frage, ob sie ein bisschen zu Großvater wollen. Da können sie so viel fernsehen, wie sie wollen, und lange aufbleiben, und Eis kriegen sie auch noch, bis sie platzen.
Sie laufen vor mir den Weg runter, hüpfend und tanzend, wissen aber auch, wo sie aufpassen oder stehen bleiben müssen.
Kurz vor unserer Ankunft hat es ein paar Tage lang geschüttet wie aus Eimern. Der Wasserfall donnert höllisch, aber nach einer Zeit höre ich es gar nicht mehr.
»Geht es euch gut da oben?«, fragt Leif, als wir einen Kaffee trinken, bevor ich wieder aufbreche. Es gibt sogar ein paar Hefeteilchen, die er wohl früher am Tage im Joker-Supermarkt gekauft und in vier Teile zerschnitten hat, wie Clara es immer macht. Sie selber mag die Teilchen nicht, kauft sie aber immer für die Jungs und ihren Vater.
»Ja, klar.« Ich lege die Hände auf die Tischplatte. »Clara kämpft mit den jungen Birken.«
»Gut so«, sagt Leif. »Schau mal, Haavard, da kommt jetzt Meerdunst über den Fjord oder Meernebel, wie es im Wetterbericht heißt.«
»Ach, schade«, sage ich. Denn das habe ich von Leif gelernt, Meerdunst oder Meernebel wollen wir nicht, egal, wie man ihn nennt. »Dann wollen wir mal hoffen, der hält sich morgen vom Trollskavlen fern.«
Zwei Mal früher, einmal vor vielen Jahren und einmal vor der Geburt der Jungen, sind Clara und ich auf dem Weg zum Gipfel vom Meerdunst überrascht worden und mussten umkehren, mit dem Kompass den Rückweg suchen, bei gerade mal einem halben Meter Sicht.
»Also, macht’s gut, Jungs.« Zwanzig Minuten später umarme ich erst Nikolai, dann Andreas. »Seid lieb zu Großvater.«
»Geh nicht weg, Papa.« Andreas schaut mich ganz ernst an. Seit meiner Verhaftung ist er nicht ganz er selbst.
»Aber Andreas, warum denn?« Ich bin verlegen, denn Leif steht neben uns, er soll nicht denken, sie wollten nicht mit ihm allein sein.
»Geh nicht weg!« Er sieht ängstlich aus, aber ich strubbele ihm nur durchs Haar.
»Macht’s euch gemütlich!« Leif schlägt mir auf die Schulter, von Mann zu Mann.